Aus der Emigration zurückgekehrt:  Hans Morgenstern,  „der letzte Jude  St. Pöltens“
Aus der Emigration zurückgekehrt: Hans Morgenstern, „der letzte Jude St. Pöltens“

Kultur • NS-Verfolgte

„Warum san’S net durt’n blieben?“


Nur wenige Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden, kehrten nach Österreich zurück. Wie begegneten sie ihren früheren Nachbarinnen und Nachbarn – und wie diese ihnen? Unsere Autorin las sich durch eine Vielzahl von Biografien und befragte jene, die diese dokumentierten.

Einer der bekanntesten österreichischen Holocaust-Überlebenden wurde 106 Jahre alt: Marko Feingold trat bis knapp vor seinem Tod im Jahr 2019 als Zeitzeuge auf; und er war viele Jahre Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg. Er gehört auch zu jenen Menschen, die der deutsche Fotograf Stefan Hanke porträtierte: zwischen 2004 und 2014 bildete er 121 Überlebende des NS-Terrors ab, unter ihnen nicht nur Juden wie Feingold, sondern auch aus anderen Gründen Verfolgte.

In der Salzburger Synagoge sitzend, von der Seite: So lichtete Hanke den Mann, der die KZs Auschwitz, Neuengamme, Dachau und Buchenwald überlebt hatte, 2013 ab. Das Porträt ist Teil der Ausstellung „KZ überlebt“, die bis 31. August im Haus der Geschichte in St. Pölten zu sehen ist. Das Museum wählte für eine digitale Präsentation 40 Fotografien Hankes aus. Der Regensburger setzt sich bereits seit seiner Jugend mit dem auseinander, was in KZs passierte. Seit seiner Kindheit sei ihm im Ohr, wie immer wieder mit dem Ort Dachau gedroht wurde, erzählte er einmal. „Wenn ich dann nachfragte, was in Dachau passiert sei, wurde geschwiegen.“ Im Alter von 17 Jahren sei er zum ersten Mal zur Gedenkstätte gefahren und habe schon damals seine Eindrücke fotografisch festgehalten.

Seine Arbeit an den Porträts für „KZ überlebt“ schildert er als „Wettlauf mit der Zeit“. Am Ende hat er es gerade noch geschafft. Heute lebt das Gros der hier Abgebildeten – wie eben auch Feingold – nicht mehr. Daher war es wichtig, dass verschiedene Institutionen Lebensgeschichten von NS-Überlebenden dokumentieren.

Leopold Engleitner, Porträt aus der Serie „KZ überlebt“ von Stefan Hanke


„Wien, dann Übersee“

Hanke ging es in seiner Arbeit weniger um Dokumentation als um, wie er es formulierte, „Interpretationen dieser bewegenden Begegnungen“. Jedem Porträt stellt er ein Zitat des oder der Abgebildeten gegenüber, ergänzend sind deren Biografien nachzulesen. Feingold sagt im Begleittext: „Meine zwei Jahre in Wiener Vergnügungsvierteln als Jugendlicher unter Huren und Messerstechern lehrten mich die Tricks, die mich später in Auschwitz retteten.“

Wie aber erlebte Feingold seine Rückkehr nach Österreich? Traf er hier Menschen wieder, die in seinem Alltag bis zu seiner Deportation präsent gewesen waren? Die Arolsen Archives, ein internationales Zentrum für NS-Verfolgung im hessischen Bad Arolsen, bewahren den weltweit größten Bestand an Akten zu Todesopfern und Überlebenden des Nationalsozialismus auf, auch solche zu Marko Feingold. Sie zeigen, dass er sich nach den Jahren der Verfolgung und der Ermordung seiner ganzen Familie ein Leben in Österreich zunächst gar nicht vorstellen konnte. „Wien, dann Übersee“, antwortete er in einem Formular, das Überlebende im KZ Buchenwald nach ihrer Befreiung ausfüllen mussten, auf die Frage, wohin sie zu gehen beabsichtigten. Feingold, der in Wien aufgewachsen war, landete schließlich zufällig in Salzburg – und blieb in der Stadt hängen. In einem Interview für die Shoah Foundation erzählte er später: „Ich habe es vorgezogen, nicht nach Wien zu gehen nach einer Weile, nachdem ich mich hier gut warm eingesessen hatte, weil in Wien hätte ich den Hausparteien ins Gesicht schauen müssen. Die habe ich gekannt. Hier in Salzburg habe ich niemanden gekannt. Für mich waren es wohl Nazi, aber nicht persönlich Bekannte von mir. Sie waren leichter zu ertragen.“

Ich wurde wie ein Wundertier angeschaut.

Gesellschaftlich gemieden

Das war bei dem 2013 verstorbenen Leopold Engleitner ganz anders. Als Zeuge Jehovas verweigerte er den Kriegsdienst, wurde daher in der NS-Zeit verfolgt. Er überlebte die KZs Buchenwald, Niederhagen und Ravensbrück. Hanke porträtierte ihn 2010 in Aigen-Voglhub in Salzburg, seinem Geburtsort. Auch dieses Porträt ist Teil der Ausstellung im Haus der Geschichte in St. Pölten.

Engleitner reiste bis in die USA, um als Zeitzeuge seine Geschichte zu erzählen.

Auf der Website der deutschen Arnold-Liebster-Stiftung schildern Schüler und Schülerinnen der Northrop High School in Indiana, was er ihnen über die Nachkriegszeit erzählte: „Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Leopold als ehemaliger KZ-Insasse von der Gesellschaft gemieden und in die gleiche Kategorie wie Arbeitsscheue, Asoziale und Kriminelle eingeordnet. Einige seiner Zeitgenossen leugneten sogar, dass es jemals Konzentrationslager gegeben hatte.“

Es sind oft nur Nebensätze oder kurze Passagen aus Zeitzeugeninterviews, in denen man erfährt, wie es den einst Verfolgten nach ihrer Freilassung aus einem KZ oder der Rückkehr aus der Emigration erging. Martha Keil, Historikerin und wissenschaftliche Leiterin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs (Injoest), meint dazu heute: „Wir haben damals zu wenig danach gefragt.“ Die Zeitgeschichte interessierte zunächst das, was die Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen den Menschen angetan hatten. Sie versuchten, das Grauen zu dokumentieren.

Als Baby ausgewandert

Hier und da lassen sich in Interviews dennoch kurze Aussagen aufspüren, die sich am Ende zu einem Mosaik fügen. Es zeigt: Willkommen geheißen wurden die meisten Zurückkehrenden nicht. Die Ausnahme bestätigt aber auch hier die Regel. Hans Morgenstern galt bis zu seinem Tod 2023 als „der letzte Jude St. Pöltens“. Das Injoest hielt seine Geschichte in einem langen Videointerview fest, das online abrufbar ist. Morgenstern war noch ein Baby, als er mit seinen Eltern 1939 nach Palästina auswanderte. Den Vater, der zuvor bereits erfolgreich als Rechtsanwalt in St. Pölten gearbeitet hatte, zog es jedoch nach Ende des NS-Regimes wieder zurück nach Österreich. 1947 kehrte die Familie daher nach St. Pölten zurück. Woran sich Morgenstern in dem Interview noch gut erinnern konnte: Die nun vom Vater wiedereröffnete Kanzlei lief von Beginn an gut. „Es kam auch dieselbe Angestellte wieder zu ihm.“

Walter Fantl-Brumlik (1924–2019) wuchs in Bischofstetten im Bezirk Melk auf, wurde in der NS-Zeit als Jude verfolgt und überlebte Theresienstadt sowie Auschwitz. Nach seiner Rückkehr ins Nachkriegsösterreich blieb er in Wien, suchte aber auch seinen früheren Heimatort auf. In einem für die Shoah Foundation geführten Interview erzählte er dazu: Von den Menschen im Ort sei er „mehr wie ein Wundertier angeschaut“ worden. Unterstützung habe es in keiner Art und Weise gegeben. „Mehr: ‚Jetzt bist du wieder da. Wir haben so viel mitgemacht.‘“ Es sei ihm vor allem Gleichgültigkeit entgegengeschlagen. Positiv erinnert er sich in dem Gespräch nur an einen Lehrer, der ihm ein paar Dinge, darunter seine Bar-Mizwa-Uhr, zurückgab, die ihm Fantl-Brumliks Vater zur Aufbewahrung übergeben hatte.

Marko Feingold, Porträt aus der Serie „KZ überlebt“ von Stefan Hanke

© Stefan Hanke
© Stefan Hanke

Doppeltes Spiel

Tanja Eckstein führte selbst 70 solcher Interviews; sie sind auf Centropa, einer Datenbank jüdischer Erinnerung (siehe Randspalte Seite 20), publiziert. Eckstein dokumentierte auch die Nachkriegsgeschichte von Verfolgten. Zum Beispiel jene von Johanna Tausig (1920–2015), die sich als Jüdin vor den Nazis nach England hatte retten können und 1946 nach Wien zurückkehrte. Dort bekam sie auf dem Wohnungsamt zu hören: „Zu wos sans’n zruckkummen? Warum san’S net durt’n bliebn? Wir haum ja söber nix!“ Eckstein hielt auch die Lebensgeschichte von Leo Luster (1927–2017) fest. Er hatte die KZs Theresienstadt und Auschwitz überlebt und machte sich nach Kriegsende mit einer Gruppe von anderen Überlebenden, darunter Fantl-Brumlik, auf den Weg nach Wien. Ihm ging es dabei vor allem darum, Schmuck zurückzubekommen – vergeblich: „Dann bin ich in das Haus in der Schreygasse gegangen, in dem wir gewohnt hatten. Ich wusste, die Hausbesorgerin hatte ein doppeltes Spiel gespielt – einmal war sie für uns, einmal gegen uns“, erzählte Luster der Interviewerin. „Aber mein Vater hatte ihr alle unsere Möbel gegeben. Die sei nicht mehr da, die Hausbesorgerin, sagte der neue Hausbesorger. Und wer war der neue Hausbesorger? Es war der Kreisobmann der NSDAP. ‚Sie kennen mich nicht?‘, fragte ich ihn. ‚Ich bin der Luster.‘ ‚Ja, so. Sie leben noch!‘ Durchs Fenster des Hausmeisters sah ich das Schlafzimmer meiner Eltern. ‚Sie wissen, wem das gehört?‘, fragte ich ihn. ‚Das hat meinem Vater gehört.‘ ‚Ihr Vater hat mir das alles geschenkt.‘ ‚Das stimmt doch gar nicht‘, sagte ich, ‚die Möbel haben Sie der Hausbesorgerin weggenommen, mein Vater hat sie der Frau Schlicksbir geschenkt, aber nicht Ihnen.‘“ Angesichts dessen hielt ihn nichts mehr in seiner früheren Nachbarschaft: „Ich konnte mir das alles nicht mehr anschauen.“

Die Hausmeisterin spielte ein doppeltes Spiel.

Feindliche Haltung

Anders als Fantl-Brumlik wanderte Leo Luster schließlich mit seiner Mutter – er hatte sie nach dem Krieg ausgerechnet in Theresienstadt wiedergefunden – 1949 nach Israel aus. Beim ersten Mal verließ er seine Geburtsstadt, weil ihn die Nationalsozialisten deportierten. Beim zweiten Mal vertrieb ihn die in der Nachkriegszeit anhaltende feindliche Haltung gegenüber den Opfern des NS-Regimes. Sie zeigte sich auch dort, wo er einst seine Heimat hatte: in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. ● ○