Kulturverein LAMES im St. Pöltner Sonnenpark, Garten
Heribert Corn
Kulturverein LAMES im St. Pöltner Sonnenpark, Garten

Kulturvereine

Shakespeare in Jeans


Spinnweben entfernen, Inserate verkaufen, Lesungen organisieren: Tausende Ehrenamtliche arbeiten in Niederösterreichs Kulturvereinen, teilweise sieben Tage die Woche. Was treibt sie an? morgen besuchte drei kulturelle Nahversorger in Kottingbrunn, St. Pölten und Drosendorf.

Irene Künzel arbeitet zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Wenn sie – was selten vorkommt – Sonntagvormittag doch einmal entspannt, ein gutes Buch liest oder vor dem Fernseher sitzt, spürt sie spätestens gegen Mittag ein Kribbeln. Tief unten im Bauch. Dann treibt es sie vom Sofa zum Schreibtisch. Am Laptop ploppen im Minutentakt neue Mailnachrichten auf.

Irene Künzel ist 60 Jahre alt. Sie hat vier Kinder, einen grauen Wuschelkopf und blaue Augen, die strahlen. Ihre Lesebrille schiebt sie ins Haar, und sie spricht schnell. Einfach, um die Dinge, die sie sagen will, möglichst effizient loszuwerden. Das Organisieren, Planen, Verhandeln und Kosten-Abrechnen, das stundenlange Kopfzerbrechen über Schwierigkeiten, die sie tagtäglich aus dem Weg räumt, macht sie freiwillig. Ehrenamtlich. So wie Tausende andere Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher, die sich gemeinsam in der Kulturarbeit engagieren. In mehr als 1.000 Vereinen, die manchmal ein Drei-Mann-­Betrieb sind, der ganz ohne Förderung auskommt und manchmal ein großes Konstrukt, das rund 140 Veranstaltungen im Jahr organisiert und dabei 450.000 Euro Umsatz macht. So wie die Kulturszene Kottingbrunn, deren Obfrau Irene Künzel ist, die – wie viele andere Ehren­amtliche – auf die Frage: „Warum macht ihr das eigentlich?“ keine eindeutige Antwort hat. 

Abseits der großen Kulturbetriebe wie dem St. Pöltner Festspielhaus, der Kunsthalle Krems und dem Landestheater erfüllen kleine Kulturvereine eine wichtige Nahversorgerfunktion: Wer nicht ins Auto steigen will, um Puccini zu hören, geht ins nahe gelegene Vereinszentrum. Wer über Josef Hader live lachen will, auch. Und wer nicht gern in den Anzug schlüpft, um Shakespeare zu sehen, kommt in Jeans zur Vorführung.

Die Kunst der Improvisation

Die Kulturszene Kottingbrunn wurde 1997 gegründet. Zwei Nebengebäude des Wasserschlosses stellte die Marktgemeinde einer Gruppe von Amateurschauspielern zur Verfügung – darunter Irene Künzels verstorbenem Mann Joachim, dem ersten Obmann des Vereins. Vermeintlich nobel, bloß: Es gab kein Geld, und die Schauspielstätte war ein Stall. Unter den Spinnweben und dem Schmutz, der sich im Laufe der Jahrzehnte über die Wände gelegt hatte, war das gekalkte Weiß dunkelgrau geworden. Oder waren die Wände überhaupt nie weiß gewesen? Es gab keinen Strom und damit kein elektrisches Licht. Eine Armada Freiwilliger nahm sich des Gebäudes in seinem bemitleidenswerten Zustand an: Walburg Weissenböck, genannt Burgi, zum Beispiel, die Vollzeit als Lehrerin arbeitete. Sie verkaufte den Geschäftsleuten in der Stadt samstags und nach Feierabend Logo-Präsenzen und Inserate, um an Geld für die Umbauarbeiten zu kommen. Abends läutete ihr Privattelefon, über das die Besucherinnen und Besucher Karten für die Amateurtheatervorstellungen reservierten. Die dicken Bücher mit den langen Anmeldelisten hortet sie heute noch. Oder Helmut Simon, im Brotberuf Schlosser, der Futtertröge aus den Steinmauern stemmte und schrottreife Autokarosserien ins Freie zerrte. Wasser wurde in den Anfangsjahren mit einem Gartenschlauch in das improvisierte Theater gepumpt, Strom kam über Verlängerungskabel aus den Nachbargebäuden. Die Besucher saßen auf Tribünen aus alten Paletten, die knarzende Stalltüre wurde in die Theaterproduktionen integriert. 

Der Kunst- und Kulturverein LAMES veranstaltet am 14. und 15. Juni das Realraum Symposium zu Wissenstransfer und Vernetzung für Kulturschaffende. Themen: individuelle und institutionelle Entwicklungsprozesse, alternative Finanzierungsmodelle u. v. m.

Von 17. bis 21. Juli bietet LAMES beim Parque-del-Sol-Symposion Raum, Projekte aus Kunst und Wissenschaft zu erarbeiten und diese bei einem ganztägigen Fest zu präsentieren.

Plattform für Subkultur

Schwierigkeiten, die der Verein lames so oder so ähnlich bei seiner Gründung vor 20 Jahren ebenfalls meistern musste. Zum Teil noch muss. Das Büro im St. Pöltner Sonnenpark wirkt improvisiert. Aber genau das macht den Charme des Areals aus. Die Fassaden der Häuser werden regelmäßig von Graffiti-Artists gestaltet, in den Ästen der Trauerweide am Hof baumeln selbstgemachte Lampen, in den Veranstaltungsräumen mit den dicken Steinmauern hängt Anfang April noch klamm und kalt der Winter. Neben den schwierigen baulichen Voraussetzungen kam bei lames – die Abkürzung steht für „La musique et sun“ – in den Anfangsjahren politischer Gegenwind hinzu. Serena Laker, Obfrau des Vereins, erzählt: „Die Leute sahen in den Mitgliedern Hausbesetzer. Weil unser Zugang sehr alternativ ist und wir eine Plattform für Subkultur bieten, war das anfangs schwierig.“ Mittlerweile ist der Verein einer der Leuchttürme der St. Pöltner Kulturszene. Ein Hauch von Berlin weht durch die Landeshauptstadt, mit Workshops, Konzerten oder Ausstellungen junger Künstlerinnen und Künstler. „Zu uns können alle kommen, die Interesse an Gemeinschaft haben“, erzählt Laker. „Wer gerne näht, ist willkommen, wer gerne kocht, auch. Wer gerne malt, handwerkt oder diskutiert, Musik auflegt oder tanzt – es gibt für alles Platz hier.“ Die Idee hinter lames ist es, öffentlichen Raum frei zu spielen, Platz zu schaffen für Gemeinsames. Der 45 Mitglieder starke Verein erhält Förderungen des Bundeskanzleramtes, des Landes und der Stadt. Außerdem füllen ein Jahressponsor und der Getränkeverkauf bei Veranstaltungen die Vereinskassa. „Dennoch sind wir chronisch unterfinanziert“, resümiert Laker.

Von Absdorf bis Zwettl

Mit drei bis vier Veranstaltungen pro Woche versucht die Kulturszene Kottingbrunn, der Geldprobleme Herr zu werden. Der Verein bekommt 80.000 Euro Landesförderung pro Jahr und liegt damit im oberen Drittel der Subventionsnehmer. Nach 22 Jahren, etlichen Umbauarbeiten und unzähligen Stunden freiwilliger Arbeit ist auch die Kulturszene einer von Niederösterreichs Vorzeigevereinen. Vorträge, Kabaretts, Lesungen, Konzerte und Ausstellungen – das Angebot ist bunt und niederschwellig. Es gibt keinen Dresscode, die Kartenpreise sind günstig. Deswegen kommen die Besucher schon längst nicht mehr nur aus dem südlichen Niederösterreich, sondern zum Teil aus dem Waldviertel oder der Steiermark.

Laut Statistik des Instituts für Freizeitforschung ist die Hälfte der Österreicherinnen und Österreicher Mitglied in einem oder mehreren Vereinen. 22 Prozent davon fallen auf Kulturinitiativen, Platz drei nach Sportvereinen und dem Roten Kreuz. Vor allem für Männer, jüngere Menschen, höher Gebildete und Personen mit besserem Einkommen ist das Vereinsengagement interessant. In Niederösterreich gibt es sogar einen eigenen Verein für die Kulturvereine: die Kulturvernetzung Niederösterreich, Ansprechpartner für die Anliegen regionaler Initiativen, die auch das Viertelfestival und die Tage der Offenen Ateliers organisiert. Wie wichtig dem Land örtliche Kulturinitiativen sind, zeigt folgende Zahl: 3.511.376,06. Das ist jene Geldsumme, die im Kulturbericht 2017 unter dem Punkt „Kulturelle Regionalisierung“ vermerkt ist. Die lange Liste der daraus Geförderten reicht vom Kultur- und Verschönerungsverein in Absdorf bis zum Bühnenwirtshaus in Zwettl.

Der Verein KuKUK veranstaltet am 19. Juli den Wein:Klang – klassische Musik und Wein bei freiem Eintritt am Hauptplatz.

Kein einziger Euro davon ging an den Verein KuKUK in Drosendorf. Auf Förderungen verzichtet der 35 Mitglieder starke Verein, dessen Name für „Kunst und Kultur, Umwelt, Kommunikation“ steht, ganz bewusst. „Die Arbeit im Verein soll Spaß machen, und Förderungen zu beantragen macht keinen Spaß“, beschreibt Vorstandsmitglied Mella Waldstein ihre Haltung. „Wir haben wohl eine gewisse bürokratische Hemmschwelle.“ In einem Café nahe dem Drosendorfer Hauptplatz, in dem Kunstmagazine aufliegen, erzählen Waldstein und ihre Freundin, die Künstlerin Sabine Müller-Funk, über den Antrieb, der sie 2010 den Verein gründen ließ. Das Kulturangebot in der 2000-Einwohner-Stadt nahe der tschechischen Grenze sei auch zuvor nicht schlecht gewesen, meinen sie: „Aus einem Mangel heraus ist der Verein nicht entstanden.“ Durchschnittlich könne man sich in der Umgebung bestimmt jedes zweite Wochenende im Monat kulturell beschäftigen. Trotzdem habe etwas gefehlt: „Wir hatten viele Ideen, die sich in anderen Vereinen nicht verwirklichen ließen“, erinnert sich Müller-Funk. Als vor neun Jahren der pisa-Test die schwache Leseleistung der österreichischen Schülerinnen und Schüler offenbarte, initiierte sie gemeinsam mit Waldstein und ihrem Ehemann, dem renommierten Kultur- und Literaturwissenschafter Wolfgang Müller-Funk, eine Lesenacht – die Geburtsstunde des Vereins. 

Die Leute sahen in den LAMES-Mitgliedern Hausbesetzer.

Sozialer Kitt

Auch im KuKUK ist das Angebot niederschwellig. Horizonterweiterung definiert der Vorstand als gemeinsames Ziel. Wichtig, so die Drosendorferinnen, sei es ihnen, eine Plattform zu schaffen, die es den Leuten ermöglicht, miteinander zu reden. Auch das dörfliche Leben spielt sich immer häufiger in den eigenen vier Wänden ab. Der Verein wirkt dem entgegen und fungiert als sozialer Kitt: Beim Bürgerfrühstück plaudern Rechtsanwälte mit Landwirten unter der alten Schubert-Linde am Hauptplatz. Beim Wein:Klang, einer Weinverkostung, für die die Vereinsmitglieder einmal im Jahr Brote schmieren und mit Winzern Weine probieren, kommt der ganze Ort zusammen. Alle, die eine Veranstaltung initiieren wollen, können das tun. Dank der flachen Hierarchien des Vereins sind Ideengeber auch automatisch Projektleiter. Der wöchentliche Aufwand, den die KuKUK-Vorstände betreiben, ist überschaubar: keine Sitzungen oder Versammlungen. „Wir halten die Arbeit so gering wie möglich und versuchen dabei, den größtmöglichen Output zu erlangen“, scherzt Sabine Müller-Funk. Neben Hauptberufen, den Familien und karitativen Engagements bleibe niemandem viel Zeit. 

Irene Künzel wird nach dem Zehn-Stunden-Arbeitstag für die Kulturszene Kottingbrunn zufrieden ins Bett fallen. Letztes Jahr im Sommer hat sich die 60-Jährige eine Woche Urlaub genommen: Mittelmeerkreuzfahrt. An Tag drei von sieben langweilten sie die Wellen, die Inseln und das Meer. Sie sehnte sich zurück ins Wasserschloss, wo ihre Arbeit wartete. Warum tut sich Irene Künzel all das an? „Ich habe keine Ahnung, warum ich das mache, ich weiß es wirklich nicht!“, sagt sie. Das Gesicht glühend vor Leidenschaft. ●○