© Stephan Mussil
© Stephan Mussil

Theaterfestival Hin & Weg

Herausragend


Über das Theaterfestival Hin & Weg in Litschau, Österreichs nördlichster Stadt, lässt sich zweifelsohne eines sagen: nämlich, dass es für alle etwas bietet. Fans von originellen Inszenierungen junger Dramatik, Stegreiftheater-Liebhaberinnen und Puppenspiel-Aficionados werden hier ebenso fündig wie all jene, die sich gern unmittelbar ins Geschehen ziehen lassen. Kinder – und überhaupt alle, die gern Neues lernen – können einen der zahlreichen Workshops besuchen. Zwei Wochen im Sommer versetzt das Festival die Stadt in einen Ausnahmezustand. Diesmal läuft es von 8. bis 17. August unter dem Motto „Kathedralen der Demokratie“. In unserem Special lesen Sie mehr darüber, welche Kräfte das Hin & Weg zu dem machen, was es ist; welche Stars das einstige Schülerprojekt Kollektief hervorbrachte und warum das auch in Litschau sehr präsente immersive Theater aktuell so spannend ist. Mehr über das Programm des Hin & Weg finden Sie unter www.hinundweg.jetzt.

Abtauchen ins Theater: Teater Štrik, Theater auf Rädern, „Sub Aqua, Sub Aqua. Eine Reise von Mensch zu Fisch“, Hin & Weg 2024
Abtauchen ins Theater: Teater Štrik, Theater auf Rädern, „Sub Aqua, Sub Aqua. Eine Reise von Mensch zu Fisch“, Hin & Weg 2024

Ortsbesuch Litschau

Höhenflüge im Blechtank


Das Theaterfestival Hin & Weg lockt sein Publikum in Lagerhallen, ehemalige Kaufhäuser und in den Wald. Jeden August stellen urbane Kunstschaffende und die Litschauer Bevölkerung ein einzigartiges Event auf die Beine – und zeigen, wie Kunst einem Ort ganz nah kommen kann.

Zur Mittagszeit des 11. August 2024 ließ sich die Sonne nicht besonders davon beeindrucken, dass Litschau die nördlichste Stadt Österreichs ist. Bei 30 Grad im Schatten streiften schwitzende Theaterfans, auf der Suche nach einer Location mit der Bezeichnung „Bahnhof/Lagerhaus“, durch den Ort. Erst beim Anblick eines grasgrünen Blechtanks, vor dem Personen mit Scannern warteten, wurde klar: Exakt hier, auf dieser Gstettn, würde gleich das Stück „Der Mann der im Brunnen saß und da lag und da lag“ (genau, ohne Interpunktionen) der Südtiroler Autorin Miriam Unterthiner aufgeführt. Gegen die Hitze konnten die Gäste Schirme ausleihen, die freilich jenen auf den hinteren Rängen die Sicht raubten. Doch man wusste sich zu arrangieren, die Aufführung konnte starten. Unbeeindruckt von der Geschichte, die sich in und um den Tank entfaltete, summten währenddessen Bienen im Gras, gab ein Traktor auf der Straße seine Kommentare ab.

Theater statt Tennis

Der improvisierte Spielort, die pragmatische Reaktion auf Unvorhergesehenes, die Umgebungsgeräusche – genau das macht das Litschauer Theaterfestival Hin & Weg aus. Seit 2018 verzaubert es jeden Sommer ein wachsendes Publikum. Theaterleute, Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie zahllose Ehrenamtliche arbeiten an Aufführungen, Lesungen, Diskussionsrunden, Workshops und gemeinsamen Spaziergängen. Die Bühnen sind in Lagerhallen, aufgelassenen Kaufhäusern, Bäckereien und Tankstellen, Gärten, ehemaligen Schlachtereien. Manchmal werden Gäste in Privathäuser oder in den Wald gelotst, aber auch in das vergleichsweise konventionelle Herrenseetheater und das Theater Moment. So schreibt sich die Bühnenkunst direkt in den Ort ein – auf einmalige Art. Zumindest Zeno Stanek, der das Festival gemeinsam mit Schauspielerin Katharina Stemberger und Musikerin Sigrid Horn leitet, ist nichts Vergleichbares bekannt.

Als Stanek, in Wien aufgewachsen, in den 1990er-Jahren Litschau für sich entdeckte, studierte er gerade Regie am Max-Reinhardt-Seminar. Mit seinen Kolleginnen und Kollegen suchte er damals einen Spielort, wie er im Dorfwirt erzählt. Das Restaurant liegt mitten im Theater- und Feriendorf Königsleitn, das gewissermaßen aus den Litschauer Kulturfestivals – neben dem Hin & Weg gibt es schon seit 2007 das Schrammelklang-Festival – herauswuchs. Zudem schaffte es Stanek, eine einstige Tennishalle zur Veranstaltungslocation Moment umbauen zu lassen, die am Dachboden einen unerschöpflichen Theaterfundus mit Kostümen, Masken, Perücken, Accessoires und Bühnenobjekten beherbergt.

Litschau ist offensichtlich magisch-kreativ aufgeladen.

Mit offenen Armen

Im Vorjahr besuchten 6.500 Personen, die teils weite Anreisen in Kauf nahmen, das Hin & Weg; die Quartiere im Ort werden jedes Jahr schon Monate zuvor knapp. Und die Menschen in Litschau? „Als wir uns an die Stadt herantasteten“, erinnert sich Stanek, „zogen wir von Geschäft zu Geschäft und fragten, ob uns die Leute etwas geben wollten, das sie nicht mehr benötigten. Alle schenkten uns was! Der Bäcker versorgte uns mit Semmeln und Brot, der Fleischhauer mit Wurstresten.“ Schon damals empfing die Stadt die Theaterleute mit offenen Armen.

Diese Einstellung hat sich gehalten, wenn nicht verstärkt: Ohne freiwillige Helferinnen und Helfer würden hier keine Stühle aufgestellt, kein Wein in der Bar ausgeschenkt, keine Tickets ausgestellt und kontrolliert – und auch die stets sofort ausgebuchten Küchenlesungen blieben im Reich der Fantasie. Eine der vielen Ehrenamtlichen heißt Gerlinde Kainz. Die Pensionistin koordiniert die Ticketkontrolle. Beim Interview beim Dorfwirt zeigt sie lange Listen und Zeitpläne. Jede Saison startet sie mit einem Telefonmarathon, ruft 50 Personen durch. Sobald Orte und Termine der Vorstellungen stehen, teilt sie das Team ein. „Wenn man das ein paar Jahre macht, entsteht eine tolle Gemeinschaft“, sagt sie. Was motiviert sie und die anderen Ehrenamtlichen? „Die Gemeinschaft, das gute Klima! Wir schauen uns außerdem gerne selbst Vorstellungen an. Und man kann ein Stück als einzelne Person besuchen, ohne sich blöd vorzukommen – üblicherweise geht man ja zu zweit zu Veranstaltungen.“

Wie nahe das Theater in den Ort hineinragt, konnte Stanek im Laufe der Zeit beobachten. „Die Litschauerinnen und Litschauer denken nicht mehr, dass die Theaterleute lauter Verrückte sind, die nichts hackeln und sich nur eine Gaudi machen. Sondern sie wissen, dass Schauspieler und Theatermacherinnen normale Berufe ausüben.“ Die Nähe: Das ist es auch, was Künstlerinnen und Künstler an Litschau schätzen. Schauspielerin und Puppenspielerin Manuela Linshalm – sie ist Ensemble­mitglied des Wiener Schubert Theaters – gastierte schon häufig beim Hin & Weg und ist auch für 2025 wieder gebucht, mit dem Stück „Der schlafende Wal – ein Stück ohne Bruckner“ (Regie: Simon Meusburger). „Für mich hat das Hin & Weg einen besonderen Spirit“, sagt sie. „Litschau ist offensichtlich magisch-kreativ aufgeladen. Das entsteht durch die Mischung aus den Gästen und dem Ort selbst.“

Berührend: Andrea Eckert in „Rose“, Inszenierung: Ruth Brauer-Kvam, 2024

© Josef Polleross
© Josef Polleross

Blind Date

Am engsten zueinander finden die Menschen bei den Küchenlesungen: Da kredenzen Einheimische bei sich zu Hause zu Lesungen ein Mittagessen. Petra Holbach, der man die geborene Gastgeberin gleich anmerkt, bewirtet jedes Jahr wildfremde Menschen in ihrem Vierkanter, den sie und ihr Mann zu einem wunderschönen Refugium umgebaut haben. „Es ist wie ein Blind Date, denn zunächst sind mir die Gäste ja fremd“, erzählt sie bei einem Kaffee in ihrem Wohnzimmer. Die Küchenlesungen startet sie mit einem Aperitif, den weiteren Ablauf bestimmen die jeweils Lesenden. „Oft bleiben Gäste bis zum Abend. Mit dem Schauspieler Christian Strasser saßen wir bis acht Uhr zusammen, haben diskutiert und gelacht.“

Stars in der Küche

Stars wie Karl Ferdinand Kratzl und Maria Hofstätter lasen schon in Holbachs Gartenküche. Für ihre dreigängigen Menüs verwendet sie vorrangig regionale Zutaten: „Rindfleisch vom örtlichen Fleischhauer, Wild und Fisch aus Litschau, Gemüse aus meinem Garten.“ Die Rezepte sind oft von ihren Reisen inspiriert, etwa von der karibischen Küche. Wie beim Festival selbst überschneiden sich in Petra Holbachs Menüs das Nahe und das Ferne. Auch die Theaterleute schätzen den Ort: In Litschau entstehen eigene Dynamiken. Zeno Stanek: „Wenn man hier probt, ist es drei-, viermal intensiver als in der Stadt, wo man nach den Proben heimfährt und sich jedes Mal neu aufeinander einschwingen muss. Hier kann man danach noch so viel bereden.“ So entstünden „kreative Höhenflüge“. Manuela Linshalm, die in Litschau auch Puppenspiel-Workshops gibt, führte bereits dreimal mit Kollegen vom Schubert Theater den „Spaziergang für die Figur“ auf, bei dem sie ihr Publikum mit Klappmaulpuppen durch die Gegend begleiten. Sie erzählt: „Ich kam in Litschau schon oft in Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen, die ich zuvor wahrgenommen, aber nicht persönlich gekannt habe.“ So entstanden neue künstlerische Kollaborationen und Freundschaften. Für sie ist Litschau „ein eigener Kosmos, eine Theaterinsel. Die Begegnungen sind wie unter einem Brennglas, konzentriert und ruhig“. Davon profitiert auch das Publikum. Nicht jedes Stück trifft jeden Geschmack – das liegt in der Natur eines vielschichtigen Festivals. Was aber bleibt, ist die außergewöhnliche Atmosphäre, das Gesamterlebnis und der Mut zur künstlerischen Vielfalt. Ein Highlight der vergangenen Jahre war „Rose“: In der Regie von Ruth Brauer-Kvam spielte Andrea Eckert eine Holocaust-Überlebende, deren Enkel in Israel zum Mörder eines Palästinensers wird. Ein anderer Höhepunkt hieß „Heldenplätze“, mit dem Regisseur Calle Fuhr und Schauspielerin Gerti Drassl die Verklärung der Ski­legende Toni Sailer aufgriffen. Auch die szenische Lesung „Ameisen“ in einer Lagerhalle nach einem Text von Wolfram Lotz, eingerichtet von Anna Marboe, blieb nachhaltig in Erinnerung. Dass das Theaterfestival Hin & Weg bei der Auswahl seiner Ensembles schon immer die Nase vorne hatte, beweisen nicht nur Karrieren wie die von Anna Marboe, sondern auch die des Schauspielers Felix Kammerer: Er performte hier schon lange bevor der Film „Im Westen nichts Neues“ mit ihm in der Hauptrolle bei den Oscars abräumte.

Wenn die Lagerhalle zur Bühne wird: „Heimat bist du rechter Söhne“, Institut für Medien, Politik und Theater, 2024

© Stephan Mussil
© Stephan Mussil

Ausharren in der Finsternis

Manche Stücke gehen direkt auf den Ort ein. Die Litschauerin Gerlinde Kainz erinnert sich besonders an „Zwei Stunden“, 2019 umgesetzt von Tobias Schilling und dem Ensemble Distract, eine immersive Inszenierung, welche die Vertreibung der Waldviertler Sudetendeutschen reflektierte. „Es begann in der Garage des Roten Kreuzes. Diese wurde geschlossen“, erinnert sich Kainz. „Dann wurden wir informiert, dass wir uns abmelden müssten, wenn wir die Gruppe verlassen. Zwei, drei Minuten war es finster. Die Leute wussten nicht, was los war. Manche haben diese Dunkelheit und Ungewissheit nicht ausgehalten.“ Das Ausharren in der Finsternis brannte sich ihr nachdrücklich ein.

Auch die „Chronik der nördlichsten Stadt“ des Ensembles Kollektief (siehe dazu auch das Porträt auf den folgenden Seiten) fand bei den Einheimischen großen Anklang. Viele von ihnen identifizieren sich in hohem Ausmaß mit den Kulturveranstaltungen. „Wenn jemand sagt, ‚Ah, du kommst aus Litschau, da ist ja das Hin & Weg‘, dann ist das schon cool“, sagt Kainz. Petra Holbach, die Küchenlesungs-Gastgeberin, meint: „Wenn etwas los ist, steigt der Wert der Region. Sie lebt auch von Festivals wie dem Hin & Weg. Bäcker, Fleischhauer und Gastronomie profitieren.“ Umgekehrt schätzen auch die angereisten Künstlerinnen und Künstler das Publikum. Manuela Linshalm etwa nimmt es als „außergewöhnlich kontaktfreudig und offen, sehr aktiv“ wahr. Wenn Lagerhaus-Mitarbeiter mit jungen, experimentierfreudigen Regisseurinnen ins Gespräch kommen, dann entstehen Begegnungen, die sonst kaum stattfinden.

Wenn etwas los ist, steigt der Wert der Region.

Die Kontaktfreude der Festivalgäste zeigt sich auch abends, bei den (öffentlichen) Gesprächen am Feuerkorb und den (nicht ganz so öffentlichen) an der Weinbar. Dort plaudern dann Wiener Kunstbobos mit pensionierten Litschauern, die vom Leben am Land erzählen.

An dem heißen Augusttag im Jahr 2024 tanzten zu später Stunde junge Theaterleute zu Musik, die aus dem Handy krachte. Der Uhrzeiger marschierte viel zu schnell gegen zwei, das Thermometer zeigte 14 Grad. Über Litschau spannten sich nun nicht mehr die Sonnenschirme, sondern ein atemberaubender Sternenhimmel: eine Kulisse, wie sie nur die Natur schaffen kann. ● ○

Beachtliche Karrieren: Anton Widauer und Alina Schaller, Theatergruppe Kollektief,  im Wiener Theater Bronski & Grünberg
Beachtliche Karrieren: Anton Widauer und Alina Schaller, Theatergruppe Kollektief, im Wiener Theater Bronski & Grünberg

Kollektief

„Wir hatten Narrenfreiheit"


Einst eine Schülertheatergruppe, wurde das Ensemble Kollektief so etwas wie das Hausensemble des Festivals Hin & Weg. Alina Schaller und Anton Widauer, die mittlerweile beachtliche Karrieren hingelegt haben, erzählten morgen, wie es dazu kam.

Es muss im Jahr 2012 gewesen sein, da beschlossen vier Burschen in Wien, eine Theatergruppe zu gründen – mit dem Ziel, „abseits vorhandener Strukturen eigene Ideen für die Bühne zu entwickeln“. Oder, wie Anton Widauer es bei einem Treffen im Wiener Theater Bronski & Grünberg ausdrückt: „Das Kollektief entstand aus jugendlicher Schauspielwut. Alle waren noch in der Schule, in Jugendklubs und nutzten die Nachwuchsangebote der großen Häuser. Aber es gab keinen Raum, wo sie eigene Stücke einstudieren konnten – ohne die Aufsicht von Erwachsenen.“

Treibende Kraft waren Max Smirzitz, der sich als Dramatiker ausprobierte, Florentin Bergsmann als Musiker und Max Payer, der sich gerne Wettermann nannte. Smirzitz liebte Wortspiele, er schrieb konsequent alle Buchstaben klein, nach dem Vorbild von Elfriede Jelinek. Die ersten Produktionen spielten sie in Wien: Für „wettermann“ und „die kreuzung“ mietete sich das Kollektief im Theater Brett ein, im Off Theater folgten „das monument“ (2013), „spiegel“ (2014) und „vier bis vier“ (2016), beim Primavera Festival im Schikaneder Kino präsentierte die Gruppe das neckische „kurz sebastian sein“.

Wohnungsprobe

2014 war Widauer zur Boygroup gestoßen. Irgendwann fiel auf, dass Mädchen fehlten. Mit Alina Schaller setzte man zunächst „er / ich – ein junger mensch auf der flucht“ (2016) um: Smirzitz verarbeitete die Lebensgeschichte des Fotografen Erich Lessing, der als Jugendlicher vor den Nazis nach Palästina flüchten musste. Die Gruppe probte in elterlichen Wohnungen. „Wir haben inszeniert, diskutiert, herumgesponnen“, erinnert sich Alina Schaller. „Wir hatten Narrenfreiheit, da es niemanden gab, der uns gesagt hat, wie man was machen muss. Wir konnten daher auch gemeinsam einen Geschmack für Theater und generell für Kunst entwickeln.“

„Urviel Geld“

Investiert wurde nur, was man einspielte. „Und wir suchten um Jugendförderungen an“, sagt Widauer. „Sie sind enorm wichtig, damit Kreatives entstehen kann.“ Es handelte sich immer nur um ein paar Hundert Euro, aber für die Gruppe war das „urviel Geld“, so Schaller. „Denn damit konnten wir die Basics für die Ausstattung kaufen.“

2017 realisierte das Kollektiv, zu der nun auch Anna Marboe gehörte, im damals gerade eröffneten Bronski & Grünberg in Wien „one to one“ als immersives Stationentheater: „Es gab zehn Einzelperformances – und parallel spielten je eine Schauspielerin und ein Schauspieler für je eine Person. Wir nutzten jeden Winkel des Theaters. Es entstanden sehr intime Situationen“, erzählt Alina Schaller. Jenes Jahr war ein Wendepunkt. Max Smirzitz und andere gingen nach der Matura nach Deutschland. „Die Gruppe wurde sehr fluid. Das Kollektief entwickelte sich zu einer Plattform für junge KünstlerInnen, die einen ähnlichen Ansatz verfolgten“, sagt Schaller. Sie selbst spielte bei „Hangmen“ im Volx/Margareten, der Nebenspielstätte des Wiener Volkstheaters mit – und wurde für den Nachwuchs-Nestroy nominiert. Und Widauer, der am Max Reinhardt Seminar aufgenommen worden war, durfte bei den Stockerauer Festspielen eine wortwörtlich tragende Rolle übernehmen – als Kellner. Dort lernte er Zeno Stanek, den umtriebigen Intendanten, und Katharina Stemberger kennen, die gerade am Konzept für das Festival Hin & Weg arbeiteten. Stemberger war von „one to one“ begeistert: Ein solches Format brauche es für Litschau, wo man gern überraschende Orte nutzt. 2018 adaptierte die Gruppe ihre Produktion in der Regie von Anna Marboe für das dortige Bahnhofsgelände – wenngleich aus ökonomischen Gründen als „one to three“.

Wir haben inszeniert, diskutiert, herumgesponnen.

Bitte nicht berühren

So wurde Kollektief zum Festivalensemble: „Zeno schenkte uns Vertrauen“, erinnert sich Widauer. „So trauten wir uns, immer verrücktere und größere Dinge vorzuschlagen.“ Zudem durfte sich jede und jeder in jedem Feld ausprobieren – von der Dramaturgie bis zur Regie. „Zeno öffnete uns diesen Raum an Möglichkeiten.“ Man arbeitete weiter als Kollektiv, unter anderem mit Andrea Meschik, Amelie Wimmer und Maria Sendl­hofer; federführend bei den meisten Projekten waren von nun an Schaller und Widauer. 2020, im ersten Corona-Sommer, verarbeitete Kollektief die Lockdown-Erfahrungen in dem Stück „Bitte nicht berühren“: Für zwei Wochen zogen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler, darunter Shootingstar Felix Kammerer, in Container mit Glasfront zurück, die kreisförmig aufgestellt waren. Das Publikum konnte sie permanent beobachten bei alltäglichen Dingen und Aktionen – eine enorme Herausforderung für die Kollektief-Mitglieder, die in dieser Zeit auch auf digitale Kommunikation verzichteten.

Im Sommer darauf folgte „der traum – eines lächerlichen menschen“, ein Rundgang durch eine Wohnung voll Geschichten mit Audio- und Rauminstallationen. Daraufhin suchte die Schriftstellerin Armela Madreiter den Kontakt zur Gruppe: Sie würde sich, da die Textebene zu kurz gekommen sei, gerne einbringen. Das traf sich gut. Denn für 2022 gab Stanek ein Stück über Litschau in Auftrag – auf Basis der Stadtchronik. Madreiter ackerte sich durch das Konvolut und erstellte ein Episodendrama. Die Gruppe realisierte die „chronik der nördlichsten stadt“ an mehreren Schauplätzen rund um den dortigen Herrensee: Niemand konnte alle Szenen sehen, aber zum Schluss saß das Publikum gemeinsam an einer langen Tafel auf der Wiese und tauschte die Erlebnisse aus. Aufgrund des riesigen Erfolgs spielten Kollektief das Spektakel in Variationen auch 2023 und 2024. Dieses Jahr fehlt dem Ensemble die Zeit dafür. Schaller, geboren 1997 und aufgewachsen in Purkersdorf, war schon vor Jahren ins Filmbusiness gerutscht, sie spielte in mehreren ORF-Serien und zuletzt in „Islands“ des deutschen Regisseurs Jan-Ole Gerster mit. Ihre erste Hauptrolle hatte sie 2022 in „Breaking the Ice“ von Clara Stern. Widauer, 1995 geboren, verkörperte 2023 bei den Festspielen in Reichenau den Franz Ferdinand Trotta in „Die Kapuzinergruft“, 2024 den Anatol von Arthur Schnitzler. In der zweiten Staffel der aktuell laufenden ORF-Serie „Biester“ darf der „charming boy“ einen unguten Kerl geben: „Das hat viel Spaß gemacht“, sagt er. „Denn normalerweise werde ich nicht mit solchen Rollen besetzt.“

Aus Verbundenheit zu Zeno Stanek werden die vielbeschäftigten Mitglieder von Kollektief auch 2025 für Hin & Weg ein Stück erarbeiten. Worum es sich dreht? Das wollen sie zu Redaktionsschluss noch nicht verraten. Doch ihre bisherige Arbeit macht neugierig darauf. ● ○

Selbsterfahrung: „[EOL]. End of Life“ des Duos Darum, eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2025
Selbsterfahrung: „[EOL]. End of Life“ des Duos Darum, eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2025

Immersives Theater

Hautnah an der Toleranzschwelle


Immersion lautet ein neuer Trend im Theater: Aus einem passiven Publikum werden Mitspielende, die keine Angst davor haben, direkt eingebunden zu werden – sei es in virtuellen Welten oder in ungewöhnlichen Rauminstallationen. Woher kommt die neue Lust auf die hautnahe Kunsterfahrung?

Mitspieltheater? Vor nicht allzu langer Zeit löste dieses Wort mehr Schrecken als Begeisterung aus. Publikum und Bühne waren, zumindest im klassischen Stadttheater, strikt getrennt, die imaginäre vierte Wand zog eine sichere Grenze. Wie abschreckend es sein konnte, wenn sich Schauspielende nicht daran hielten, davon erzählt ein Theaterskandal, der als „Spiralblockaffäre“ in die Geschichte eingehen sollte.

Der Schauspieler Thomas Lawinky entriss Gerhard Stadelmaier, dem strengen Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, während einer Vorstellung am Schauspiel Frankfurt 2006 den Notizblock und tat, als würde er daraus vorlesen. Stadelmaier verließ daraufhin erbost den Saal – und rächte sich mit einem bitterbösen Text in der Zeitung („Angriff auf einen Kritiker“). Wehleidig gab er zu Protokoll, sich noch nie in seinem über dreißigjährigen Kritikerleben so „beschmutzt, erniedrigt, beleidigt“ gefühlt zu haben. Jahre später meinte er noch, es sei gewesen, als ob jemand in seine Wohnung eingebrochen wäre. „Ich bin nicht im Theater, um mitzuspielen. Ich muss auch nicht den Mundgeruch der Schauspieler haben“, so Stadelmaier in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2010.

Sind wir mittlerweile entspannter? Aus der historischen Distanz entlockt uns dieser Skandal ein müdes Schmunzeln. Er wirkt wie eine absurde Anekdote aus einem fernen Jahrzehnt, in dem sich (männliche) Kritiker wie Götter fühlten. Wehe, es war jemand verwegen genug, sich über ihre Autorität lustig zu machen. Inzwischen haben die sozialen Medien diese Einbahnstraße gelockert: Wer öffentlich Kritik übt, muss auch selbst kritisierbar sein. Journalistinnen und Journalisten sind Widerrede gewohnt, sie fühlen sich nicht mehr unfehlbar, sondern als Teil eines öffentlichen Diskurses.

Wir wollen spannende Räume erfahrbar machen.

Experten des Alltags

Aber auch das Theater ist kein bildungsbürgerlicher Frontalunterricht mehr. Das Publikum hat sich an performative und offene Formate gewöhnt. Wir nehmen Theater immer mehr als Erfahrungsraum wahr. Mitwirken hat nichts Abschreckendes mehr, im Gegenteil: Es scheint eine neue Lust daran zu geben; auf Tiktok spielt man ja auch selbst die Hauptrolle. Warum sollte gerade ein jüngeres Publikum im Theater ruhig sitzen bleiben? Nach der Pandemie haben wir wiederentdeckt, was wir schmerzlich vermisst haben: Kunst bringt die Menschen zusammen. Theater ist live, alles ist möglich, alles entsteht und vergeht im Moment.

An neue Theaterformen haben wir uns schnell gewöhnt. Wir laufen mit Kopfhörern durch die Gegend, um die Umwelt als Kunstwerk zu erleben. Was ist echt, was künstlerisch manipuliert? Das deutsche Kollektiv Rimini Protokoll brachte nicht nur „Experten des Alltags“, also Menschen wie dich und mich, auf die Bühne, sondern erweiterte auch unsere Wahrnehmung mittels Audiowalks. Plötzlich kann selbst ein Spaziergang im Park eine Inszenierung sein. Schon bei den Aktionen des 2010 verstorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief war das Grundprinzip Teilhabe – auch, um die eigenen, festgefahrenen Haltungen zu hinterfragen. Am radikalsten setzte er das 2000 mit seinem „Ausländer raus!“-Container vor der Wiener Staatsoper um. Einige schimpften lautstark, andere ließen sich in intensive Gespräche verwickeln. Einmal wurde der Container sogar von Protestierenden gestürmt. Schlingensief verstand es, Emotionen zu erzeugen. Niemanden ließ kalt, was er machte. Alle wurden Teil seiner Inszenierungen im öffentlichen Raum, ob sie wollten oder nicht.

Mittlerweile ersetzt der Begriff des immersiven Theaters den Terminus Mitspieltheater. Er leitet sich vom lateinischen „immersio“ ab, einem Wort, das den Prozess des Eintauchens ebenso wie den Zustand des Eingetauchtseins beschreibt. In den Medienwissenschaften kommt diese Zuschreibung in Bezug auf Computerspiele und virtuelle Realitäten vor. Ein innovatives Beispiel dafür ist das heimische Regieduo Darum, das mit seiner jüngsten Arbeit „[EOL]. End of Life“ heuer zum renommierten Berliner Theatertreffen eingeladen wurde.

Prinzip Teilhabe: Theatergruppe Kollektief: „Chronik der nördlichsten Stadt“, Litschau 2024

© Karl Satzinger
© Karl Satzinger

Galaxienweit gereist

Mittels VR-Brille wandelten da die Gäste durch eine digitale Ruinenlandschaft – und sollten entscheiden, welche Welten endgültig gelöscht werden. Ganz allein in einem virtuellen Setting, das ständig zum Handeln zwingt. 9,6 Quadratmeter groß war die Fläche, die man im realen Theaterraum einnahm – und doch fühlte es sich an, als wäre man galaxienweit gereist. „Ist das noch oder schon Theater?“, fragte die Theatertreffen-Jury irritiert in einem Statement. Wahrscheinlich handelt es sich um eine hybride neue Form, die Digitalität, Liveerlebnis und interaktives Spiel spannend zusammendenkt.

In den vergangenen 25 Jahren wurden Theaterräume oft zu begehbaren Installationen. Am radikalsten vertritt das dänischen Performance-Kollektiv Signa, gegründet von dem Ehepaar Signa und Arthur Köstler, diesen Hyperrealismus. Es wirft sein Publikum in verstörende Settings, in denen sich dieses selbst zurechtfinden muss. Körperkontakt mit den Akteurinnen und Akteuren inklusive. In „Wir Hunde / Us Dogs“, das in Koproduktion mit den Wiener Festwochen und dem Volkstheater auf der Probebühne des Volkstheaters Wien 2016 uraufgeführt wurde, ging man auf Tuchfühlung mit einer Sekte, die ihrem Traum folgte, als Hunde zu leben. Die seltsame Gesellschaft bewohnte ein mehrstöckiges Haus, in dem das Publikum in undurchschaubare Rituale verwickelt wurde.

Extremsituation

Heuer sind Signa erneut bei den Wiener Festwochen zu Gast: „Das letzte Jahr“ ist eine – bereits ausverkaufte – sechsstündige Reise durch ein Pflegeheim bis hin zum eigenen Tod. Schon die Hinweise auf der Festwochen-Homepage deuten an, wie sehr man sich auf diese Extremsituation einlassen muss: Sogar die eigene Kleidung wird zu Beginn abgelegt, man bekommt eine Krankenhauskluft angezogen.

Wie süchtig diese einbindende Form von Theater machen kann, zeigt sich regelmäßig bei Produktionen der 2011 gegründeten heimischen Gruppe Nesterval: Binnen Minuten sind die Tickets ausverkauft, weil die Fangemeinde riesig ist. Über 25 Produktionen sind bisher entstanden – von zuletzt einer immersiven Neudeutung von Wagners „Götterdämmerung“ in der Staatsopern-Nebenspielstätte Nest über die „Namenlosen“, einen Stationenabend über die Verfolgung und Ermordung von Homosexuellen sowie Transgender-Personen in der NS-Zeit bis zu schrägen Zusammenschnitten wie „Dirty Faust. The Time of Their Life – and Death“. Goethes Klassiker traf da auf den Kultfilm „Dirty Dancing“, das Publikum folgte den Akteurinnen und Akteuren durch unterschiedliche Settings.

Trotz dieser neuen Offenheit der Teilnehmenden spielen immersive Inszenierungen an einer heiklen Grenze. Ist es noch Konsens? Oder schon ein Übergriff? Wir sind sensibler geworden, wenn wir zu etwas gezwungen werden, was wir nicht wollen. Wir achten mehr darauf, was sich richtig anfühlt – und was nicht. Nicht jeder möchte von Nackten berührt werden, die Hunde spielen. Es bleibt also spannend, ob experimentelle Gruppen feinfühlig genug sind, auf ihr Publikum zu reagieren, ohne es zu überfordern. Immersives Theater ist stets eine Gratwanderung. Als Zuschauerin lernt man, eigene Toleranzschwellen abzustecken.

Reise durchs Pflegeheim: „Das letzte Jahr“ von Signa

© Lorenz Vetter
© Lorenz Vetter

Naturkulisse Herrensee

An manchen Orten fällt es freilich leichter, Grenzen aufzuheben. Festivals haben diesbezüglich einen Standortvorteil. Beim Hin & Weg in Litschau, malerisch im Waldviertel gelegen, wirkt schon die Naturkulisse des Herrensees wie ein perfektes Bühnenbild: Geht man schwimmen oder ist man schon Teil der Gesamtinszenierung dieses Ortes? Alles ist theatralisch und entspannt zu gleich. Festivalgründer Zeno Stanek und sein Team haben viel Erfahrung darin, ihr Publikum zu Abenteuern zu motivieren. Sie bespielen leerstehende Gebäude und im Grunde die ganze Stadt. „Es gibt diese spannenden Räume, die wir erfahrbar machen wollen. Es geht uns nicht darum, eine künstliche Bühne hineinzubauen“, sagt Anatina Riester, die Produktionsleiterin des Festivals.

Überraschungseffekte

Bereits 2020 sorgte die Theatergruppe Kollektief mit einer Performance für Aufsehen, die perfekt zur Pandemie passte (siehe auch Porträt auf Seite 32). In „Bitte nicht berühren“ isolierten sich Akteure und Akteurinnen für zwei Wochen in fünf Wohncontainern mit Glasfronten, das Publikum konnte über ein Briefkastensystem Kontakt aufnehmen. Diesen Sommer geht Hin & Weg noch einen Schritt weiter: „Kathedralen der Demokratie“ lautet das Motto des Festivals. „Demokratie lebt von Teilhabe und Mitmachen. Deshalb bieten sich immersive Formate automatisch an“, sagt Riester. Stücke wie „Der Staat“ des bulgarischen Autors Alexander Manuiloff oder „Das Ereignis“ von Azzi Finder und Veronika Guschlbauer-Male wollen das Publikum aktivieren. Es wird eine Brandrede für Demokratie und einen Protestchor geben, aber auch Briefe, mit denen das Publikum agieren kann. Wie das alles genau ablaufen wird, darüber möchte man noch nichts erzählen. „Wie immer geht es uns auch um den Überraschungseffekt“, betont Riester.

Ein Format aber steht schon fest, für das man sich aktiv bewerben kann: Wer in „Herold Hearing“ mitwirken möchte, der sollte nicht schüchtern sein. „Es ist eine Art Casting-Aufruf fürs Publikum übers Publikum“, sagt Riester. So kommt man unkompliziert ins Gespräch. Und genießt einen geselligen Abend im schönsten Naturbühnenbild von ganz Österreich. Alles nur Spiel – und trotzdem echt. ● ○