Selfies

Die Welt als Wille und Verstellung


Eine Ausstellung in der Landesgalerie zeigt, wie Kunstschaffende das eigene Image stilisieren. Bilder wie jene von Gottfried Helnwein finden in den digitalen Spiegelwelten der Gegenwart ein spätes Echo. Was bedeutet das für die virtuelle Gemeinschaft?

Es ist eines jener Bilder, die sich in die kollektive Netzhaut der vergangenen Jahrzehnte eingraviert haben: Der mit Verbandsmaterial weiß bandagierte Kopf eines Mannes bricht durch eine splitternde Glasscheibe, sein weit aufgerissener Mund formt einen geradezu Munch’schen Schrei, der in dröhnender Stille zu verhallen scheint. Die Augen des Mannes werden von gabelförmigen chirurgischen Gerätschaften, die an Folterinstrumente denken lassen, verdeckt – alles in allem ein visuelles Emblem, in dem Wut, Verzweiflung, Schmerz und katalytische Befreiungsenergie eine irritierende Verbindung eingehen.

Das 1982 im Stil des Hyperrealismus gemalte Bild von Gottfried Helnwein – die Ausstellung „Ich bin alles zugleich“ in der Landesgalerie (siehe S. 45) zeigt einige Werke des Künstlers – wurde unter dem Namen „Selbstporträt (Blackout)“ bekannt. Es diente auch als Coverabbildung für eine LP der Metalband Scorpions – was maßgeblich zu seiner Zirkulation im öffentlichen Raum der visuellen Kommunika­tion jenseits der Museums- und Galerienszene beitrug. In „Selbstporträt (Blackout)“ fielen Selbstporträt und Hyper­stilisierung des eigenen Images zusammen. Das Publikum konnte daraus, je nach Geschmack, individuelle Befindlichkeit oder eine fatale Epochendiagnose herauslesen: 1982 war das Jahr des nato-­Doppelbeschlusses, der die Gefahr eines Atomkrieges plötzlich wieder als gespenstische Projektion am Horizont auftauchen ließ.

Im Rückblick zeigt sich, dass Gottfried Helnwein ein Avantgardist der Selbstvermarktung in prädigitalen Zeiten war. Und zwar durch die Verbreitung seines Bildes im doppelten Sinn. Zum einen wurde das Gemälde auf dem unorthodoxen Wege der Schallplattenhülle zu einem visuellen Stimulus, der eine breite Öffentlichkeit erreichte. Zum anderen schuf er auf diese Weise ein Bild von sich, das mehr war als ein Selbstporträt; nämlich eine demiurgische Deutung seiner Persönlichkeit mit den Mitteln einer quasi-surrealistischen Überformung, Vermummung und Verzerrung des eigenen Antlitzes.

Was vor 37 Jahren noch als künstlerische Gestaltungslust und provokante Attitüde gelten konnte, mit der man in behäbigen und saturierten Bilderwelten auffällig wurde, ist in Zeiten von Smartphones, Twitter, Facebook und Instagram Common Practice geworden: Jeder stellt heute schräge Bilder von sich und seinen Freunden her, die dann in den sozialen Netzwerken gepostet werden und Retweets, Likes oder andere Formen der empathischen Reaktion erzwingen sollen. Schon Anfang der 1990er-Jahre sprachen Theoretiker wie W. J. T. Mitchell und Gottfried Boehm vom Pictorial oder Iconic Turn: der Wende von einer Schrift- zu einer Bildkultur. Diese wurde mit der Durchsetzung visueller Fetische und Tauschobjekte unter gegenwärtigen Kommunikationsbedingungen endgültig Realität. Erstmals in der Kulturgeschichte lassen sich in jedem Moment Nachrichten, Meinungen und Gefühle über versendete visuelle Signale austauschen.

Zwar wird auch heute noch brav geschrieben. Allerdings handelt es sich dabei überwiegend um Kurznachrichten in den dafür vorgesehenen Kanälen; ein Großteil der Kommunikation läuft über Bilder wie Memes und Emojis. Und die gesellschaftliche Wirkmacht des Visuellen hat sich radikal geändert. In seinem jüngsten Buch „Selfies“ schreibt der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich: „Ein Selfie zu machen, heißt, ein Bild von sich zu machen, auf dem man sich selbst zum Bild gemacht hat.“ 

Dies kann man durchaus als Weiterführung des Projektes von Gottfried Helnwein verstehen, wenn auch unter völlig veränderten medialen und kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten. Was seinerzeit eine elitäre künstlerische Haltung war, wurde zum Gesellschaftsspiel, an dem fast alle teilhaben. Das Bild, das man von sich und seinem Milieu in den sozialen Netzwerken präsentiert, entspricht längst nicht mehr einer dokumentarischen Tradition der Fotografie, sondern ist eine Form von Design, mit dem man sein Selbst neu entwirft und um sich selbst und die Habitate, in denen man sich wohlzufühlen glaubt, kreisen lässt. Die Welt wird zum Zaubergarten, in dem Wille und Verstellung regieren.  

Und man verwendet virtuelle Masken, um diese Welt zu erschaffen. Filter überformen und verfremden das fotografische Bild oder überschreiben es mit grafischen Elementen: Menschen bekommen ein Katzenschnäuzchen, ein Clownsgesicht oder mutieren zu skelettierten Zombies – durchaus übrigens im Sinne des 18. Jahrhunderts, wo sich die Angehörigen der höheren Stände mit Schminke, Perücken und exzentrischer Kleidung als öffentliche Figuren entwarfen. Nur dass man heute das Haus gar nicht mehr verlassen muss, um als Idealtypus seiner selbst in Erscheinung zu treten, sondern all dies am Rechner erledigen kann.

In der „Tyrannei der Intimität“, die Richard Sennett noch für das 19. und 20. Jahrhundert diagnostizierte, ging diese Form der Öffentlichkeit verloren. Der zeitgenössische Bildertaumel befördert sie wieder; allerdings findet sie nicht mehr auf dem Marktplatz der Stadt statt, sondern in den Datenschluchten
des globalen Dorfes, das keine physische Nähe mehr erforderlich macht, um ein kommunikatives Austauschverhältnis in Gang zu halten. Kulturpessimisten, vor allem aus dem Sektor der Kunsttheorie, sehen in der Selfie-Kultur allerdings eher ein Indiz für Kulturverfall und einen Authentizitätsverlust: Vielfach seien die Bilder etwa von jenen ewig-fröhlichen Party People, die man in Instagram-Feeds und ähnlichem sehen kann und die eigentlich nur das visuelle Substrat eines lustvoll gelebten Lebens sein sollten, Inszenierungen. Diese stünden für sich selbst und seien gar nicht mehr auf biografische Ereignisse und ekstatische Kollektiv­erlebnisse rückzuführen. Überspitzt formuliert: Die visuellen Zeugnisse, die eigentlich das Leben dokumentieren sollten, verweisen auf etwas, das so nie existiert hat. Sie schaffen einen virtuellen Raum der Wünsche, Sehnsüchte und Projektionen ohne existenzielle Bedeutsamkeit. Wir erreichen damit einen Nullpunkt des Seins.

Diese Argumentation hat etwas für sich, muss allerdings im Kontext der jeweiligen Authentizitätsvorstellungen gewertet werden: Nicht zwingend muss man die höchste Steigerungsstufe der „Echtheit“ des Lebens in der kuhwarmen Intimität des psycho­physischen Austausches sehen. Die digitale Bildkultur stellt sich ganz anders und viel positiver dar, wenn man in der vermeintlichen Künstlichkeit eine Möglichkeit sieht, den öffentlichen Austausch einander fremder Menschen zu regulieren. Schließlich definiert das „Maskenhafte“ immer auch Standards, auf die alle Beteiligten zurückgreifen können.  „Wer Bildtypen wie Selfies diskreditiert und als trivial und dilettantisch entlarven möchte“, schreibt Ullrich, „der wird auch die Demokratisierung geringschätzen, die es bedeutet, dass erstmals eine Mehrheit der Menschen Bilder produziert und – vor allem – publizieren kann.“ In diesem Sinne finden Gottfried Helnweins visuelle Appelle an eine Kommunikationskultur zwischen Realität und Phantasma, zwischen Kunst und Hypostasierung des Selbst in den digitalen Spiegelwelten der Gegenwart ein spätes Echo. ●○