Simone Hirth
A. Königsecker
Simone Hirth

Kultur • Essay

Dem Mikrokosmos gewidmet


Nachbarinnen und Nachbarn sind da. Sie sind ganz nah. Es braucht kein Smartphone, kein Internet, keinen Strom, um Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Man braucht nur anzuklopfen.

Stellen wir uns vor: Diese paar Zeilen hier sind ein Mikroskop. Wir schauen hinein. Was wir uns jetzt genauer ansehen, buchstäblich unter die Lupe nehmen, das ist ein bisher wenig beleuchteter Mikrokosmos. Ein winziges, organisches Gebilde. Dieses kann jetzt einmal vergrößert und deutlicher dargestellt werden. Die Struktur dieses Mikrokosmos wird besser erkennbar. Er wird hier und jetzt einmal mehr Aufmerksamkeit, mehr Bedeutung, mehr Wichtigkeit bekommen.

Wir sehen: eine Straße. Es ist die Straße, in der ich wohne. Wir zoomen näher heran, sehen das Haus, in dem sich meine Wohnung befindet. Die umliegenden Häuser. Die Gärten, die nahe Umgebung. Es ist eine ganz gewöhnliche Straße, eine ganz gewöhnliche Wohnumgebung in einem kleinen Ort in Niederösterreich. Es ist eine sehr ruhige Straße, eine Sackgasse. Sie führt tatsächlich: nirgendwo hin. Sie endet an einem Feldrand. Vom Feldrand aus sind nur noch Felder, Hügel zu sehen. Rehe, Hasen, Mäuse, Vögel, Füchse. Doch wir wollen uns jetzt nicht auf die Tiere, auf die Natur konzentrieren. Wir wollen das genauer betrachten, was man das „alltägliche Leben“ nennt. Das alltägliche Leben der Menschen, die hier in diesem sehr winzigen Ausschnitt der Welt wohnen. Also unter anderem meines. Und das meiner Nachbarinnen und Nachbarn. Mehr sehen wir hier unter diesem Mikroskop nicht.

Was genau sehen wir da nun?

Ich schummle jetzt ein wenig. Weil es einer der großen Vorzüge der Literatur ist, dass sie mehrere Ebenen beschreiben und in eine Gleichzeitigkeit bringen kann. Dieses durch Worte erschaffene Mikroskop hier also ist auch ein Kaleidoskop. Es kann zeitliche Sprünge übergehen. Es kann in einem Bild mehrere Szenen zeigen, die sich in echt zu unterschiedlichen Zeitpunkten abspielten.

Wir sehen also: Ich sitze in dem Haus, das gegenüber dem Haus steht, in dem ich wohne, an einem Küchentisch. Auf dem Küchentisch stehen Kaffeetassen. Weingläser. Außer mir sitzen an diesem Küchentisch die Menschen, die in dem Haus wohnen. Mein kleiner Sohn spielt am Küchenfußboden mit der Katze. Wir sehen einen Kalender an der Wand. Er zeigt an, dass es sich um den 24. Februar 2022 handelt. Wir wissen: An diesem Tag begann Wladimir Putin den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Wir alle, die nun in dieser Küche sitzen, haben davon schon seit der Früh gelesen, im Radio gehört, es im Fernsehen und im Livestream mitverfolgt. Wir alle sind fassungslos. Sprachlos. Bedrückt. Ungewissheit und Angst haben sich schlagartig in uns breit gemacht. Mehr ist jetzt hier von diesem Tag nicht zu sehen als exakt das: wie wir da am Küchentisch sitzen. Es wird wenig gesprochen. Der Kaffee, der Wein, sie wollen nicht recht schmecken. Aber: Wir sitzen dort gemeinsam. Nicht ich mit meinem kleinen Sohn an unserem Küchentisch in unserer Wohnung im Haus gegenüber, und die Nachbarn an ihrem. Sondern: Wir sitzen an einem Tisch. Und dieses Bild, wie wir da gemeinsam sitzen, alle gleich ratlos, gleich erschüttert, gleich hilflos, gleich voller Bedrückung und Sorge – dieses Bild ist jetzt hier wichtig. Dieses Bild ist in der Vergrößerung ein leuchtendes, ein bleibendes Bild. Es soll hier noch einmal in aller Exakt­heit festgehalten sein.

Da ist noch jemand wach außer mir, und zwar ganz in der Nähe!

Warum, wozu, was soll das bringen?

Ich möchte, dass wir, bevor ich beantworte, wozu dieses eine kleine Bild gut sein soll, noch einmal in das Mikroskop schauen. Um zwei weitere, winzige Szenen in diesem bereits beschriebenen Mikrokosmos zu erkennen. Es sind nur Splitter, Zellen, Teilchen.

Wir sehen: Ich bin mit meinem kleinen Sohn, der wieder und wieder fragt, warum er nicht in den Kindergarten kann, „wie sonst auch“, zu Hause. Es ist der 16. März 2020. Die Regierung hat aufgrund der Corona-Pandemie einen landesweiten Lockdown verhängt. So etwas hat es vorher noch nie gegeben. Die Verunsicherung ist riesig. Ich weiß nicht, was ich meinem Sohn genau antworten soll. Ich weiß nicht, wie ich diesen Tag, wie ich die nächsten Wochen bewerkstelligen soll. Die Vorstellung, nun für ungewisse Zeit nicht mehr vor die Tür gehen zu dürfen, niemanden zu treffen und auch nicht zu wissen, wie sich die Pandemie und dadurch die Lage der Welt entwickelt, macht mir Angst. Natürlich kommuniziere ich über das Smartphone mit Freundinnen und Freunden, mit meiner Familie in Deutschland. Dennoch fühle ich mich wahnsinnig einsam und wahnsinnig hilflos. Dann gehe ich ans Fenster. Sehe auf die Straße, auf der es noch ruhiger zu sein scheint als sonst. Gespenstische Stille. Ich sehe zum Haus gegenüber. Dort geht ein Fenster auf. Die Nachbarin holt die Katze, die vor dem Fenster gewartet hat, zu sich herein. Ich öffne reflexartig ebenfalls das Fenster, winke und rufe: „Hallo!“. Die Nachbarin lächelt. In mir wird es schlagartig wärmer. Heller. Wir plaudern, von Fenster zu Fenster, über die Straße hinweg. Als ich das Fenster schließe, denke ich: Wird schon.

Nachbarschaft ist mehr, als nebeneinander wohnen.