Kolumne

Tür an Tür


Manchmal kann ein Leben wie ein Puzzle aus mehreren Teilen bestehen, die völlig unterschiedlich sein können. Rückblickend habe ich auch selbst das Gefühl, zweimal auf die Welt gekommen zu sein. Einmal als ein kleines Mädchen, das blonde Zöpfe trug und Pionierlieder sang, das andere Mal nur ein paar Kilometer weiter, in einer mir bis dahin unbekannten Metropole als eine junge Frau, die von heute auf morgen erwachsen werden musste. Wie eine Pflanze wurde ich von einer Erde in die andere gesetzt, ausgehungert nach neuen Erfahrungen und Leben. Ohne Sprache, ohne Geld, nicht ahnend, wie es weitergehen sollte.

Es ist schon so lange her, aber ich erinnere mich ziemlich genau an den Tag, an dem ich meine Koffer packte in dem Wissen, dass es für immer sein würde. Kein Urlaub, sondern eine Reise ins Ungewisse, in ein Land, das ich nur vom Erzählen oder von schwarz-­weißen Bildern aus dem Fernseher kannte. Die Polizei sagte nach elf Monate langem Bürokratiemarathon endlich Ja zu meiner Ausreise, und ich war bereit zu gehen. Die Genossen warnten mich vor kapitalistischen Versuchungen, meine Tanten weinten und bemängelten den Schnurrbart des neuen, „deutschen“ Familienmitgliedes, mein Vater fürchtete politische Repressalien, die Mutter buk Schnitzel aus, damit wir auf der 60 Kilometer langen Fahrt nicht verhungern, die Freundinnen beneideten mich um mein Glück, endlich dem realen Sozialismus zu entkommen, mein frisch angetrauter österreichischer Ehemann stopfte vor dem Haus meine Koffer in einen bunt bemalten VW-Bus. Endlich fuhren wir los. Die Zukunft konnte beginnen.

Und obwohl ich physisch schon in Wien und auf dem Papier Österreicherin war, hörte ich wochenlang das Geräusch der Tür, die hinter mir fiel, als ich ging. Ein dumpfes, metallisches Klacken. Ein scharfer Schnitt zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Ein Meilenstein in meinem zweigeteilten Leben. Schon allein aus Sorge um mein geschmuggeltes, halbslowakisches Kind, das in meinem Bauch fröhlich strampelte, war kein Blick zurück mehr möglich. Der Richtungspfeil zeigte eindeutig nach vorne.

Am Anfang regnete es Ratschläge. Manche Menschen scheinen überhaupt alles zu wissen. Was gut ist und was nicht, was ein Ausländer zu tun hat, wie er sich kleiden und was er essen soll, wie die anstehenden Wahlen ausfallen, warum die Politik, die Wirtschaft und das Gesundheitswesen den Menschen nicht so dienen, wie man es möchte, wofür man sich einsetzen und was man verdammen soll, wer in dem Land leben darf und wer nicht. Sie haben zu allem ihre Meinung, zu den Christen, Juden, Moslems, Flüchtlingen, Homosexuellen, Bettlern und Arbeitslosen, sie sind immer im Recht und verkünden gern: „Das haben wir schon immer gewusst.“

Sie achten stets darauf, dass alles rund um sie richtig funktioniert, die Arbeit, die Schule der Kinder, die Reinigungsfirma, die die Treppen wischt und Fenster putzt, die Gärtnerei in öffentlichen Park­an­lagen, Geschäfte, Kaffeehäuser, der Kellner, der das Gewünschte schleunigst bringt. Sie sind modisch gekleidet, pfiffig frisiert, dezent tätowiert, mit Geldbörsen voller Kreditkarten, die goldenen schimmern am schönsten heraus, Sattheit im Gesicht. Egal, was man sie fragt, die Antwort liegt ihnen schon auf den Lippen. Sie empfehlen die besten Anti-Aging-Kuren, Mittel gegen Gelenkschmerzen, Bauchweh oder Krebs, haben eine feste Meinung zur Sterbehilfe, sie kann auf der Welt nichts erschüttern.

„Wir sind die Guten und die anderen die Schlechten“, sagen sie, ohne einen Blick in die Vergangenheit zu riskieren, in der ihre Väter und Großväter im Krieg kämpfen oder als Vertriebene auf der Flucht um ihr Leben bangen mussten. „Wir sind wir, und wir wollen unter uns bleiben.“

Als ich vor 44 Jahren nach Österreich kam, machten mir gerade diese perfekten Menschen das Leben schwer. Egal, was ich sagte oder machte, es war ihnen nie gut genug. Die Russen waren ihnen zu fanatisch, die Ungarn gerissen, die Slowaken zu dumm, die Polen kriminell, die Tschechen vom eigenen Bier stets benebelt. Wie konnte ich nur neben den Einheimischen bestehen? Und je mehr ich mich bemühte, ihnen zu gleichen, mich anzupassen, mich zu integrieren, wie es so schön heißt, umso unglücklicher war ich, weil es so, wie sie es von mir erwartet hatten, nicht ging. 

Es klingt vielleicht paradox, aber erst im Kontakt mit den andersartigen Menschen, den Fremden, die aus Kriegs- und Hungerregionen nach Österreich strömten, erkannte ich mich selbst und fühlte mich österreichischer als je zuvor. In dem Blick in den Spiegel, aus dem mir braune, grüne und viele schwarze verängstigte Augenpaare entgegensahen, erkannte ich auch meine frühere Furcht vor dem Versagen, die mich einige Jahre begleitet hat. 

Im Haus genannt Europa gibt es viele Zimmer, die Frage ist nur, welche Stellung darin die einzelnen Länder und Menschen einnehmen. Wenn in dem Gebäude Deutschland der Wirtschaftsraum ist, wird Frankreich der Ballsaal, Großbritannien der Teesalon, Italien die Trattoria, Tschechien die Brauerei und Österreich das Treppenhaus zwischen dem ersten und dem zweiten Stock sein? Wer ist aber das Schlaf- oder Kinderzimmer, die Küche, der Vorraum, der Abstellraum? Gibt es Länder, die zum Fußabstreifer herabgestuft werden oder die im Keller wohnen? Wer darf anläuten und um Eintritt bitten? Wer darf rein, und wer wird an der Tür abgewiesen?

Das Europa-Haus ist prächtig und wunderschön. Es hat viele Fenster und viele Türen. Viele Stimmen, Sprachen, Geräusche, Gerüche. Die Türen gehen auf und werden geschlossen. Menschen kommen und gehen. Manche betteln um Einlass. Und noch bevor das Haus vollständig gebaut wird, stehen schon wieder Umbauten an. Die, die draußen sind, wollen hinein, die anderen drohen mit der Scheidung. Dem Salon gefällt auf einmal die ihm zugedachte Rolle nicht mehr und er beabsichtigt, in Zukunft nur den eigenen Mitgliedern den erlesenen Tee, den er aus ehemaligen Kolonien aus Übersee importiert, auszuschenken, ohne die volle Speisekammer, aus der er das Teegebäck immer holen kann, aus den Augen zu lassen. „Das haben wir schon immer gewusst“, rufen die Besserwisser, „Schauen wir es uns an“, sagt das Volk.

„Ich hatte zu Hause gute Nachbarn“, sagte einmal eine Schülerin in meinem Kurs, in dem ich Deutsch als Fremdsprache unterrichtete. „Wir wohnten Tür an Tür. Sie passten auf meine Kinder auf und ich auf die ihren.“ Plötzlich entwickelte sich in der Klasse eine kleine Diskussion.

„Meine Nachbarin hat sich immer Zucker von mir geborgt.“

„Unser Nachbar hat uns den Zaun repariert.“ 

„Wir sind oft zusammengesessen und haben geplaudert.“

„Wenn wir gute Nachbarn haben wollen, müssen wir auch gute Nachbarn sein.“

Ja, das stimmt. Wir leben Tür an Tür. Jedes Öffnen und Schließen der Türen ist hörbar. Jedes zugefallene Türschloss kann ein scharfer Schnitt in einem geteilten Leben sein. Und das kann, unabhängig von der Nation, irgendwann jeden betreffen. ● ○