
Kultur • Round Table
„Dissonanzen bringen Musik in Bewegung“
Rosenburg im Kamptal, hier verbringt der Komponist HK Gruber die warme Jahreszeit. Hinter einem eisernen Tor öffnet sich ein Steinweg zu einem Haus aus der Jahrhundertwende. Auf den Arbeitstischen im Atelier stapeln sich Notenblätter. Die Komponistin und Cellistin Ursula Erhart-Schwertmann, die mit morgen angereist ist, kennt Gruber seit Langem: Die beiden haben gemeinsam musiziert, sie hat Werke von ihm uraufgeführt. Bei Kaffee und Apfelchips sprechen sie darüber, wie sie an das Komponieren herangehen, welche Inspirationen sie verarbeiten, was sie geprägt hat – und über einen Zehnjährigen, der mit dem Komponisten Luciano Berio konkurrieren wollte.
Moderation: Miriam Damev
Fotos: Daniel Shaked
Herr Gruber, Sie haben vor Kurzem in Berlin einen Abend rund um Hanns Eisler und Kurt Weill gestaltet – zwei Namen, die immer wieder in Ihrer Biografie auftauchen. Was verbindet Sie mit ihnen?
HK Gruber
:1968 machte mich Kurt Schwertsik auf Eisler aufmerksam, der ein Schüler von Arnold Schönberg war. Eisler musste im Ersten Weltkrieg an die Front, das hat ihn lebenslang geprägt. Mit Bertolt Brecht schrieb er Agitprop-Lieder wie das „Solidaritätslied“, einfach genug, um sie nachzusingen, aber nicht banal. Auch Weill stand vor diesem Problem, als er mit Brecht die „Dreigroschenoper“ schrieb. Eisler und Weill zeigten, dass man massenwirksam schreiben kann, ohne banal zu sein. Das ist für mich bis heute eine Verpflichtung. Ich biedere mich nicht an. Ich mag Dissonanzen, sie bringen Musik in Bewegung. Ich schreibe, was ich hören will – nur so bleibt man authentisch.
Hanns Eisler und Kurt Weill waren beide politisch engagiert. Darf, ja, sollte Musik politisch sein?
Ursula Erhart-Schwertmann
:Kunst selbst sollte nicht von der Politik missbraucht werden – für populistische oder propagandistische Zwecke. Aber Musik kann sehr wohl Weltanschauungen verdeutlichen, sie spiegelt unsere Lebensrealität und die gesellschaftliche Realität.
Gruber
:In den 1980er-Jahren haben sich viele Künstler wie Peter Turrini oder Elfriede Jelinek im Wahlkampf engagiert. Sie wurden in die Parteipolitik hineingezogen, und das hat sie als Künstler geschmälert. Aber im Prinzip ist alles, was ich veröffentliche, politisch. Es steht da, wird von Menschen gehört und diskutiert – ob aus politischer Perspektive oder nicht.
Frau Erhart-Schwertmann, gibt es jemanden, der Sie besonders geprägt hat?
Erhart-Schwertmann
:Ich wollte nichts nachkomponieren. Einen sehr guten Komponisten erreicht man ohnehin nicht, und einen schlechten nimmt man sich nicht zum Vorbild. Ich habe ja relativ spät mit dem Komponieren begonnen. Man hört viel, man spielt viel, man bekommt einen Überblick über Musikgeschichte und Stile. Meine Kompositionen sind nicht einordenbar: Da gibt es Experimentelles, Tonales, Jazziges, Strukturelles. Mich interessiert, immer wieder Neues auszuprobieren – andere Klänge, andere Harmonien.
Welche Rolle spielte Ihr Elternhaus für Ihren musikalischen Werdegang?
Gruber
:Meine Mutter war kaufmännische Angestellte, mein Vater Kriminaloberinspektor. Abends hatte er Inspektionen in den Theatern, und so saß ich dreimal die Woche in solchen und bin mit klassischer Oper groß geworden. Meine erste Oper war „Die Zauberflöte“ – der Drive, die Musik, da habe ich schon mit dem Fuß mitgewippt.
Erhart-Schwertmann
:Mein Vater war Pianist, Professor an der damaligen Akademie für Musik und Leiter der Abteilung Tasteninstrumente. Meine Mutter war seine Schülerin. Ich bin mit Klaviermusik aufgewachsen. Vielleicht habe ich sie genau deshalb im Laufe der Jahre etwas abgelehnt.
Musik spiegelt unsere Lebensrealität.
Wie sah Ihr Einstieg ins Musikleben aus?
Erhart-Schwertmann
:Eigentlich wollte ich gar nicht Musikerin werden. Nach der Matura war für mich klar: Ich studiere Lehramt, Mathematik und noch ein zweites Fach. Ich dachte, es wäre schade um all die Jahre Cello und Klavier, also habe ich Musik als zweites Fach genommen. In Mathematik besuchte ich nur zwei Vorlesungen. Ich blieb bei der Musik und machte das Lehramt fertig, nebenher studierte ich Konzertfach Cello. Während des Pädagogikstudiums habe ich gemerkt: Das ist nicht meins. Vor einer Schulklasse zu stehen und zu betteln: „Bitte hört mir zu, ich erzähle euch etwas“ – das wollte ich nicht.
Gruber
:Mit sechs Jahren habe ich beschlossen, Komponist zu werden, mit zehn verstand ich mich schon als Berufsmusiker. Meine Eltern wollten, dass ich „etwas Gescheites“ lerne, aber ich habe als Bub gesagt: „Ich werde Komponist, werdet’s schon sehen.“ Meine eigentliche musikalische Laufbahn hat bei den Wiener Sängerknaben begonnen. Wenn man damals in Wien an der Bellaria ausstieg, war dort die russische Stadtkommandantur. Links und rechts standen die Soldaten, über dem Eingang die Bilder von Lenin und Stalin. Das Stiegenhaus zu unserem Kursraum in der Hofburg war durch eine Bretterwand geteilt: links der Zugang der Russen, rechts, unsere Stiege hinauf, der für den Westen. Jeden Sonntag haben wir in der Hofmusikkapelle mit den Philharmonikern gesungen. Mein erster öffentlicher Auftritt war die „Matthäus-Passion“ unter Wilhelm Furtwängler. Es hieß immer: „Es gibt genug Komponisten, du wirst es schwer haben, du musst dir dein Geld mit etwas anderem verdienen.“ Also habe ich Kontrabass gelernt.
Sie begannen beide in Orchestern zu musizieren …
Gruber
:Mit 15 war ich im Kurorchester Bad Gastein – damals das edelste in Österreich. Mit 17 kam ich als Substitut zu den Tonkünstlern, später zum ORF-Symphonieorchester, dem heutigen RSO Wien, wo ich 30 Jahre spielte. Mein Leben als Komponist habe ich mir immer durch das Orchesterspielen finanziert.
Erhart-Schwertmann
:Ich habe beim ORF-Symphonieorchester eine Juniorenstelle bekommen. Da war ich 23. Als ich es meinem strengen Lehrer, Professor Kühne, erzählte, sagte er nur: „Das gibt’s nicht, die anderen sind alle besser als du.“ So viel zum behutsamen Aufbauen. Nach mehreren Versuchen, eine Orchesterstelle zu bekommen, was für eine Frau nicht einfach war, wurde ich 1987 für das Tonkünstler-Orchester engagiert und ich blieb dort bis zu meiner Pensionierung.
Können Sie ein wenig über den schöpferischen Akt erzählen, also wie das Komponieren bei Ihnen konkret abläuft?
Erhart-Schwertmann
:Ich bin beim Komponieren eher ungeduldig. Klein-Klein interessiert mich nicht, für mich zählt die große Geste. Ich will nicht zehn Stücke schreiben, die alle dasselbe aussagen. Wenn ich keine neue Idee habe, komponiere ich nichts. Oft kommt mir unterwegs etwas in den Sinn – in der U-Bahn oder mitten in der Nacht –, und ich muss es sofort notieren. Zu Hause arbeite ich am Computer. Ich komponiere nicht linear, sondern schreibe einzelne Teile – mal den Anfang, mal den Schluss – und setze sie später zusammen. Ist ein Stück fertig, ist es für mich abgeschlossen, fast wie ein fremdes Werk. Wenn ich es selbst spiele, übe ich es auch so.
Wien gilt oft als besonders konservativ, wenn es um Neue Musik geht. Teilen Sie dieses Klischee?
Gruber
:Das Publikum ist viel wacher, als man oft glaubt – das Klischee vom konservativen Hörer stimmt nicht. Das Problem liegt eher in der Vorsicht der Veranstalter. Ich rege immer wieder an, die Menschen schon in den Probenprozess einzubeziehen. Gleichzeitig braucht es Institutionen, die das Publikum systematisch an die Gegenwart heranführen. Das ist für mich die wichtigste Aufgabe im Kulturbereich: deutlich zu machen, dass wir heute leben. Wir fahren nicht mehr mit der Postkutsche, sondern mit dem Auto. Nur in der Musik hält sich oft noch eine gewisse Schwellenangst.
Frau Erhart-Schwertmann, welche Erfahrungen machen Sie als Präsidentin der Interessengemeinschaft Niederösterreichische KomponistInnen mit der Vermittlung Neuer Musik?
Erhart-Schwertmann
:Mit reinen Neue-Musik-Konzerten ist es schwer, ein größeres Publikum zu gewinnen, außer bei Festivals wie Wien Modern. Ich versuche daher, die Vielfalt der heutigen Stile abzubilden: von traditionsbewusst bis experimentell, von populären Ansätzen bis zur Arbeit mit elektronischen Medien. So wird spürbar, dass Neue Musik nicht automatisch „ohne Melodie“ oder „ohne Emotionalität“ bedeutet. In meinen Programmen findet jeder etwas, das ihm gefällt, das ist mein Ziel. „Das interessiert mich nicht, weil es Neue Musik ist“ darf kein Argument sein.
Gruber
:Ich glaube nicht, dass man das Publikum kontrollieren kann. Es ist wie Laufkundschaft: Wenn ich ein Geschäft habe und gute Ware anbiete, spricht sich das herum. Das Festival Wien Modern zum Beispiel bietet gute, interessante, anregende Programme, und daraus ist ein Trend geworden. Dieser Vorwurf, Wien sei konservativ oder faul, stimmt überhaupt nicht. Wien ist eine Zwei-Millionen-Stadt, und unter diesen zwei Millionen gibt es zigtausend Leute, die Neue Musik hören wollen.
Das Publikum ist viel wacher, als man oft glaubt.
Wie beurteilen Sie, ob ein neues Werk gut ist?
Erhart-Schwertmann
:Da spielen viele Kriterien hinein. Manche Stücke wirken am Papier überzeugend, doch sobald man sie hört, merkt man: Auf den Instrumenten funktioniert es nicht. Besonders wichtig ist für mich die Dramaturgie. Wenn ich mich als Vertreterin des Publikums äußere, sage ich: „Die Musik darf nicht langweilig sein.“ Das kann jeder sofort beurteilen, egal ob tonal oder atonal, Klassik oder Avantgarde. Ein Stück muss packen, man will wissen, wie es ausgeht und darf unterwegs nicht fallen gelassen werden.
Sie haben auch mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Wie begegnen junge Menschen dem Komponieren?
Erhart-Schwertmann
:Ich habe meine zweite Masterarbeit über das Förderprogramm „Jugend komponiert“ geschrieben, Workshops miterlebt und mitgestaltet. Da sitzen zehnjährige Kinder, die ihre eigenen Kompositionen mitbringen. Im Workshop wird besprochen, was man verbessern könnte – notationstechnisch oder musikalisch. Ein Teilnehmer wirkte nach der Diskussion völlig abwesend, tippte lange am Computer. Zwei Stunden später kam er zurück, legte eine überarbeitete Partitur auf den Tisch und sagte: „Es ist jetzt besser. Können wir das noch einmal anschauen?
Gruber
:Gemeinsam mit der London Sinfonietta habe ich in England sogenannte „Rural Tours“ gemacht: Wir sind aufs Land gefahren, in Schulen, und haben Kinder zwischen zehn und 18 animiert, eigene Stücke zu komponieren. Diese führten sie im ersten Teil des Konzerts selbst auf. Einmal war Luciano Berio anwesend, dessen Stück wir nach der Pause spielten. Danach ging ein zehnjähriger Bub zu ihm und sagte: „Unser Stück war besser als deins.“ Für mich ist das ein großer Erfolg, wenn ein Kind so viel Mut hat, einem anerkannten Komponisten zu sagen: „Was du machst, kann ich auch.“ ● ○
