Gabriela kommt aus Chile. Sie ist Ende zwanzig, Studentin der Geografie und der Wirtschaftsinformatik an der Universität Wien und lebt seit zwei Jahren in der Hauptstadt. Sie liebt Kaffeehäuser, Schnitzel, Sachertorte und die Hitze in der Stadt. Vor allem dann, wenn die Luft steht und die spärlichen Springbrunnen kaum eine Abkühlung bieten, wenn die Stadt zu verbrennen droht.
Ihre Vorfahren väterlicherseits stammen aus Kroatien. Ihr Urgroßvater wanderte 1902 nach Südamerika aus, heiratete eine Einheimische, obwohl in Kroatien eine andere Braut auf ihn wartete, und gründete weit weg von seinem Heimatdorf eine Familie. Aus der Mischung der südslawischen und lateinamerikanischen Gene kamen besonders hübsche Kinder hervor. Gabriela ist lebender Beweis dafür. Ebenmäßiges Gesicht, perfekt geformte Figur, graziöse Bewegungen.
„Wäre mein Urgroßvater damals zurückgekehrt und hätte das andere Mädchen, das sich nach ihm verzehrte, geheiratet, wäre ich vielleicht heute eine Kroatin“, sagt sie. „Vielleicht wäre ich eine Fischerin, IT-Expertin oder eine Marktfrau. Es könnte aber auch sein, dass ich Ferienwohnungen entlang der Küste einrichte und vermiete oder mich mit Solarenergie beschäftige. Auf jeden Fall wäre ich eine andere. Wer weiß es schon, wer ich wäre, wenn ich eine andere Mutter hätte. Wäre ich es überhaupt? Ich, die Gabriela?“
Ähnliche Fragen stelle ich mir auch. Als mein slowakischer Großvater 1923 während der großen Weltwirtschaftskrise nach Argentinien ging, sollte es ursprünglich für immer sein. Der Plan war, Arbeit und Wohnung zu finden, seine Frau, meine Großmutter, sollte später mit fünf Kindern nachkommen. Doch meine Babka1 weigerte sich, die Heimat zu verlassen, und blieb daheim.
Zehn lange Jahre dauerte es, bis Dedko2 genug Geld für ein Haus gespart hatte und die Heimreise antreten konnte. Eines Tages stand er da und umarmte seine Frau, die vor Überraschung beinahe in Ohnmacht fiel. Seine fünf Kinder standen abseits, betrachteten den fremden Mann im weißen Anzug und mit einem Strohhut mit einer großen Krempe, der immer wieder ihre Namen wiederholte, als wollte er sie auswendig lernen.
Und ich denke manchmal genauso wie Gabriela darüber nach, was aus mir geworden wäre, wenn meine Babka ihrem Mann nach Argentinien gefolgt wäre. Meine Mutter, die erst drei Monate nach der Abreise ihres Vaters zur Welt kam, wäre als Baby in Buenos Aires angekommen, dort aufgewachsen und hätte auf der Straße mit Latinokindern gespielt. Wahrscheinlich hätte sie zu Hause Slowakisch gesprochen, mit ziemlicher Sicherheit sogar, aber ihr Spanisch wäre auch akzentfrei.
Es wäre durchaus möglich, dass sie unter den Slowaken, von denen seit den 1920er-Jahren viele in Argentinien lebten und die ihre Sprache und Bräuche pflegten, beim Volkstanzen einen feschen Zipser kennen- und lieben gelernt hätte. Aber es wären auch andere Slawen da gewesen, Germanen, Romanen und natürlich die heißblütigen Latinos, denen die blonde Europäerin gefallen hätte können.
Ich sprach mit Gabriela darüber und wir lachten. Was wäre, wenn? Wäre es dann besser oder schlechter? Wäre es überhaupt? Wo wäre ich, wenn ich nicht ich wäre?
Und dann kommen manche Menschen daher und meinen, ich bin der und der und ich kann, ich weiß, und ich könnte und ich möchte … und sie stellen sich auf ein Podest, das andere für sie gebaut haben. Es ist leicht, von oben mit den Steinen zu werfen, wenn jemand beim „Was wäre, wenn“ den Sechser gewürfelt hat.
Gabriela kam der Liebe wegen nach Wien. Martin, ihr Freund, gibt ihr das, was sie zum Atmen braucht. Sagt sie. Sie spricht kaum Deutsch, studiert in englischer Sprache, die Fast-Schwiegereltern breiten das wirtschaftliche Netz aus und dämpfen die gröbsten Stöße. Aber nur so lange, bis Gabriela und Martin mit einem Abschlusszeugnis winken. Dann ist Schluss, beteuern die Alten.
Was wäre, wenn?
Was wäre, wenn Gabriela tatsächlich eine Kroatin geworden und während des Jugoslawienkrieges nach Österreich geflüchtet wäre? Oder wäre sie in Zagreb oder Split geblieben und würde heute an einem warmen Sommerabend am Hafen sitzen, auf eine Fähre nach Hvar warten und sich fragen, ob sie jemals woanders glücklich sein könnte? Vielleicht wäre ihr Leben einfacher oder auch schwieriger. Weniger Möglichkeiten, weniger Fremdsprachen, weniger Unsicherheiten. Aber auch weniger von dieser besonderen Mischung aus Kulturen, die ihr heute das Gefühl gibt, überall und nirgends zu Hause zu sein.
Ich merke, wie ansteckend diese Gedankenspiele sind. Manchmal, wenn ich in der Straßenbahn sitze und die Gesichter der Menschen betrachte, frage ich mich, wie viele „Was, wäre wenn“-Geschichten sich hinter ihnen verbergen. Was wäre, wenn der Mann mit der großen Tasche damals nicht in Wien geblieben, sondern nach Australien ausgewandert wäre? Was wäre, wenn die Frau mit den roten Haaren nicht vor zehn Jahren diesen einen Kurs belegt hätte, bei dem sie ihren Mann kennengelernt hatte? Jede Biografie ist ein Netz aus unsichtbaren Weggabelungen, die in ein anderes Leben führen könnten.
Die Vorstellung ist beängstigend und tröstlich zugleich: Wir sind das Ergebnis unzähliger Zufälle – und manchmal auch des Mutes, einen bestimmten Weg zu gehen. Hätte meine Babka damals nachgegeben und wäre meinem Dedko nach Buenos Aires gefolgt, würde vielleicht heute in Argentinien eine Frau mit meinem Gesicht, aber einem anderen Lachen und anderen Sorgen durch die Straßen von La Boca spazieren. Sie würde Matetee trinken, keinen Cappuccino, und sich nicht über die Preise für Wohnungsmieten, sondern über die für Rindfleisch aufregen.
Gabriela lacht, wenn ich solche Szenen ausmale. „Du könntest wahrscheinlich Tango tanzen“, meint sie. „Oder du wärst völlig unmusikalisch und hättest zwei linke Füße. Wer weiß das schon?“ Dann sagt sie etwas, das mir im Gedächtnis bleibt: „Am Ende ist es egal, wie viele ‚Was wäre, wenns‘ es gibt. Du bist da, ich bin da. Das ist das Einzige, was zählt.“
Gabriela überlegt, vielleicht nach dem Studium nach Chile zurückzukehren. Vielleicht bleibt sie aber in Wien. Vielleicht reist sie irgendwann nach Kroatien, um die Orte ihrer Vorfahren kennenzulernen. Sie weiß es nicht. „Ich lasse es auf mich zukommen“, sagt sie. Und ich nicke. Denn egal, welche Tür sie wählt – am Ende wird es wieder unzählige neue „Was wäre, wenn“-Geschichten geben.
Und vielleicht ist es das Schönste daran: Dass wir nie alle Antworten kennen, sondern nur die eine Realität, in der wir gerade leben. Der Rest bleibt ein offenes Buch, in dem jede Seite, die nicht geschrieben wurde, nur in unserer Vorstellung existiert. ● ○
1 Oma
2 Opa