Hand aufs Herz: Wer von Ihnen hat sich noch nie über seine Nachbarn geärgert? Wer hat nicht schon mal gedacht: Dem zeige ich es! Die einen feiern bis tief in die Nacht, die anderen lassen regelmäßig den Müll vor der Haustür liegen, die dritten grüßen nicht. Und wer ist schuld, wenn es zwischenmenschlich nicht funktioniert? Natürlich die anderen. Oder vielleicht doch man selbst?
Ähnlich verhält es sich mit unseren Landesnachbarn. Die ewige Konkurrenz, vor allem zwischen den Völkern, mit denen uns eine gemeinsame Geschichte verbindet, ist legendär. Wir sind die Guten, die anderen die Schlechten. Doch im Grunde sind wir nichts anderes als eine riesengroße Wohngemeinschaft, in der es manchmal heiß hergeht und deshalb Redebedarf besteht.
Deutschland und Österreich streiten sich oft wie zwei Brüder, wobei jeder von ihnen glaubt, er sei der klügere. Während die Österreicher und Österreicherinnen stolz auf ihren Schmäh, ihre Berge und ihr gutes Essen sind, rühmt sich Deutschland mit seiner Genauigkeit und Präzision. „Ösi“ sagen die einen. „Piefke“ die anderen. Was die Menschen, die nebeneinander wohnen, oft voneinander halten, beweisen auch die nicht gerade schmeichelhaften Bezeichnungen: „Tschusch“, „Švabo“, „Švabica“, „Krowot“, „Böhm“, „Katzlmacher“, „Gscherter“, „Mostschädel“ und viele andere mehr.
Doch halt, da kommt Ungarn ins Spiel: „Nein, nein, ihr Osztrákok (Österreicher, Anm.) braucht gar nicht anzugeben mit eurem Kaiserschmarrn und den Salzburger Nockerln. Mit unserem Gulasch und Paprikahenderl kann sowieso nichts mithalten! Das unverwechselbare Aroma von ungarischem Paprika, Chili, Pfeffer und Kümmel stammt schließlich aus der pannonischen Tiefebene. Wir, die Magyaren, sind die Besten.“
„Und was ist mit unseren weltberühmten Knödeln?“, fragt Tschechien. „Unsere Köchinnen waren in der Monarchie sehr gefragt und kochten sich mit Germknödeln, Semmelknödeln und Fleischknödeln in die Herzen der Feinschmecker am Kaiserhof. Und das ist nicht nichts! Sogar der Kaiserschmarrn, der aus misslungenen Palatschinken hervorging, ist unsere Erfindung.“
„Moment mal – die ‚böhmischen‘ Köchinnen waren oft Slowakinnen. Der Begriff ‚Böhmisch‘ entstand nur, weil die Österreicher es sich nicht merken konnten, dass es auch die Slowakei gibt. Und dabei wurde Maria Theresia in Bratislava gekrönt! Wie kann man so etwas nur vergessen? Die Wiener sind damals mit der Straßenbahn nach Bratislava gefahren, um dort die berühmten Mehlspeisen zu günstigen Preisen zu genießen. Und erst die Musik! In einem Weinkeller zu sitzen, Grünen Veltliner zu trinken und der weinenden Geige des Primáš einer Roma-Kapelle zu lauschen – das hat wirklich etwas.“
„Und auch den Csárdás samt der gesamten Folklore habt ihr uns gestohlen!“, lässt Ungarn nicht locker. „Ein paar Farben mehr auf euren Trachten machen eure Kultur noch lange nicht eigenständig.“
„Mamma mia, was soll das? Wir Italiener sind sowieso die Besten, das weiß doch jeder! Bei uns gibt es alles: Berge, Flüsse, das Meer, die schönsten Schuhe, die schickste Mode. Vom Essen brauchen wir gar nicht erst anzufangen – Branzino, Calamari, Prosciutto, Ricotta, Makkaroni, Chianti, Valpolicella. Sogar den besten Kaffee kochen wir.“
Slowenien schweigt. Es bewohnt die kleinste Kammer in dieser WG, bescheiden und anspruchslos, kann sich aber mit einem winzigen Fenster zum Meer rühmen. Dass es oft mit der Slowakei verwechselt wird, nimmt es gelassen. „Na und? Wir sind trotzdem ganz anders als die anderen – auch sprachlich.“ Slowenin heißt auf Slowenisch „slovenka“, Slowakin auf Slowakisch ebenfalls. Beide Länder halten das Ihre für das einzig Richtige.
So könnte es endlos weitergehen – mit der Schweiz, die das Fondue kocht und unentwegt Geld zählt, während Liechtenstein … Ach, lassen wir das.
Europa ist mehr als nur ein geografischer Raum – es ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie Nachbarschaftsbeziehungen das Schicksal von Nationen prägen können. Das Mosaik aus Sprachen, Traditionen und Lebensweisen macht uns genauso aus wie der Austausch von Ideen in der Kunst, der Wirtschaft und der Wissenschaft. Die Vielfalt unserer Kulturen gehört zu den wertvollen Schätzen, die es zu bewahren gilt. Darüber hinaus unterstützen grenzüberschreitende Festivals, aber auch kulinarische Spezialitäten, Kulturlandschaften und literarische Strömungen das Gefühl der Gemeinschaft, das über nationale Identitäten hinausgeht.
Europa wird oft als Wiege der Zivilisation bezeichnet, doch seine Geschichte, die von Kriegen und Konflikten geprägt ist, weist auf angespannte Nachbarschaftsbeziehungen hin. Das Anderssein wird einerseits gefeiert, andererseits bekämpft. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts zeigten deutlich, wie schnell aus Nachbarn Feinde werden können. Doch die Geschichte beweist auch, dass aus Konflikten Versöhnung und Zusammenarbeit erwachsen können. Die Gründung der Europäischen Union ist ein Beispiel für den guten Willen, aus der Vergangenheit zu lernen und eine gemeinsame Zukunft zu gestalten.
In der heutigen Zeit stehen die europäischen Nachbarn vor neuen Herausforderungen: Migration, wirtschaftlichen Ungleichheiten und Klimawandel. Diese globalen Probleme erfordern ein Umdenken in den Beziehungen zwischen den Ländern. Zusammenarbeit ist unerlässlich, um Lösungen zu finden, die allen zugutekommen. In einer zunehmend vernetzten Welt ist es entscheidend, dass Europa als Einheit auftritt und seine Stärken nutzt, um gemeinsam eine nachhaltige Zukunft zu gestalten.
Wie gesagt – die Vielfalt der Nationen und Völker Europas ist sowohl Quelle von Konflikten als auch von Inspiration. Die Fähigkeit, Unterschiede zu akzeptieren und Gemeinsamkeiten zu fördern, wird entscheidend für das zukünftige Zusammenleben auf diesem reichen Kontinent sein.
Doch zurück zu den Gedanken über das gute Essen, das uns zur Verfügung steht. Feiern wir ein Multikulti-Fest! Alle bringen etwas mit: die Deutschen ihre Würste, die Österreicher die Sachertorte und Mozartkugeln, die Tschechen das Pilsner und Budweiser Bier, die Slowaken den Wein und Liptauer, die Ungarn die Salami und Csabai kolbász (Csabai Klobasse), die Slowenen Kmečka pojedina (Bauernschmaus), die Italiener Pizza und Lasagne. Und auch die Schweizer kommen vorbei – mit Emmentaler und Schokolade.
Und dann setzen wir uns alle zusammen, laden auch diejenigen ein, die aus der Ferne gekommen sind, die Hunger haben und unter Traumata leiden. Wir essen und reden friedlich miteinander – wie es sich für gute Nachbarn und Nachbarinnen gehört. ● ○