Selbsterfahrung: „[EOL]. End of Life“ des Duos Darum, eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2025
Selbsterfahrung: „[EOL]. End of Life“ des Duos Darum, eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2025

Immersives Theater

Hautnah an der Toleranzschwelle


Immersion lautet ein neuer Trend im Theater: Aus einem passiven Publikum werden Mitspielende, die keine Angst davor haben, direkt eingebunden zu werden – sei es in virtuellen Welten oder in ungewöhnlichen Rauminstallationen. Woher kommt die neue Lust auf die hautnahe Kunsterfahrung?

Mitspieltheater? Vor nicht allzu langer Zeit löste dieses Wort mehr Schrecken als Begeisterung aus. Publikum und Bühne waren, zumindest im klassischen Stadttheater, strikt getrennt, die imaginäre vierte Wand zog eine sichere Grenze. Wie abschreckend es sein konnte, wenn sich Schauspielende nicht daran hielten, davon erzählt ein Theaterskandal, der als „Spiralblockaffäre“ in die Geschichte eingehen sollte.

Der Schauspieler Thomas Lawinky entriss Gerhard Stadelmaier, dem strengen Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, während einer Vorstellung am Schauspiel Frankfurt 2006 den Notizblock und tat, als würde er daraus vorlesen. Stadelmaier verließ daraufhin erbost den Saal – und rächte sich mit einem bitterbösen Text in der Zeitung („Angriff auf einen Kritiker“). Wehleidig gab er zu Protokoll, sich noch nie in seinem über dreißigjährigen Kritikerleben so „beschmutzt, erniedrigt, beleidigt“ gefühlt zu haben. Jahre später meinte er noch, es sei gewesen, als ob jemand in seine Wohnung eingebrochen wäre. „Ich bin nicht im Theater, um mitzuspielen. Ich muss auch nicht den Mundgeruch der Schauspieler haben“, so Stadelmaier in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2010.

Sind wir mittlerweile entspannter? Aus der historischen Distanz entlockt uns dieser Skandal ein müdes Schmunzeln. Er wirkt wie eine absurde Anekdote aus einem fernen Jahrzehnt, in dem sich (männliche) Kritiker wie Götter fühlten. Wehe, es war jemand verwegen genug, sich über ihre Autorität lustig zu machen. Inzwischen haben die sozialen Medien diese Einbahnstraße gelockert: Wer öffentlich Kritik übt, muss auch selbst kritisierbar sein. Journalistinnen und Journalisten sind Widerrede gewohnt, sie fühlen sich nicht mehr unfehlbar, sondern als Teil eines öffentlichen Diskurses.

Wir wollen spannende Räume erfahrbar machen.

Experten des Alltags

Aber auch das Theater ist kein bildungsbürgerlicher Frontalunterricht mehr. Das Publikum hat sich an performative und offene Formate gewöhnt. Wir nehmen Theater immer mehr als Erfahrungsraum wahr. Mitwirken hat nichts Abschreckendes mehr, im Gegenteil: Es scheint eine neue Lust daran zu geben; auf Tiktok spielt man ja auch selbst die Hauptrolle. Warum sollte gerade ein jüngeres Publikum im Theater ruhig sitzen bleiben? Nach der Pandemie haben wir wiederentdeckt, was wir schmerzlich vermisst haben: Kunst bringt die Menschen zusammen. Theater ist live, alles ist möglich, alles entsteht und vergeht im Moment.

An neue Theaterformen haben wir uns schnell gewöhnt. Wir laufen mit Kopfhörern durch die Gegend, um die Umwelt als Kunstwerk zu erleben. Was ist echt, was künstlerisch manipuliert? Das deutsche Kollektiv Rimini Protokoll brachte nicht nur „Experten des Alltags“, also Menschen wie dich und mich, auf die Bühne, sondern erweiterte auch unsere Wahrnehmung mittels Audiowalks. Plötzlich kann selbst ein Spaziergang im Park eine Inszenierung sein. Schon bei den Aktionen des 2010 verstorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief war das Grundprinzip Teilhabe – auch, um die eigenen, festgefahrenen Haltungen zu hinterfragen. Am radikalsten setzte er das 2000 mit seinem „Ausländer raus!“-Container vor der Wiener Staatsoper um. Einige schimpften lautstark, andere ließen sich in intensive Gespräche verwickeln. Einmal wurde der Container sogar von Protestierenden gestürmt. Schlingensief verstand es, Emotionen zu erzeugen. Niemanden ließ kalt, was er machte. Alle wurden Teil seiner Inszenierungen im öffentlichen Raum, ob sie wollten oder nicht.

Mittlerweile ersetzt der Begriff des immersiven Theaters den Terminus Mitspieltheater. Er leitet sich vom lateinischen „immersio“ ab, einem Wort, das den Prozess des Eintauchens ebenso wie den Zustand des Eingetauchtseins beschreibt. In den Medienwissenschaften kommt diese Zuschreibung in Bezug auf Computerspiele und virtuelle Realitäten vor. Ein innovatives Beispiel dafür ist das heimische Regieduo Darum, das mit seiner jüngsten Arbeit „[EOL]. End of Life“ heuer zum renommierten Berliner Theatertreffen eingeladen wurde.

Prinzip Teilhabe: Theatergruppe Kollektief: „Chronik der nördlichsten Stadt“, Litschau 2024

© Karl Satzinger
© Karl Satzinger

Galaxienweit gereist

Mittels VR-Brille wandelten da die Gäste durch eine digitale Ruinenlandschaft – und sollten entscheiden, welche Welten endgültig gelöscht werden. Ganz allein in einem virtuellen Setting, das ständig zum Handeln zwingt. 9,6 Quadratmeter groß war die Fläche, die man im realen Theaterraum einnahm – und doch fühlte es sich an, als wäre man galaxienweit gereist. „Ist das noch oder schon Theater?“, fragte die Theatertreffen-Jury irritiert in einem Statement. Wahrscheinlich handelt es sich um eine hybride neue Form, die Digitalität, Liveerlebnis und interaktives Spiel spannend zusammendenkt.

In den vergangenen 25 Jahren wurden Theaterräume oft zu begehbaren Installationen. Am radikalsten vertritt das dänischen Performance-Kollektiv Signa, gegründet von dem Ehepaar Signa und Arthur Köstler, diesen Hyperrealismus. Es wirft sein Publikum in verstörende Settings, in denen sich dieses selbst zurechtfinden muss. Körperkontakt mit den Akteurinnen und Akteuren inklusive. In „Wir Hunde / Us Dogs“, das in Koproduktion mit den Wiener Festwochen und dem Volkstheater auf der Probebühne des Volkstheaters Wien 2016 uraufgeführt wurde, ging man auf Tuchfühlung mit einer Sekte, die ihrem Traum folgte, als Hunde zu leben. Die seltsame Gesellschaft bewohnte ein mehrstöckiges Haus, in dem das Publikum in undurchschaubare Rituale verwickelt wurde.

Extremsituation

Heuer sind Signa erneut bei den Wiener Festwochen zu Gast: „Das letzte Jahr“ ist eine – bereits ausverkaufte – sechsstündige Reise durch ein Pflegeheim bis hin zum eigenen Tod. Schon die Hinweise auf der Festwochen-Homepage deuten an, wie sehr man sich auf diese Extremsituation einlassen muss: Sogar die eigene Kleidung wird zu Beginn abgelegt, man bekommt eine Krankenhauskluft angezogen.

Wie süchtig diese einbindende Form von Theater machen kann, zeigt sich regelmäßig bei Produktionen der 2011 gegründeten heimischen Gruppe Nesterval: Binnen Minuten sind die Tickets ausverkauft, weil die Fangemeinde riesig ist. Über 25 Produktionen sind bisher entstanden – von zuletzt einer immersiven Neudeutung von Wagners „Götterdämmerung“ in der Staatsopern-Nebenspielstätte Nest über die „Namenlosen“, einen Stationenabend über die Verfolgung und Ermordung von Homosexuellen sowie Transgender-Personen in der NS-Zeit bis zu schrägen Zusammenschnitten wie „Dirty Faust. The Time of Their Life – and Death“. Goethes Klassiker traf da auf den Kultfilm „Dirty Dancing“, das Publikum folgte den Akteurinnen und Akteuren durch unterschiedliche Settings.

Trotz dieser neuen Offenheit der Teilnehmenden spielen immersive Inszenierungen an einer heiklen Grenze. Ist es noch Konsens? Oder schon ein Übergriff? Wir sind sensibler geworden, wenn wir zu etwas gezwungen werden, was wir nicht wollen. Wir achten mehr darauf, was sich richtig anfühlt – und was nicht. Nicht jeder möchte von Nackten berührt werden, die Hunde spielen. Es bleibt also spannend, ob experimentelle Gruppen feinfühlig genug sind, auf ihr Publikum zu reagieren, ohne es zu überfordern. Immersives Theater ist stets eine Gratwanderung. Als Zuschauerin lernt man, eigene Toleranzschwellen abzustecken.

Reise durchs Pflegeheim: „Das letzte Jahr“ von Signa

© Lorenz Vetter
© Lorenz Vetter

Naturkulisse Herrensee

An manchen Orten fällt es freilich leichter, Grenzen aufzuheben. Festivals haben diesbezüglich einen Standortvorteil. Beim Hin & Weg in Litschau, malerisch im Waldviertel gelegen, wirkt schon die Naturkulisse des Herrensees wie ein perfektes Bühnenbild: Geht man schwimmen oder ist man schon Teil der Gesamtinszenierung dieses Ortes? Alles ist theatralisch und entspannt zu gleich. Festivalgründer Zeno Stanek und sein Team haben viel Erfahrung darin, ihr Publikum zu Abenteuern zu motivieren. Sie bespielen leerstehende Gebäude und im Grunde die ganze Stadt. „Es gibt diese spannenden Räume, die wir erfahrbar machen wollen. Es geht uns nicht darum, eine künstliche Bühne hineinzubauen“, sagt Anatina Riester, die Produktionsleiterin des Festivals.

Überraschungseffekte

Bereits 2020 sorgte die Theatergruppe Kollektief mit einer Performance für Aufsehen, die perfekt zur Pandemie passte (siehe auch Porträt auf Seite 32). In „Bitte nicht berühren“ isolierten sich Akteure und Akteurinnen für zwei Wochen in fünf Wohncontainern mit Glasfronten, das Publikum konnte über ein Briefkastensystem Kontakt aufnehmen. Diesen Sommer geht Hin & Weg noch einen Schritt weiter: „Kathedralen der Demokratie“ lautet das Motto des Festivals. „Demokratie lebt von Teilhabe und Mitmachen. Deshalb bieten sich immersive Formate automatisch an“, sagt Riester. Stücke wie „Der Staat“ des bulgarischen Autors Alexander Manuiloff oder „Das Ereignis“ von Azzi Finder und Veronika Guschlbauer-Male wollen das Publikum aktivieren. Es wird eine Brandrede für Demokratie und einen Protestchor geben, aber auch Briefe, mit denen das Publikum agieren kann. Wie das alles genau ablaufen wird, darüber möchte man noch nichts erzählen. „Wie immer geht es uns auch um den Überraschungseffekt“, betont Riester.

Ein Format aber steht schon fest, für das man sich aktiv bewerben kann: Wer in „Herold Hearing“ mitwirken möchte, der sollte nicht schüchtern sein. „Es ist eine Art Casting-Aufruf fürs Publikum übers Publikum“, sagt Riester. So kommt man unkompliziert ins Gespräch. Und genießt einen geselligen Abend im schönsten Naturbühnenbild von ganz Österreich. Alles nur Spiel – und trotzdem echt. ● ○