Neighbourhood- Feeling: „Auenweide“,  St. Andrä-Wördern,  nach einer Planung des Büros Einszueins © Hertha Hurnaus
Neighbourhood- Feeling: „Auenweide“, St. Andrä-Wördern, nach einer Planung des Büros Einszueins © Hertha Hurnaus

Gesellschaft • Architektur

Die neue Wirklichkeit


Droht gelebte Nachbarschaft zwischen Pendlerdasein und dem Rückzug in virtuelle Welten zu verschwinden? Nicht unbedingt – aber sie sucht neue Formen. Gemeinschaftliche Konzepte wie die der Architekturbüros Nonconform, Einszueins oder W30 treten sozialer Isolation entgegen. Braucht es einen öffentlichen Platz oder reichen manchmal sogar ein Tisch und eine Bank?

Droht gelebte Nachbarschaft zwischen Pendlerdasein und dem Rückzug in virtuelle Welten zu verschwinden? Nicht unbedingt – aber sie sucht neue Formen. Gemeinschaftliche Konzepte wie die der Architekturbüros Nonconform, Einszueins oder W30 treten sozialer Isolation entgegen. Braucht es einen öffentlichen Platz oder reichen manchmal sogar ein Tisch und eine Bank?

„In der Nachbarschaft meiner Kindheit waren alle Türen unversperrt. Im Sommer standen sie sogar offen“, erinnert sich Heidrun Schlögl vom Architekturnetzwerk Orte. Man trat in die Kühle des Hauses und rief einen Gruß hinein. Man zog sich die Schuhe aus, hörte nach Stimmen oder Geräuschen und betrat schließlich die Küche oder eine Werkstatt, um etwas zu bringen oder jemanden zu besuchen. Die Türen waren offen, die Zäune nur hüfthoch, damit es sich grüßen ließe, wenn sich die Nachbarn und Nachbarinnen im Garten über ein Beet beugten oder die Einfahrt kehrten. Zäune waren Zeichen, mehr Begegnung als Barriere. Und im klassischen Bauerngarten schützten sie nicht vor den Nachbarn, sondern das Gemüse vor dem eigenen Getier. Diese Bilder scheinen endlos vergangen, verklärt, verträumt – und doch tragen sie Sehnsüchte und Muster eines Zusammenlebens in sich. Wenn aus räumlicher Nähe vertraute Nachbarschaft über zwei, drei Häuser oder auch ein ganzes Quartier hinweg entstehen soll, braucht es nicht nur Menschen, die diese leben, sondern auch bauliche Zutaten, die Raum und Atmosphäre dafür schaffen. Es erfordert Gespür und Augenmaß, um die Bedingungen dafür herzustellen.

Vertraute Nachbarschaft braucht bau­liche Zutaten.

Das offene Land

Der Begriff der Nachbarschaft hat sich in den letzten 50 Jahren enorm gewandelt. Bäuerliche Idyllen sind längst verschwunden. Die Mechanisierung der Landwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg reduzierte die Arbeitsplätze in diesem Segment von zehn auf drei Prozent, und mit den Strukturkrisen der 1980er-Jahre trieb der wirtschaftliche Niedergang ganzer Regionen die Menschen abermals in die Städte. Die Verdichtungen im Gravitationspunkt Wien erzeugten aber auch Gegenbewegungen. Eine bis heute zunehmende Suburbanisierung beeinflusste das Zusammenleben. Senioren und Seniorinnen zogen im Alter aus der Stadt, junge Familien bauten ihr Eigenheim am Land oder bezogen Wohnanlagen im Großraum Wien und pendelten zur Arbeit in die Stadt. Zugleich nutzten Aussteiger und Aussteigerinnen die Möglichkeiten des offenen Landes, die Landschaft und den Leerstand für sich. Niederösterreich wurde zum Raum für Ideen. Dies schlug sich in zahlreichen architektonischen Innovationen nieder. So entstand etwa in St. Andrä-Wördern 2014 der „Dorfplatz“, ein gemeinschaftliches Projekt mit Kunsthandwerksstätten, Ateliers, Co-Working-Space und Veranstaltungsräumen in einem ehemaligen Gestüt, dem Novotny­hof (siehe auch morgen 4/2020). Dort wurden Räume schrittweise saniert, ausgebaut, die Weiterentwicklung wurde gemeinsam geplant. Die Bausubstanz aus der Zeit um 1900 bot eine solide, großzügige Gebrauchsarchitektur mit historischem Charme für vielfältige Einbauten und Neunutzungen. Als vertrauter Teil des Ortsbilds wurde daraus für die Nutzer und Nutzerinnen sowie für die dörfliche Nachbarschaft rasch ein Bezugspunkt.

Neue Modelle für das Zusammenleben: B. R. O. T. in Pressbaum (Nonconform)

© Kurt Hörbst
© Kurt Hörbst

Schlichte Schönheit

Bestand zu sanieren und Dörfer wiederzubeleben, das war bis in die 1970er-Jahre ein exotischer Gedanke. Wie sehr Sanierungsprojekte auch heute mit durchaus urbanen Konzepten und neuen Formen von Nachbarschaft in Städten und Dörfern wirken können, zeigt das Beispiel der vom Architekturbüro W30 geplanten Stadtlofts in Zwettl. Ein lange leerstehendes Stadthaus unter Denkmalschutz aus dem 14. Jahrhundert wurde 2023 mit viel Liebe zu seiner Geschichte sensibel saniert. Mit handwerklich gut gemachten Details entstanden individuelle Apartments von schlichter Schönheit, die auch eine urbane und internationale Klientel für den Ort begeistern und neues Leben schaffen.

Architektur und Kunst schaffen Identifikation.

Emotionslose Massenware

Diese Initiativen sollen aber nicht über die breite Siedlungstätigkeit der Nachkriegszeit hinwegtäuschen. Geprägt – zumeist in stark simplifizierter Form – durch das modernistische Idealbild der funktionellen Maschine, wurden Lebensbereiche säuberlich getrennt: Wohnen, Arbeit, Erholung, Konsum, zusammengehalten durch viel Verkehr. Im Alltag ländlicher Siedlungspolitik wird bis heute auf diese Weise viel emotionslose Massenware erzeugt, deren Unwirtlichkeit wir latent spüren. Die Phänomene der „Schlafdörfer“ – Einfamilienhausteppiche ohne Mitte und Infrastruktur – sowie große Einkaufszentren auf der grünen Wiese und der daraus resultierende Verkehr erschweren soziale Nähe. Über eine Million Pendelfahrten täglich in und aus Niederösterreich, davon 65 Prozent mit dem Auto, tragen dazu bei. Gegen diesen Bauwirtschaftsfunktionalismus und ein ingenieurhaftes Menschenbild regte sich schon in den 1960er-Jahren deutliche Kritik. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich widmete der „Unwirtlichkeit der Städte“ 1965 ein ganzes Buch. Eine Nach-Moderne bemühte sich um Stadt- und Architekturkonzepte, die sich am Menschen orientierten, wie etwa im verdichteten Flachbau, in der Wertschätzung und Sanierung von Bestand sowie durch viele gemeinschaftliche Formen des Wohnbaus, die wieder so etwas wie Nachbarschaft und „Wirtlichkeit“ erzeugen.

So auch heute zu erleben in Baugemeinschaften, die aus individuellen Bedürfnissen nach Wohn- und Arbeitsraum Mehrwert in gemeinschaftlichen Flächen generieren. Ein moderierter Planungsprozess verdichtet den Austausch zu einem baureifen Projekt. Im kommerziellen Wohnbau kaum durchsetzbare Wünsche, wie etwa großzügigere Raumhöhen oder eine besondere ökologische Bauweise, können so umgesetzt werden. Herausragende Beispiele dafür sind Baugruppenprojekte wie B. R. O. T. in Pressbaum (Planung: Nonconform) oder die „Auen­weide“ in St. Andrä-Wördern (Einszueins). Letztere erhielt 2024 sogar den Bauherr:innenpreis der Zentralvereinigung der Architekt:innen Österreichs. In Pressbaum gruppierten sich 36 Wohneinheiten in sieben freistehenden Gebäuden um einen zentralen Anger. Mit einem Gemeinschaftshaus und in einer ideellen Verbundenheit entstand daraus ein kleines Dorf. Ähnlich die Anlage in St. Andrä: Eine Nachbarschaft mit gemeinsamen Interessen wuchs schon im Entstehungsprozess zusammen und stand trotzdem von Anfang an auch für das weitere Umfeld offen. Werkstätten, Veranstaltungsräume sowie gemeinschaftliche Freiflächen und Gärten bereicherten das Projekt und wurden zu lebendigen Begegnungsorten für Bewohner und Bewohnerinnen wie auch für die umliegende Nachbarschaft. Zugleich boten diese flexiblen Raumreserven Freiraum für spätere Entwicklungen.

Schönheit, Wertschätzung und menschliches Maß sind für alle lesbare Zeichen. Ein öffentlicher Brunnen, ein liebevoll gestalteter Spielplatz, ein blühender und schattenspendender Park oder auch nur eine Dorflinde mit Tisch und Bank sind solche Signale und werden rasch zwangloser Treffpunkt für Menschen, die einander sonst nie begegnen würden. Qualitäts­volle Architektur und Kunst schaffen so Identifikation in städtischen und dörflichen Quartieren.

Gemeinsam planen: Baugruppenworkshop für die Planung von B. R. O. T. (Nonconform)

© Nonconform
© Nonconform

Soziales Rauschen

Das trifft auch auf die „Feuerstelle“ zu, eine Installation des Künstlerduos Nicole Six und Paul Petritsch am Dorfplatz von Klein-Meiseldorf (Bezirk Horn). Sie vereint funktionelle Sitzgelegenheiten, ein lebhaftes Wasserbecken und plastische Quader aus Holz und Gestein. Durch den Einsatz unprätentiöser Materialien und Elemente entstand eine sympathische Kombination aus Treffpunkt und Spielplatz vor dem Gemeindehaus, die noch genug Rätselhaftes birgt und Empathie gegenüber ihrem Umfeld vermittelt. Das verbindet und generiert Nachbarschaft. Solche sozialen Instrumente brauchen Mut und Aufmerksamkeit von Auftraggebern und Gestalterinnen, um nicht Fremdkörper zu bleiben, sondern Gemeinschaft zu vermitteln.

Viele Entwicklungen der vergangenen 50 Jahre gehen mit dem Verlust des Ortes und einer Geschichte zunehmender Isolation einher, im sozialen wie im technischen Sinn: Der Schutz vor Einblick, Lärm und Kälte führen in eine breite Abschottung hinter hohen Mauern, dicken Wänden und einem Heer von individuellen Gerätschaften, die Bequemlichkeit und Sicherheit versprechen, uns tatsächlich aber vor allem isolieren. Vielen Menschen drohen in einer ortlosen, virtuellen Welt ihren räumlichen Nachbarn und Nachbarinnen abhanden zu kommen, wenn die dafür notwendige Aufmerksamkeit mit allen denkbaren Methoden entführt wird. Aus diesem Grund braucht Nachbarschaft mehr Initiative denn je. Die Wechselwirkungen von Stadt und Land, die Wertschätzung von Natur und Landschaft sowie sozial nachhaltige Siedlungskonzepte unterstützen ein neues Zusammenleben. Nachbarschaft ist soziales Rauschen. Nachbarschaft verschwindet also keineswegs. Sie nimmt nur neue Formen an. ● ○