Das Theater faszinierte mich seit frühester Kindheit. Wann immer sich bei den Schulaufführungen eine Gelegenheit bot, bewarb ich mich um eine Rolle. Und ich wurde auch sehr oft besetzt. Wahrscheinlich deswegen, weil die Lehrer das Feuer für die darstellende Kunst in mir spürten. Ob in einem Märchen oder in einer Weihnachtsgeschichte mit Väterchen Frost und dem Schneeflöckchen, seiner Begleiterin (das Krippenspiel mit dem Jesuskind durfte es im Sozialismus nicht geben), ich war mit Eifer dabei.
Die Kostüme für die Aufführungen suchten wir uns aus der Mottenkiste zusammen, wir schnitten Hosen und Röcke in die gewünschte Länge, nähten Teile zusammen, arbeiteten alte Vorhänge zu Schleiern und Capes um, bastelten Kronen, Sterne und Hüte.
Eines Tages traf ich in einer Putzerei eine berühmte Schauspielerin, die ich aus dem Fernsehen kannte. Sie reichte der Angestellten hinter dem Pult ein Kinder-T-Shirt und eine Strumpfhose mit der Bitte, sie gelb färben zu lassen. „Meine Tochter spielt in einem Theaterstück mit, sie freut sich schon sehr darauf“, sagte sie. Ab dem Moment hüpfte in meinem Kopfkino ein kleines Mädchen auf der Bühne herum, vielleicht als Blume, Schmetterling oder als Zwerg verkleidet, auf jeden Fall sonnengelb und glücklich. Denn sie trat nicht auf irgendeiner Bühne auf, sondern auf den Brettern des Nationaltheaters, weil ihre Mama es ermöglichte.
Wie schön wäre es, selbst das Mädchen zu sein, dachte ich damals – mit einer berühmten Mutter, einem coolen Regisseur-Vater und einem Tross von Verwandten, die alle fürs Theater arbeiteten und Filme drehten.
Mir war klar: Wer in einer Künstlerfamilie aufwächst, hat automatisch einen privilegierten Zugang zur Welt der Kunst. Die Kinder werden oft schon im Kinderwagen zu Proben mitgenommen, spielen später Verstecken in den Kulissen, duzen alle Stars, kennen ihre Schwächen und Macken. Solche Glückspilze können ihre Kreativität leichter als andere ausleben.
Erst später, als ich selbst Theaterstücke und Drehbücher schrieb und sie realisierte, lernte ich einige Schauspieler kennen, deren Vorfahren Stars waren, und die nicht nur von ihrer kindlichen Vorfreude auf den Beruf sprachen, sondern auch von ihrer Angst, dem Erwartungsdruck der Öffentlichkeit nicht standhalten zu können. Der große Name verpflichtet.
Und trotzdem stellen sich viele Kinder prominenter Eltern dieser Aufgabe und versuchen ihr Glück. Die Namen berühmter Künstlerdynastien wie Hörbiger, Thimig, aber auch Moretti, Bleibtreu, Manker, Paryla und viele andere mehr stehen für generationenübergreifende Leidenschaft.
Ist es ein Fluch oder ein Segen, einen berühmten Namen zu tragen, bei jedem Einkauf oder Arztbesuch erkannt und beobachtet zu werden, die Privatsphäre dem Ruhm zu opfern? Da fällt mir ein Zitat aus Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ ein: „Denn die einen sind im Dunkeln und die anderen sind im Licht. Und man siehet die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.“
Die kürzlich verstorbene Elisabeth Orth entschied sich gleich am Anfang ihrer Karriere, den Familiennamen Hörbiger als Marke abzulegen und ganz von vorne zu beginnen. Ihre Schwestern Christiane und Maresa hingegen bauten auf dem Namen auf. Der große Durchbruch gelang ihnen allen drei. Und ihre Kinder folgten ihnen auf den Bühnen nach.
Meine Lieblingsprofessorin am Dolmetschinstitut hieß Hedwig Thimig. Sie ist die Tochter von Hermann Thimig und Vilma Degischer. Ihr Weg führte sie aber nicht auf die Bühne, sondern zu den Fremdsprachen. Was für ein Glücksfall für ihre Studentinnen und Studenten.
Wenn ich an berühmte Künstlerfamilien denke, kommen mir auch die Vášáry-Schwestern in den Sinn. In Bratislava, in meiner einstigen Heimat, sind sie bis heute Stars. Emília „Milka“ Vášáryová, die Grande Dame des slowakischen Theaters und Films, ist der Liebling der Nation. Egal, in welche Rolle sie schlüpft, die Menschen lieben sie. Sie, die Ältere, war und ist immer noch die stillere. Eine Vollblutschauspielerin von jener seltenen Sorte, die nichts beweisen musste. Wenn sie eine Figur darstellte, spielte sie diese nicht, sondern war sie.
Magda, die Jüngere, debütierte als 16-Jährige mit einer Filmhauptrolle. Trotz des großen Erfolgs, und vielleicht auch aus Angst, stets mit ihrer erfolgreichen Schwester verglichen zu werden, wählte sie Soziologie als Studienfach. Dem Schicksal, Schauspielerin zu werden, entkam sie dennoch nicht. Angebote kamen, sie nahm sie an. Im Laufe der Jahre verkörperte sie Dutzende Film- und Theaterrollen, in denen sie brillierte. Nach der Samtenen Revolution verließ sie das Scheinwerferlicht und betrat die Diplomaten- und Politikbühne. Sie wurde in den frühen Neunzigerjahren Botschafterin in Österreich, später in Polen, danach folgte eine Karriere als Staatssekretärin und Parlamentsabgeordnete.
Ihr nicht minder berühmter Ehemann Milan Lasica verschrieb sich an der Seite seines kongenialen Partners Július Satinský dem Kabarett. Das Großartige an den Programmen des Štúdio L+S waren die spitzen Anspielungen, die in den Zeiten des tiefsten Sozialismus eigentlich verboten waren. Die messerscharfen, genial ausgeklügelten Pointen und die Sprachakrobatik, mit Witz wie Parodie gespickt und zum Schutz vor Spitzeln in „Zuckerwatte“ verpackt, schmeckten dem Publikum. Die Menschen verstanden die Botschaften, lachten darüber und bewunderten den Mut der beiden. Und je mehr sie das Duo verehrten, umso schärfer griff die Exekutive ein. Mehrmals wurden Lasica und Satinský mit Auftrittsverboten belegt, mehrmals wurde das Štúdio L+S zwangsweise geschlossen.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs regnete es Auszeichnungen für die begnadeten Satiriker, die Stücke in ihrem Theater bekamen schärfere Kanten. Waren es früher die kommunistischen Machenschaften, die sie versteckt und doch für jeden verständlich kritisierten, machten sie sich später offen über Korruption, Neureiche und Machtverliebte lustig.
Satinský starb, Lasica blieb der Bühne treu und machte weiter. Während eines Jazzkonzerts 2021 sang er eines seiner Lieder, das Publikum liebte ihn noch immer. Applaus. Verbeugung. Erster Vorhang. Zweiter Vorhang. Standing Ovations. Plötzlich sank Lasica in die Knie, fiel auf den Boden. Der legendäre Schauspieler, Liedermacher und Kabarettist starb auf der offenen Bühne vor den Augen seiner Zuschauerinnen und Zuschauer.
Das Karussell des Lebens dreht sich weiter. Hana, die Tochter von Milan Lasica und Magda Vášáryová, schreibt Bücher und Drehbücher, die Enkelinnen verkleiden sich gern mit Kostümen aus der Mottenkiste, basteln Kronen, Sterne und Hüte. Und spielen Theater. ● ○