Er kommt verschwitzt aus der Probe im Wiener Musikverein, eine Stunde „Aerial“ von HK Gruber liegt hinter ihm, eines der schwierigsten Konzerte des Komponisten. Ein paar Schlucke Wasser, mehr Pause braucht Fabien Gabel nicht, bevor er loslegt und ein leidenschaftliches Plädoyer für die Neue Musik hält. „Wir müssen lebende Komponisten spielen. Ich denke, es ist ein starkes Signal, die neue Saison mit zwei bedeutenden zeitgenössischen Komponisten zu eröffnen.“ Das Publikum solle schließlich die Gelegenheit haben, diese Musik kennenzulernen. Und so hat der neue Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich auch für die weiteren Konzerte der Saison 2025/26 ein paar moderne Stücke im Gepäck, etwa „Threadsuns“, ein 2024 entstandenes Konzert für Viola und Orchester von Donghoon Shin, einem südkoreanischen Komponisten. „Ein baumhoher Gedanke greift sich den Lichtton / Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen“: Das schrieb der Lyriker Paul Celan in seinem Gedicht „Fadensonnen“ (englisch „Threadsuns“), auf das Donghoon Shin Bezug nimmt. Nicht zeitgenössisch, aber dennoch zur neueren Musik gehört Anton von Weberns „Im Sommerwind“, ein Idyll für Kammerorchester. „Wir haben kreative neue Musik ausgesucht, teilweise von anderen Kulturen inspiriert. Die Stücke, die wir spielen, sind zugänglich und verständlich, aber keineswegs trivial“, so Fabien Gabel.

Tonkünstler-Orchester
Die Flamme, die entzündet
Wie erarbeiten sich Musikerinnen und Musiker zeitgenössische Kompositionen? Und wie entstehen diese überhaupt? morgen besuchte eine Probe des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich und befragte den Komponisten Bernd Richard Deutsch sowie den Trompeter Håkan Hardenberger.
Reportage: Daniela Tomasovsky
Fotos: Luiza Puiu
Probe des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Musikverein Wien, Oktober 2025

Während der französische Dirigent wieder davoneilt – nun steht das zweite zeitgenössische Stück des Eröffnungskonzerts, „Con moto“ von Bernd Richard Deutsch, auf dem Probenprogramm – ist der Trompeter Håkan Hardenberger bereit für ein Gespräch. Er ist der Solist von „Aerial“, einem virtuosen und technisch anspruchsvollen Trompetenkonzert, in dem mehrere Instrumente zum Einsatz kommen: eine Piccolo-Trompete, eine C-Trompete und ein Kuhhorn, sowie Dämpfer in allen möglichen Formen. Sogar singen muss Hardenberger zu Beginn.
Viele Konzerthäuser haben einen musealen Zugang zur Musik.
„Gruber hat mich nach allen Tricks und Finessen gefragt, die mit der Trompete möglich sind. Und ich habe sie ihm verraten, denn ich wusste, er macht etwas Poetisches draus. Es geht ihm nicht um die Show“, so der schwedische Virtuose, dem „Aerial“ quasi auf den Leib geschneidert wurde. Über einhundert Mal hat er das Werk schon gespielt, in Konzertsälen auf der ganzen Welt. Die Faszination für und die Ehrfurcht vor HK Grubers Musik hat ihn aber nach wie vor im Griff. „‚Aerial‘ ist Musik aus der Luft, eine Luftaufnahme. Der Untertitel des ersten Satzes stammt aus dem Gedicht ,Wild Nights – Wild Nights!‘ von Emily Dickinson: ,Done with the compass / Done with the chart!‘ Also: weg mit Kompass und Karte, weg mit allen Vorschriften, her mit dem Gefühl!“
Hardenberger, der in seinem Leben viele Uraufführungen gespielt hat, ist ein starker Fürsprecher der Neuen Musik. „Wir müssen an die Kunstform glauben! Ich finde es traurig, dass viele Konzerthäuser einen musealen Zugang zur Musik haben.“ Als Trompeter stehe ihm kein Brahms oder Beethoven zur Verfügung, daher müsse er in die Gegenwart gehen, um große Geschichten zu erzählen. Mit jedem Komponisten lerne er eine neue Sprache. „Ich muss ein neues Gefühl finden, das ich mitteilen möchte. Wie ein Schauspieler erarbeite ich meine Rolle. Wenn es gute Musik ist, dringt man immer tiefer in das Werk ein. So wie bei ‚Aerial‘.“
Vor Ideen strotzend
Der Ausnahmetrompeter interessiert sich auch für „Con moto“ und so huschen wir gemeinsam in den Gläsernen Saal des Musikvereins, wo gerade geprobt wird. Bernd Richard Deutsch, der Komponist, sitzt hinter dem Dirigenten und liest in der Partitur mit. Manchmal gibt es kurze Einwürfe von ihm, die Fabien Gabel gleich aufgreift. Als Lieke te Winkel, die Erste Konzertmeisterin, bei einer komplexen Passage eine Frage zu den Notenwerten hat, singt Deutsch die Stelle kurzerhand vor. An dem Sechs-Minuten-Stück – schnell, energisch, motorisch, rhythmisch anspruchsvoll – wird intensiv gefeilt. Es ist die offizielle österreichische Erstaufführung.
Geschrieben hat es der Komponist 2023 als Zugabenstück, es war ein Auftragswerk der Bamberger Symphoniker. Bei den Tonkünstlern ist es allerdings nicht als Zugabe, sondern als Auftakt zu hören. Ein schlauer Schachzug: Sollten Zuhörerinnen und Zuhörer Berührungsängste mit Neuer Musik haben, sind diese spätestens nach „Con moto“ weg. Es ist temporeich und eingängig, bringt seine Botschaft mit Dringlichkeit und Nachdruck an die Frau und den Mann, erweist Strawinskys „Le sacre du printemps“ eine Referenz und strotzt vor musikalischen Ideen.
Einsatzbereit: Xylophonschlägel bei der Konzertprobe

Goethe-Vertonung
Bernd Richard Deutsch verbindet eine lange Geschichte mit dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich. Er war 2010 der erste Kandidat bei Ink Still Wet, einem Composer-Conductor-Workshop, bei dem das Orchester als Werkstattorchester fungiert (siehe dazu auch den Beitrag ab Seite 22). Seitdem gab es regelmäßig gemeinsame Projekte: Sein Triplekonzert für Trompete, Posaune und Tuba haben die Tonkünstler uraufgeführt, ebenso sein Cellokonzert, ein Schlagzeugkonzert ist im Entstehen. Es ist ein gemeinsames Auftragswerk der Tonkünstler, des HR-Sinfonieorchesters sowie des taiwanesischen Weywuying Festival. „Das Schlagzeug war meine Idee, ich wollte schon lange ein Schlagzeugkonzert schreiben. Es gibt einen tollen Schlagzeuger aus Salzburg, Christoph Sietzen, er wird das Stück 2027 uraufführen“, berichtet der Komponist.
Ich bin der Meinung, dass die Musik den Text überhöhen muss.
Deutsch kommt gerade aus Ohio, von der Nordamerika-Premiere seiner Goethe-Vertonung „Urworte“ mit Franz Welser-Möst, dem Cleveland Orchestra. Auch mit dem amerikanischen Orchester kollaboriert er schon lange. Von 2018 bis 2022 war er Fellow Composer des Cleveland Orchestra, sein Orgelkonzert „Okeanos“ war dort zu hören. Dem Dirigenten Franz Welser-Möst widmete Deutsch ein eigenes Werk: das Orchesterstück „Intensity“, in der Coronazeit geschrieben und 2022 in Cleveland uraufgeführt. Und nun also „Urworte“, das auf fünf zusammenhängenden Goethe-Gedichten beruht. „Es war ein Chorauftrag von Cleveland und der Elbphilharmonie. Ich wollte schon lange etwas für Chor und Orchester machen und habe viel gesucht.“ Irgendwann stieß er auf die „Urworte“ von Goethe, die ihn gleich „packten“, wie er erzählt.
Kraftvoll: Tonkünstler bei der Arbeit (Dirigent: Fabien Gabel)

Momente schlichter Schönheit
„Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet / Die Lampe harrt der Flamme, die entzündet“ – Sätze wie diese bilden das Grundgerüst des Werks. „Doch der Text braucht auch Präludien, Interludien, Reflexionen. Ich bin der Meinung, dass die Musik den Text überhöhen muss.“ Ursprünglich hatte Deutsch ein kürzeres Werk geplant, in der Endfassung dauert es aber eine knappe Stunde und „belohnt den Zuhörer mit Momenten schlichter Schönheit, plötzlicher Flüchtigkeit und unerwarteter Zärtlichkeit“, wie die Onlineplattform Cleveland Classical schwärmte.
Wie kommt man in einer Welt voller Musik – vom Kaufhaus-Gedudel bis zu Taylor Swift, vom Handy-Klingelton bis zur Spotify-Flut – noch auf neue Ideen? „Ich höre nicht wahnsinnig viel Musik, vor allem nicht nebenbei. Ich hasse Gedudel. Ich mag Musik, der zugehört werden will“, so Deutsch. Schon als Kind hat ihn diese Art von Musik fasziniert. „Ich habe klassische Schallplatten gehört. Da hat sich für mich eine Welt eröffnet. Und ich begann, selbst Musik zu erfinden. Erst später, mit 15, lernte ich Klavier.“ Familiär ist er nicht vorbelastet. „Eher im Gegenteil.“ Inspiriert haben ihn Igor Strawinsky, Alban Berg, Richard Wagner, Witold Lutosławski und Olivier Messiaen. Der Zeitgeist interessiert ihn nicht, er war auch nie Teil einer Gruppe oder Bewegung. Vielmehr ist der 48-jährige, vielfach ausgezeichnete Komponist überzeugt: „Ich muss meiner Vision folgen.“ Die Einfälle, die irgendwann zu musikalischen Welten werden, kommen ihm beim Spazierengehen oder im Schlaf. „So ein kurzer Mittagsschlaf wirkt Wunder. Ideen kommen oft, wenn man sie nicht forciert.“ Komponieren ist für Deutsch, der in Wien und Triest lebt, jedenfalls keine intellektuelle Übung, sondern ein intuitives Unterfangen. „Es muss natürlich schon eine Struktur geben. Die größte Kunst ist es aber, wenn diese musikalisch so überhöht ist, dass das Werk in sinnlicher Weise erfahrbar ist.“ Man solle seine Musik auch ohne Programmtexte verstehen können, findet er.
Eine Gebrauchsanweisung benötigen die Zuhörerinnen und Zuhörer weder für Grubers noch für Deutschs Musik. Für Orchester und Ensembles sind zeitgenössische Werke aber immer eine Herausforderung.

Rhythmisch heikel
Nach der Probe der Tonkünstler schwärmt Kontrabassist Michael Seifried von der „Herausforderung, etwas Neues auf seinem Instrument umzusetzen“. Volle Konzentration war auch bei den Schlagwerken angesagt, wie zu beobachten war. In der Neuen Musik sind die Melodien oft unberechenbar. Schlagzeugerin Margit Schoberleitner spielt viel zeitgenössische Musik und weiß: „Neue Stücke sind rhythmisch oft heikel. Und manchmal auch logistisch: Wo stelle ich was hin?“ Dirigent Fabien Gabel ist mit seinen Musikerinnen und Musikern sehr zufrieden. Sein Bekenntnis zum Zeitgenössischen ist ungebrochen. Wie es Paul Celan in seinen „Fadensonnen“ ausdrückte: „Es sind noch Lieder zu singen.“ ● ○
