Stellen wir uns vor: Diese paar Zeilen hier sind ein Mikroskop. Wir schauen hinein. Was wir uns jetzt genauer ansehen, buchstäblich unter die Lupe nehmen, das ist ein bisher wenig beleuchteter Mikrokosmos. Ein winziges, organisches Gebilde. Dieses kann jetzt einmal vergrößert und deutlicher dargestellt werden. Die Struktur dieses Mikrokosmos wird besser erkennbar. Er wird hier und jetzt einmal mehr Aufmerksamkeit, mehr Bedeutung, mehr Wichtigkeit bekommen.
Wir sehen: eine Straße. Es ist die Straße, in der ich wohne. Wir zoomen näher heran, sehen das Haus, in dem sich meine Wohnung befindet. Die umliegenden Häuser. Die Gärten, die nahe Umgebung. Es ist eine ganz gewöhnliche Straße, eine ganz gewöhnliche Wohnumgebung in einem kleinen Ort in Niederösterreich. Es ist eine sehr ruhige Straße, eine Sackgasse. Sie führt tatsächlich: nirgendwo hin. Sie endet an einem Feldrand. Vom Feldrand aus sind nur noch Felder, Hügel zu sehen. Rehe, Hasen, Mäuse, Vögel, Füchse. Doch wir wollen uns jetzt nicht auf die Tiere, auf die Natur konzentrieren. Wir wollen das genauer betrachten, was man das „alltägliche Leben“ nennt. Das alltägliche Leben der Menschen, die hier in diesem sehr winzigen Ausschnitt der Welt wohnen. Also unter anderem meines. Und das meiner Nachbarinnen und Nachbarn. Mehr sehen wir hier unter diesem Mikroskop nicht.
Was genau sehen wir da nun?
Ich schummle jetzt ein wenig. Weil es einer der großen Vorzüge der Literatur ist, dass sie mehrere Ebenen beschreiben und in eine Gleichzeitigkeit bringen kann. Dieses durch Worte erschaffene Mikroskop hier also ist auch ein Kaleidoskop. Es kann zeitliche Sprünge übergehen. Es kann in einem Bild mehrere Szenen zeigen, die sich in echt zu unterschiedlichen Zeitpunkten abspielten.
Wir sehen also: Ich sitze in dem Haus, das gegenüber dem Haus steht, in dem ich wohne, an einem Küchentisch. Auf dem Küchentisch stehen Kaffeetassen. Weingläser. Außer mir sitzen an diesem Küchentisch die Menschen, die in dem Haus wohnen. Mein kleiner Sohn spielt am Küchenfußboden mit der Katze. Wir sehen einen Kalender an der Wand. Er zeigt an, dass es sich um den 24. Februar 2022 handelt. Wir wissen: An diesem Tag begann Wladimir Putin den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Wir alle, die nun in dieser Küche sitzen, haben davon schon seit der Früh gelesen, im Radio gehört, es im Fernsehen und im Livestream mitverfolgt. Wir alle sind fassungslos. Sprachlos. Bedrückt. Ungewissheit und Angst haben sich schlagartig in uns breit gemacht. Mehr ist jetzt hier von diesem Tag nicht zu sehen als exakt das: wie wir da am Küchentisch sitzen. Es wird wenig gesprochen. Der Kaffee, der Wein, sie wollen nicht recht schmecken. Aber: Wir sitzen dort gemeinsam. Nicht ich mit meinem kleinen Sohn an unserem Küchentisch in unserer Wohnung im Haus gegenüber, und die Nachbarn an ihrem. Sondern: Wir sitzen an einem Tisch. Und dieses Bild, wie wir da gemeinsam sitzen, alle gleich ratlos, gleich erschüttert, gleich hilflos, gleich voller Bedrückung und Sorge – dieses Bild ist jetzt hier wichtig. Dieses Bild ist in der Vergrößerung ein leuchtendes, ein bleibendes Bild. Es soll hier noch einmal in aller Exaktheit festgehalten sein.