© Pamela Rußmann
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Kultur • Round Table

„Die Tschechen waren uns überlegen"


Vor gut 35 Jahren fiel der Eiserne Vorhang. Wie haben sich die kulturellen Beziehungen zwischen Niederösterreich und seinen Nachbarländern seither entwickelt? Darüber sprach morgen mit der Autorin Susanne Gregor, dem Festivalmacher Thomas Samhaber sowie der Zeithistorikerin Andrea Brait.

Frau Brait, Frau Gregor, Herr Samhaber, wie ist es aus Ihrer Sicht derzeit um die Nachbarschaft zwischen Österreich und Tschechien sowie der Slowakei bestellt?

Andrea Brait

:

Es gab lang eine Grenze, die man nicht passieren konnte. Dadurch sind Austausch und Kontakte natürlich verloren gegangen. Das war eine sehr lange Zeit, es lagen zwei Generationen dazwischen. Man konnte nach 1989 kaum mehr auf die Kontakte von vor 1938 zurückgreifen. Auf der tschechoslowakischen Seite hatten Umsiedlungen stattgefunden, da wohnten nun andere Menschen.

Thomas Samhaber

:

Bei uns in Gmünd war die Nachbarschaft immer da und musste erst mühsam ausgetrieben werden. Die Menschen neigen in ihren Bedürfnissen zu einem guten Auskommen miteinander. Im Nationalsozialismus sollte der Nachbar plötzlich ein Fremder sein. Das muss man einlernen. Deutsche Nazis sind 1938/39 mit Lederhosen und Volksgut beladen in südböhmische Dörfer gekommen, wo Deutsche gewohnt haben, um ihnen sozusagen echtes deutsches Volkslied und Kulturgut zu präsentieren. Das ist zunächst jämmerlich gescheitert, weil die Tschechen auch mitgetanzt haben. Aber dann wurde die Nachbarschaft sukzessive abgebaut. Sie ist bis jetzt noch nicht wieder ganz hergestellt. In Kunst und Sport funktioniert sie am besten.

Susanne Gregor

:

Ich bin mir nicht sicher, ob es in der Kunst wirklich so viel Austausch gibt. Im Sport absolut. In der Kunst ist eher eine grundsätzliche Offenheit zu finden, aber nicht viel Zusammenarbeit. Auch nicht wahnsinnig viel Interesse. Weder ist hier die slowakische Kunst irgendwie bekannt noch die österreichische in der Slowakei. Ich habe sechs Bücher geschrieben. Letztes Jahr ist zum ersten Mal eines auf Slowakisch erschienen. Österreichische Literatur wird de facto null übersetzt. Das Interesse an Deutschland ist viel größer als am unmittelbaren Nachbarland.

Brait

:

Aber es gab sowohl in Niederösterreich als auch in Oberösterreich große und grenzüberschreitende Landesausstellungen. Diese wurden von vielen Menschen besucht und haben in beiden Fällen dazu eingeladen, sich mit den Veränderungen und der Situation an der Grenze auseinanderzusetzen.

Samhaber

:

Die grenzüberschreitende Niederösterreichische Landesausstellung kam 2009. Schon lange vorher, 1993, zeigten meine Frau und ich erstmals eine grenzüberschreitende Ausstellung. Wir hatten damals das Gefühl, andere würden folgen, es gehe jetzt richtig los. Aber zunächst passierte sehr wenig.

Frau Gregor, Sie sind Jahrgang 1981. Was waren Ihre Eindrücke, als Sie 1990 nach Oberösterreich kamen?

Gregor

:

Ich war die Susanne aus der Slowakei, aber man nannte mich in der Volksschule immer Sabine aus Tschechien. Die Gleichgültigkeit, die man mir entgegenbrachte, war mir unbegreiflich. Wir waren zuvor in der Slowakei so dermaßen isoliert. Wäre jemand aus einem anderen Land zu uns in die Klasse gekommen, hätten wir den vor Interesse aufgefressen. Erst im Gymnasium, mit einem anderen Bildungsniveau, sagten die Leute: „Cool, dass du von woanders bist. Sag mal was auf Slowakisch.“ Beim Ankommen im Dorf war es jedoch völlig egal. Ich hätte genauso aus der Türkei oder aus Indien kommen können.

Samhaber

:

In den ersten Jahren nach der Grenzöffnung war Jörg Haider mit seinem Ausländervolksbegehren stark präsent. Die tschechischen Nachbarn wurden in der Grenzregion zu Ersatzausländern. Einer der ersten Sätze, die man im Waldviertel auf Tschechisch lesen konnte, lautete: „Jeder Ladendiebstahl führt zur Anzeige.“ Am Arbeitsamt stand ein Hinweis, dass es für Tschechen keine Arbeit gibt. Man hat sie jahrzehntelang extrem unterschätzt. Dabei waren sie vom Bildungsniveau uns Waldviertlern überlegen. Sie rückten erst näher, als ausländischere Ausländer aus Syrien, dem Iran und dem Irak gekommen sind.

Brait

:

Ich habe Medienberichte ab Anfang 1989 untersucht. Im Herbst 1989 gab es eine Welle der Euphorie. Überall, wo die Grenzen geöffnet wurden, waren viele Menschen da. Man hat sich sehr für das Nachbarland interessiert. Das war zwar nie ausgeglichen, denn es kam immer mehr von der tschechoslowakischen Seite als von der österreichischen. Nichtsdestotrotz fuhren die Leute an einem Wochentag in der Früh zum Bahnhof, um dabei zu sein, wenn der erste Zug über die Grenze kommt. Doch innerhalb weniger Monate ist in den Medien mehr über Ladendiebstähle und schlecht ausgestattete Autos, die Unfälle verursachen, berichtet worden. Das ist sehr schnell gekippt.

Samhaber

:

Die Euphorie erreichte auch nicht die ganze Bevölkerung. Bei Schulworkshops in den 2000er-Jahren habe ich gefragt, wer schon „drüben“ war. Und in Hollabrunn, 20 Kilometer von der Grenze entfernt, kannten 50 Prozent die Nachbarregion überhaupt nicht. Auch mehr als zehn Jahre später waren es immer noch 20 Prozent.

Brait

:

Der österreichische Blick ist, das zeigen Umfragen gut, immer etwas skeptischer. Und weniger offen gegenüber Nachbarstaaten als umgekehrt.

Samhaber

:

Auf der anderen Seite erwartete man sich vom österreichischen Nachbarn mehr. Über den ORF war man in der Grenzregion sehr gut informiert. Aber wenn man im Fernsehen Österreich gesehen hat, war das Wien und nicht der – vergleichsweise arme – Rand. Viele Waldviertler wollten über der Grenze primär billig einkaufen. Ein Museumsdirektor aus Znaim hat alles zweisprachig angeschrieben, weil er sich so auf die Österreicher gefreut hat. Die sind auch gekommen, aber nicht zu ihm. Jeden Tag sah er vom Fenster aus, wie sie mit vollen Einkaufssäcken an seinem Museum vorbeigegangen sind.

Man muss immer einen Anlass schaffen.

Herr Samhaber, Sie veranstalten das grenzüberschreitende Festival Übergänge – Přechody. Wie läuft das?

Samhaber

:

Wir haben 40 Veranstaltungen in vier Tagen an zehn verschiedenen Schauplätzen, vom Bahnhof bis zu Kirchen. Wir schicken die Leute mit einem Shuttlebus so lange herum, bis sie nicht mehr wissen, ob sie jetzt da oder drüben sind. Diese Frage wird obsolet. Wir brechen sozusagen mit Kunst und Kultur in den Alltag der Menschen ein. Dann hat man ein Tanztheater aus Dresden oder ein Figurentheater aus Polen. Manchmal befürchtet man als Veranstalter, dass die Leute scharenweise wieder weggehen. Aber sie bleiben da und schauen sich modernes Ballett an, wie es wahrscheinlich 90 Prozent von ihnen zum ersten Mal sehen. Die Leute wissen mittlerweile: Bei uns braucht es keine bekannten Namen, es passiert immer etwas Spannendes.

Wie hat sich eigentlich der EU-Beitritt von Tschechien und der Slowakei 2004 aus Ihrer Sicht konkret ausgewirkt?

Samhaber

:

Eine richtige Veränderung brachte erst die Schengen-Öffnung Ende 2007. Man konnte an jeder Stelle über die grüne Wiese auf die andere Seite der Grenze gehen. Das war 2004 noch nicht möglich. Vier Jahre lang verlief in unserem Dorf mit 250 Einwohnern die Schengen-Grenze. Wir hatten 54 Dienstposten der Grenzgendarmerie, weil jeder Kilometer Schengen-Grenze zwei Zollwachebeamte brauchte. Es war eine etwas bizarre Situation.

Brait

:

Dass es seit der Schengen-Öffnung nicht mehr so kompliziert ist, die Grenze zu passieren, hat den Menschen, die täglich pendeln, ganz sicher etwas gebracht. Aber hat der EU-Beitritt selbst viel bewirkt? Ich bin mir nicht sicher.

Gregor

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In den Köpfen der Menschen nicht wirklich. Wobei: Aus slowakischer Sicht war es unglaublich schön und bedeutungsvoll, dass man auf einmal unbehelligt durchfahren konnte. Wir hatten an der Grenze früher immer Probleme, alles wurde durchsucht. Es war auch immer irgendwas im Kofferraum, das da nicht sein hätte sollen. Einmal hatten wir einen Hamster mit.

Der Fall des Eisernen Vorhangs war auch mit einer Wiederentdeckung Mitteleuropas verbunden. Warum sind Vorstellungen von Westen und Osten bis heute so fest verankert?

Brait

:

Österreichs „Rückkehr in die Mitte Europas“ wurde damals von der Politik sehr propagiert. Der ÖVP-Politiker Erhard Busek sprach von „Mitteleuropa“. Das waren starke politische Slogans und Absichtserklärungen, die aber in letzter Konsequenz nicht mit Leben erfüllt wurden.

Samhaber

:

Wir gaben unserem Verein zunächst den blöden, typisch westeuropäischen Untertitel „Kulturverein zur Verständigung am Schnittpunkt zwischen Ost- und Westeuropa“. Unsere tschechischen Partner haben gesagt: „Das wollen wir nicht abgedruckt haben. Wir sind nicht Osteuropa.“

Gregor

:

Ich glaube, diese Kategorien Ost und West gehen im Denken der Leute nie wieder weg.

Brait

:

Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Millennials, die die den Eisernen Vorhang nie live erlebt haben, nie im Stau gestanden sind und nur offene Grenzen kennen, das anders sehen. Es ist wahrscheinlich eine Generationenfrage.

Die politische Entwicklung ist derzeit fast allerorts besorgniserregend. Was bedeutet das für die nachbarschaftlichen Beziehungen?

Brait

:

Beim Wiedererrichten von Grenzen habe ich als Historikerin das Gefühl, im falschen Film zu sein. Manche wünschen sich wirklich den Eisernen Vorhang zurück. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite kann man hoffen, dass die aktuellen geopolitischen Entwicklungen im Idealfall zu einem stärkeren Zusammenhalt in Europa führen.

Gregor

:

Ich sehe das genauso. In der Slowakei hört man auf den Demonstrationen gegen Ministerpräsident Fico immer wieder den Ruf: „Wir sind Europa! Wir sind Europa!“ Ich glaube, das realisiert man jetzt erst richtig. Das rückt uns näher zusammen.

Samhaber

:

Damit sind wir wieder beim Thema Nachbarschaft. Die Nachbarschaft, die wir uns über 36 Jahre zurück­erarbeitet haben, ist schon stark genug, dass das Ziehen oder Verstärken von Grenzen lokal auf Widerstand stößt. Manch einer sagt: „Wieso sperrt ihr zu? Ich muss da rüber, da ist meine Friseurin.“ Da ist Europa kein intellektuelles Konstrukt mehr, sondern wird erlebt.

Ihr Festival findet im nächsten Jahr wieder statt. Haben Sie schon Ideen?

Samhaber

:

Beim Herfahren habe ich mir gedacht, ich sollte eine tschechische Brauerei als Sponsor auftreiben. Dann machen wir einen Bierausschank, an dem es Freibier gibt – allerdings nur, wenn eine Person aus Tschechien und eine aus Österreich gemeinsam ein Bier trinken.

Gregor

:

So was verbindet. Meine Schwester hat einen Oberösterreicher geheiratet. Die Hochzeitsfeier fand in der Slowakei statt. Seine Familie ist mit einem großen Bus angereist. 100 Slowaken, 100 Österreicher: Es war so schön. Die Österreicher fanden es einen tollen Ausflug, sie haben sich sehr für alles interessiert und wahnsinnig betrunken. Alle sind mit tollen Eindrücken nach Hause gefahren. So etwas funktioniert gut, nur leider nicht von allein. Man muss immer einen Anlass zur Begegnung schaffen. ● ○

Der österreichische Blick ist immer etwas skeptischer.