Abtauchen ins Theater: Teater Štrik, Theater auf Rädern, „Sub Aqua, Sub Aqua. Eine Reise von Mensch zu Fisch“, Hin & Weg 2024
Abtauchen ins Theater: Teater Štrik, Theater auf Rädern, „Sub Aqua, Sub Aqua. Eine Reise von Mensch zu Fisch“, Hin & Weg 2024

Ortsbesuch Litschau

Höhenflüge im Blechtank


Das Theaterfestival Hin & Weg lockt sein Publikum in Lagerhallen, ehemalige Kaufhäuser und in den Wald. Jeden August stellen urbane Kunstschaffende und die Litschauer Bevölkerung ein einzigartiges Event auf die Beine – und zeigen, wie Kunst einem Ort ganz nah kommen kann.

Zur Mittagszeit des 11. August 2024 ließ sich die Sonne nicht besonders davon beeindrucken, dass Litschau die nördlichste Stadt Österreichs ist. Bei 30 Grad im Schatten streiften schwitzende Theaterfans, auf der Suche nach einer Location mit der Bezeichnung „Bahnhof/Lagerhaus“, durch den Ort. Erst beim Anblick eines grasgrünen Blechtanks, vor dem Personen mit Scannern warteten, wurde klar: Exakt hier, auf dieser Gstettn, würde gleich das Stück „Der Mann der im Brunnen saß und da lag und da lag“ (genau, ohne Interpunktionen) der Südtiroler Autorin Miriam Unterthiner aufgeführt. Gegen die Hitze konnten die Gäste Schirme ausleihen, die freilich jenen auf den hinteren Rängen die Sicht raubten. Doch man wusste sich zu arrangieren, die Aufführung konnte starten. Unbeeindruckt von der Geschichte, die sich in und um den Tank entfaltete, summten währenddessen Bienen im Gras, gab ein Traktor auf der Straße seine Kommentare ab.

Theater statt Tennis

Der improvisierte Spielort, die pragmatische Reaktion auf Unvorhergesehenes, die Umgebungsgeräusche – genau das macht das Litschauer Theaterfestival Hin & Weg aus. Seit 2018 verzaubert es jeden Sommer ein wachsendes Publikum. Theaterleute, Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie zahllose Ehrenamtliche arbeiten an Aufführungen, Lesungen, Diskussionsrunden, Workshops und gemeinsamen Spaziergängen. Die Bühnen sind in Lagerhallen, aufgelassenen Kaufhäusern, Bäckereien und Tankstellen, Gärten, ehemaligen Schlachtereien. Manchmal werden Gäste in Privathäuser oder in den Wald gelotst, aber auch in das vergleichsweise konventionelle Herrenseetheater und das Theater Moment. So schreibt sich die Bühnenkunst direkt in den Ort ein – auf einmalige Art. Zumindest Zeno Stanek, der das Festival gemeinsam mit Schauspielerin Katharina Stemberger und Musikerin Sigrid Horn leitet, ist nichts Vergleichbares bekannt.

Als Stanek, in Wien aufgewachsen, in den 1990er-Jahren Litschau für sich entdeckte, studierte er gerade Regie am Max-Reinhardt-Seminar. Mit seinen Kolleginnen und Kollegen suchte er damals einen Spielort, wie er im Dorfwirt erzählt. Das Restaurant liegt mitten im Theater- und Feriendorf Königsleitn, das gewissermaßen aus den Litschauer Kulturfestivals – neben dem Hin & Weg gibt es schon seit 2007 das Schrammelklang-Festival – herauswuchs. Zudem schaffte es Stanek, eine einstige Tennishalle zur Veranstaltungslocation Moment umbauen zu lassen, die am Dachboden einen unerschöpflichen Theaterfundus mit Kostümen, Masken, Perücken, Accessoires und Bühnenobjekten beherbergt.

Litschau ist offensichtlich magisch-kreativ aufgeladen.

Mit offenen Armen

Im Vorjahr besuchten 6.500 Personen, die teils weite Anreisen in Kauf nahmen, das Hin & Weg; die Quartiere im Ort werden jedes Jahr schon Monate zuvor knapp. Und die Menschen in Litschau? „Als wir uns an die Stadt herantasteten“, erinnert sich Stanek, „zogen wir von Geschäft zu Geschäft und fragten, ob uns die Leute etwas geben wollten, das sie nicht mehr benötigten. Alle schenkten uns was! Der Bäcker versorgte uns mit Semmeln und Brot, der Fleischhauer mit Wurstresten.“ Schon damals empfing die Stadt die Theaterleute mit offenen Armen.

Diese Einstellung hat sich gehalten, wenn nicht verstärkt: Ohne freiwillige Helferinnen und Helfer würden hier keine Stühle aufgestellt, kein Wein in der Bar ausgeschenkt, keine Tickets ausgestellt und kontrolliert – und auch die stets sofort ausgebuchten Küchenlesungen blieben im Reich der Fantasie. Eine der vielen Ehrenamtlichen heißt Gerlinde Kainz. Die Pensionistin koordiniert die Ticketkontrolle. Beim Interview beim Dorfwirt zeigt sie lange Listen und Zeitpläne. Jede Saison startet sie mit einem Telefonmarathon, ruft 50 Personen durch. Sobald Orte und Termine der Vorstellungen stehen, teilt sie das Team ein. „Wenn man das ein paar Jahre macht, entsteht eine tolle Gemeinschaft“, sagt sie. Was motiviert sie und die anderen Ehrenamtlichen? „Die Gemeinschaft, das gute Klima! Wir schauen uns außerdem gerne selbst Vorstellungen an. Und man kann ein Stück als einzelne Person besuchen, ohne sich blöd vorzukommen – üblicherweise geht man ja zu zweit zu Veranstaltungen.“

Wie nahe das Theater in den Ort hineinragt, konnte Stanek im Laufe der Zeit beobachten. „Die Litschauerinnen und Litschauer denken nicht mehr, dass die Theaterleute lauter Verrückte sind, die nichts hackeln und sich nur eine Gaudi machen. Sondern sie wissen, dass Schauspieler und Theatermacherinnen normale Berufe ausüben.“ Die Nähe: Das ist es auch, was Künstlerinnen und Künstler an Litschau schätzen. Schauspielerin und Puppenspielerin Manuela Linshalm – sie ist Ensemble­mitglied des Wiener Schubert Theaters – gastierte schon häufig beim Hin & Weg und ist auch für 2025 wieder gebucht, mit dem Stück „Der schlafende Wal – ein Stück ohne Bruckner“ (Regie: Simon Meusburger). „Für mich hat das Hin & Weg einen besonderen Spirit“, sagt sie. „Litschau ist offensichtlich magisch-kreativ aufgeladen. Das entsteht durch die Mischung aus den Gästen und dem Ort selbst.“

Berührend: Andrea Eckert in „Rose“, Inszenierung: Ruth Brauer-Kvam, 2024

© Josef Polleross
© Josef Polleross

Blind Date

Am engsten zueinander finden die Menschen bei den Küchenlesungen: Da kredenzen Einheimische bei sich zu Hause zu Lesungen ein Mittagessen. Petra Holbach, der man die geborene Gastgeberin gleich anmerkt, bewirtet jedes Jahr wildfremde Menschen in ihrem Vierkanter, den sie und ihr Mann zu einem wunderschönen Refugium umgebaut haben. „Es ist wie ein Blind Date, denn zunächst sind mir die Gäste ja fremd“, erzählt sie bei einem Kaffee in ihrem Wohnzimmer. Die Küchenlesungen startet sie mit einem Aperitif, den weiteren Ablauf bestimmen die jeweils Lesenden. „Oft bleiben Gäste bis zum Abend. Mit dem Schauspieler Christian Strasser saßen wir bis acht Uhr zusammen, haben diskutiert und gelacht.“

Stars in der Küche

Stars wie Karl Ferdinand Kratzl und Maria Hofstätter lasen schon in Holbachs Gartenküche. Für ihre dreigängigen Menüs verwendet sie vorrangig regionale Zutaten: „Rindfleisch vom örtlichen Fleischhauer, Wild und Fisch aus Litschau, Gemüse aus meinem Garten.“ Die Rezepte sind oft von ihren Reisen inspiriert, etwa von der karibischen Küche. Wie beim Festival selbst überschneiden sich in Petra Holbachs Menüs das Nahe und das Ferne. Auch die Theaterleute schätzen den Ort: In Litschau entstehen eigene Dynamiken. Zeno Stanek: „Wenn man hier probt, ist es drei-, viermal intensiver als in der Stadt, wo man nach den Proben heimfährt und sich jedes Mal neu aufeinander einschwingen muss. Hier kann man danach noch so viel bereden.“ So entstünden „kreative Höhenflüge“. Manuela Linshalm, die in Litschau auch Puppenspiel-Workshops gibt, führte bereits dreimal mit Kollegen vom Schubert Theater den „Spaziergang für die Figur“ auf, bei dem sie ihr Publikum mit Klappmaulpuppen durch die Gegend begleiten. Sie erzählt: „Ich kam in Litschau schon oft in Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen, die ich zuvor wahrgenommen, aber nicht persönlich gekannt habe.“ So entstanden neue künstlerische Kollaborationen und Freundschaften. Für sie ist Litschau „ein eigener Kosmos, eine Theaterinsel. Die Begegnungen sind wie unter einem Brennglas, konzentriert und ruhig“. Davon profitiert auch das Publikum. Nicht jedes Stück trifft jeden Geschmack – das liegt in der Natur eines vielschichtigen Festivals. Was aber bleibt, ist die außergewöhnliche Atmosphäre, das Gesamterlebnis und der Mut zur künstlerischen Vielfalt. Ein Highlight der vergangenen Jahre war „Rose“: In der Regie von Ruth Brauer-Kvam spielte Andrea Eckert eine Holocaust-Überlebende, deren Enkel in Israel zum Mörder eines Palästinensers wird. Ein anderer Höhepunkt hieß „Heldenplätze“, mit dem Regisseur Calle Fuhr und Schauspielerin Gerti Drassl die Verklärung der Ski­legende Toni Sailer aufgriffen. Auch die szenische Lesung „Ameisen“ in einer Lagerhalle nach einem Text von Wolfram Lotz, eingerichtet von Anna Marboe, blieb nachhaltig in Erinnerung. Dass das Theaterfestival Hin & Weg bei der Auswahl seiner Ensembles schon immer die Nase vorne hatte, beweisen nicht nur Karrieren wie die von Anna Marboe, sondern auch die des Schauspielers Felix Kammerer: Er performte hier schon lange bevor der Film „Im Westen nichts Neues“ mit ihm in der Hauptrolle bei den Oscars abräumte.

Wenn die Lagerhalle zur Bühne wird: „Heimat bist du rechter Söhne“, Institut für Medien, Politik und Theater, 2024

© Stephan Mussil
© Stephan Mussil

Ausharren in der Finsternis

Manche Stücke gehen direkt auf den Ort ein. Die Litschauerin Gerlinde Kainz erinnert sich besonders an „Zwei Stunden“, 2019 umgesetzt von Tobias Schilling und dem Ensemble Distract, eine immersive Inszenierung, welche die Vertreibung der Waldviertler Sudetendeutschen reflektierte. „Es begann in der Garage des Roten Kreuzes. Diese wurde geschlossen“, erinnert sich Kainz. „Dann wurden wir informiert, dass wir uns abmelden müssten, wenn wir die Gruppe verlassen. Zwei, drei Minuten war es finster. Die Leute wussten nicht, was los war. Manche haben diese Dunkelheit und Ungewissheit nicht ausgehalten.“ Das Ausharren in der Finsternis brannte sich ihr nachdrücklich ein.

Auch die „Chronik der nördlichsten Stadt“ des Ensembles Kollektief (siehe dazu auch das Porträt auf den folgenden Seiten) fand bei den Einheimischen großen Anklang. Viele von ihnen identifizieren sich in hohem Ausmaß mit den Kulturveranstaltungen. „Wenn jemand sagt, ‚Ah, du kommst aus Litschau, da ist ja das Hin & Weg‘, dann ist das schon cool“, sagt Kainz. Petra Holbach, die Küchenlesungs-Gastgeberin, meint: „Wenn etwas los ist, steigt der Wert der Region. Sie lebt auch von Festivals wie dem Hin & Weg. Bäcker, Fleischhauer und Gastronomie profitieren.“ Umgekehrt schätzen auch die angereisten Künstlerinnen und Künstler das Publikum. Manuela Linshalm etwa nimmt es als „außergewöhnlich kontaktfreudig und offen, sehr aktiv“ wahr. Wenn Lagerhaus-Mitarbeiter mit jungen, experimentierfreudigen Regisseurinnen ins Gespräch kommen, dann entstehen Begegnungen, die sonst kaum stattfinden.

Wenn etwas los ist, steigt der Wert der Region.

Die Kontaktfreude der Festivalgäste zeigt sich auch abends, bei den (öffentlichen) Gesprächen am Feuerkorb und den (nicht ganz so öffentlichen) an der Weinbar. Dort plaudern dann Wiener Kunstbobos mit pensionierten Litschauern, die vom Leben am Land erzählen.

An dem heißen Augusttag im Jahr 2024 tanzten zu später Stunde junge Theaterleute zu Musik, die aus dem Handy krachte. Der Uhrzeiger marschierte viel zu schnell gegen zwei, das Thermometer zeigte 14 Grad. Über Litschau spannten sich nun nicht mehr die Sonnenschirme, sondern ein atemberaubender Sternenhimmel: eine Kulisse, wie sie nur die Natur schaffen kann. ● ○