Standpunkte
Ist die Neue Musik in der Gesellschaft angekommen?
In jeder Ausgabe stellt morgen drei Menschen, die sich auskennen, eine Frage. Diesmal:
Nicht mehr im Hinterzimmer
Eva-Maria Bauer
Ich verstehe unter Neuer Musik nicht die Musik des 20. Jahrhunderts, sondern die Musik unserer Zeit – ohne stilistische Scheuklappen. Neue Musik muss nicht verstörend, schwierig oder angsteinflößend sein. Sie punktet mit Vielseitigkeit und spannenden Klängen, die man so vielleicht noch nie gehört hat. Natürlich darf es auch mal experimenteller sein. Das Publikum ist heute viel offener und unverkrampfter als etwa in den 1990er-Jahren. Es geht darum, zu erleben, was die Musik mit einem macht.
Künstler:innen und Komponist:innen haben begriffen, dass Vermittlung das A und O ist. Oft werden Konzerte moderiert und in ein performatives Konzept eingebunden, etwa mit Tanz oder filmischer Visualisierung. Was zieht, sind vor allem interessante Konzepte. Erfolgreiche Veranstalter:innen, die wir in unserer Reihe „Musik aktuell – neue Musik in NÖ“ unterstützen – darunter viele kleine Initiativen und Kulturvereine –, führen ihr Publikum langfristig an Neue Musik heran. Im ländlichen Raum besucht das Publikum häufig wie bei einem Abo alle Konzerte, egal ob Jazz, Klassik oder zeitgenössische Weltmusik gespielt wird.
Neue Musik findet nicht mehr im Hinterzimmer statt. Das beweisen etwa ausverkaufte Festivals wie die Wellenklænge in Lunz am See oder Glatt & Verkehrt in Krems. Wir arbeiten sogar jedes Jahr mit dem Schrammelklang-Festival zusammen. Das ist ein deutliches Zeichen, dass Neue Musik in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Die Musikwissenschafterin Eva-Maria Bauer ist Geschäftsführerin des Vereins Musikfabrik NÖ und Präsidentin des Österreichischen Musikrats. Die Musikfabrik NÖ unterstützt Veranstalterinnen und Veranstalter, die Neue Musik in Niederösterreich auf die Bühne bringen.

Wir können von Kindern lernen
Matthias Naske
Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, was wir unter Neuer Musik verstehen. Die Musikproduktion der Gegenwart ist jedenfalls lebendig, ästhetisch vielfältig und bunt. Wenn wir über eine Ästhetik Arnold Schönbergs oder Pierre Boulez’ sprechen, dann wird deren Musik oft als neu empfunden, auch wenn sie teils schon über 100 Jahre alt ist. Der Musikwissenschaftler Elmar Budde erklärte dieses Phänomen damit, dass die Utopie der klassischen Musik, Erleben und Verstehen, also Emotion und Vernunft sinnvoll in eins zu setzen, in der klassischen Neuen Musik nicht mehr linear erfüllt wird.
Der Philosoph und Essayist Günther Anders beschrieb das ideale Hören als eines, das dem noch nicht erklungenen Ton entgegenlauscht, und damit trifft er den Punkt. Diese Offenheit macht einen scheinbar verletzlich, weil man ja tatsächlich bei Neuer Musik nicht weiß, was einen erwartet. Dennoch ist es diese Haltung, die ich allen empfehle, denn nur so gibt man dem Neuen eine Chance und erlaubt der Musik, ihre Wirkung auf uns zu entfalten. Und damit wird man oft reich belohnt.
In dieser Beziehung können wir von den Kindern lernen. Ein Kind reagiert unmittelbar auf die Qualität des ästhetischen Geschehens und macht in seiner Haltung keinen Unterschied zwischen einer musikalischen Sequenz von Mozart oder von György Ligeti. Das ist die Offenheit, die uns Neues zu erleben erlaubt.
Der Kulturmanager Matthias Naske ist seit 2013 Intendant des Wiener Konzerthauses und arbeitet ehrenamtlich als Präsident des Vereins Wien Modern. Zuvor leitete er die Philharmonie Luxembourg und war als Generalsekretär der Jeunesses Musicales tätig.

Gehört selbstverständlich zum Repertoire
Tamara Ofenauer-Haas
Die Musikschulen in Niederösterreich bilden die gesamte Bandbreite des musikalischen Spektrums ab. Die wachsende Präsenz Neuer Musik zeigt sich in verschiedenen Initiativen, etwa beim Wettbewerb Prima la musica: Junge Musiker:innen können hier wählen, ob sie ein zeitgenössisches oder ein klassisches Werk spielen möchten. Rund die Hälfte entscheidet sich für das zeitgenössische, und immer mehr treten sogar mit Eigenkompositionen auf. Mit dem Projekt #YoungComposers werden junge Komponist:innen gezielt gefördert. Auch in den Landesjugendorchestern gehört Neue Musik mittlerweile selbstverständlich zum Repertoire.
Neue Musik fordert dazu heraus, über das gewohnte „SchönKlingen“ hinauszugehen und neue Klangwelten zu entdecken. Für viele klingt bereits Musik von Paul Hindemith oder Igor Strawinsky „neu“. Deshalb greifen in der musikalischen Bildung viele noch zu vertrauten Ansätzen, die Sicherheit geben. Ein Schlüssel liegt in der Vermittlung: Neue Musik soll nicht länger nur als komplexe Kunstform für Expert:innen und Kenner:innen gelten.
Mit Wettbewerbsteilnahmen kommen oft auch Eltern zum ersten Mal mit Neuer Musik in Berührung. Sie erleben die bislang unbekannten Klangwelten häufig als Bereicherung. Lehrende wiederum können gemeinsam mit ihren Schüler:innen neue Vermittlungswege erproben und ihr methodisches wie pädagogisches Repertoire erweitern. Wir sind also auf einem guten, sehr vielfältigen Weg.
Die Niederösterreicherin Tamara Ofenauer-Haas ist operative Geschäftsführerin des Musik & Kunst Schulen Management Niederösterreich. Sie studierte Musikerziehung und Französisch und unterrichtete am Stiftsgymnasium Melk sowie an der Musikschule Fladnitztal. Zehn Jahre war sie Musikschulleiterin.
