Kunstkollektive

Kreativ im Kollektiv


Die romantische Idee vom genialen Einzelgänger gilt für Künstlerteams nicht mehr. Aber wie gelingt das überhaupt, gemeinsam Fotos, Skulpturen und Zeichnungen zu produzieren? morgen nahm drei Gruppen unter die Lupe.

Neubesetzungen in der Kunstwelt offenbaren meist keine großen Überraschungen. Doch vor wenigen Monaten ließen gleich zwei derartige Entscheidungen aufhorchen: Im Februar meldete die Kasseler Documenta, eine der wichtigsten internationalen Kunstausstellungen, dass das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa ihre nächste Ausgabe 2022 leitet. Zwei Wochen später stellten sich die neuen Direktorinnen der Kunsthalle Wien vor. Mit der Zagreber Kuratorinnengruppe WHW (kurz für „what, how and for whom“) steht ab Juni erstmals ein gleichberechtigtes Kollektiv – noch dazu ein weibliches – an der Spitze einer heimischen Kunstinstitution. 

Lange Haare, fromme Rede

Der Trend zur Multi-Kuratorenschaft ist zwar neu, Vorbilder finden sich aber in Künstlergruppen, und diese haben eine weitaus längere Tradition. Schon vor 200 Jahren ließen sich deutsche Maler mit einem Faible für die christliche Kunst des italienischen Mittelalters in Rom nieder. Wegen ihrer langen Haare und ihrer frommen Reden nannte sie ihr Umfeld spöttisch „Nazarener“. Ihr Anspruch war es, die Kunst zu erneuern. Dieser Wunsch verbindet sie mit späteren Avantgardebewegungen, aus deren Manifesten die grimmige Entschlossenheit Verschworener spricht.

Es hat mehr mit Handeln zu tun als mit Sprechen.

Die Gruppenbildung ist allerdings oft ein Übergangsphänomen: Junge Künstlerinnen und Künstler entwickeln gemeinsame Stile, Konzepte und Ausstellungen. Sie treten meist gegen das Establishment auf wie einst etwa die Surrealisten oder die Wiener Aktionisten, um jedoch später ihre eigene Handschrift zu finden, sich von den anderen abzusetzen. Von einer kunstsoziologischen Warte aus erscheinen diese Teams als Zweckbündnisse im Sinne der Selbstbehauptung. Am Kunstmarkt und im Kanon wiegen letztlich allerdings nach wie vor die Signa­turen von Einzelkämpfern und -kämpferinnen schwerer als die kollektive Kreativität.

Kinder im Sommercamp

Langlebigere Künstlerkollektive kennzeichnet jedoch, dass sich der Anteil Einzelner am Gesamtergebnis nicht mehr ablesen lässt: Gruppen produzieren etwas, das so nur gemeinsam erreicht werden konnte. Im idealtypischen Sinn gelingt das der Künstlergruppe Gelatin, der „Boygroup“ der heimischen Szene. Die Viererbande Ali Janka, Wolfgang Gantner, Florian Reither und Tobias Urban kollaboriert seit Mitte der 1990er-Jahre und erinnert an eine Popband. Die Gruppe wurde für spektakuläre Installationen und Performances bekannt, etwa für ihr geheimnisvolles Tauchbecken „Weltwunder“ oder den 60 Meter langen Hasen, den sie 2005 auf einem oberitalienischen Berg platzierten. Zur Identität der Gruppe mit Kremser Wurzeln gehört der fiktive Gründungsmythos („Wir haben uns 1978 als Kinder in einem Sommercamp kennengelernt.“), die Vorliebe für Secondhand-Outfits und ihre Art, niederschwellig über ihre Arbeit zu sprechen. Die Grenze zwischen Kunst und Leben scheint bei ihnen aufgehoben. Entstehungsprozess und Endprodukt sind gleichwertig. „Es hat mehr mit Handeln zu tun als mit Sprechen. Auch einander zusehen. Einer mag denken, dass etwas ein Fehler ist, während der andere bereits begreift, dass das in eine unerwartete und spannende Richtung geht“, schilderten die vier in einem Interview. „Manchmal habe ich gar keinen Plan und keine Ideen, aber das macht nichts. Wir leben zusammen, und jemand sagt etwas, und dann entstehen Dinge, über die du nicht nachgedacht hättest“, so Florian Reither. Gruppendynamik ist Trumpf. Auch das viele gemeinsame Reisen sorgt für Stoff. Bei ihrer körperbetonten Kunst geht es immer wieder um Erlebnisse: So laden sie ihr Publikum ein, sich zum Tauchen, für den Sauna- oder Toilettengang auszuziehen oder mit bereitgestellten Kostümen zu verkleiden. Für ihre am Donauufer bei Rossatz errichtete Großskulptur „Die Wachauer Nase“ nahmen die Künstler 2012 bei einem „Casting“ Gipsabdrücke von 70 Nasen, um das lokaltypische Geruchsorgan zu ermitteln. Mit ihrem vier Meter hohen Riecher aus Beton drehten Gelatin einem traditionellen Denkmalbegriff die lange Nase. 

Die künstlerische Zusammenarbeit von Christine und Irene Hohenbüchler basiert hingegen auf der Beteiligung von lokalen Randgruppen. Die 1964 in Wien geborenen Zwillingsschwestern entschieden sich nach ihrem Kunststudium, das sie in unterschiedlichen Klassen für Bildhauerei und Malerei absolvierten, bewusst für das Miteinander. 1991 starteten sie erstmals ein Projekt mit einer Werkstatt, die von der Lebenshilfe Osttirol betreut wird. Dort produzierten sie gemeinsam mit Behinderten Kunst. „Wir versuchten, künstlerisch mit Menschen in einen gestalterischen Austausch zu treten, die gesellschaftlich weniger wahrgenommen werden“, beschreibt das Künstlerinnenduo gegenüber morgen seinen Ansatz, der in eine „multiple Autorenschaft“ mündet. Der Dialog stand immer im Zentrum der Projekte, die etwa mit Insassen von Gefängnissen oder in psychiatrischen Kliniken realisiert wurden. „In unserer eigenen Arbeitsweise funktioniert vieles nonverbal. Wir sprechen nicht viel darüber.“ Kollektive Kreativität gelinge dann, „wenn sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufeinander einlassen können und ein gewisser Flow entsteht. Das hat viel mit Vertrauen zu tun“. Für diese Interaktionen seien die Fähigkeit, sich selbst zurückzunehmen, und Kompromissbereitschaft unabdingbar – Kompetenzen, die vom grandiosen Künstlerego weit entfernt sind. „Die Hohenbüchlers sind Eindringlinge, Voyeure und Unruhestifter, aber auch Gesprächspartner und Seelentröster“, schrieb die Kuratorin Barbara Steiner über die Künstlerinnen, deren Atelier in Eichgraben, im Wienerwald, ist.

Dass ihre Strategie nicht mit Kunsttherapie oder Ähnlichem zu tun hat, sondern mit Gleichberechtigung, bewiesen die Documenta-Teilnehmerinnen bei ihrer Schau 2018 in der Galerie Martin Janda. Dort hingen schwere weiße Mäntel und Umhänge, die mit Äußerungen von Psychiatriepatientinnen bestickt waren. Auf einem der Kleidungsstücke, die an Talare oder Zwangsjacken erinnern, stand der Satz „… das Gefühl hat übrigens immer recht …, 1993“. Die multiple Autorenschaft, die Christine und Irene Hohenbüchler in ihren Projekten leben, äußert sich nicht nur in Installationen und Objekten, sondern auch in digitalen Arbeiten und in großformatigen Zeichnungen. Diesen Facettenreichtum übersah die Kritik häufig, bei der die engagierte Kunst der Zwillinge nicht immer gut ankam. Wobei kollaborative Kunst in der digitalen Ära der Netzwerke und Communitys viel eher akzeptiert wird, wie sie selbst anmerken.

Sport, Showbusiness und Massenmedien

Diesen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung registriert auch die Ende der 1980er-Jahre gegründete Künstlergruppe g.r.a.m.: „Kollektive Strukturen und damit verbundene Werte wie Demokratisierung und Transparenz sind heute viel selbstverständlicher“, betonen Martin Behr und Günther Holler-Schuster, die 1987 gemeinsam mit Ronald Walter und Armin Ranner als g.r.a.m. starteten. Keines der damaligen Gründungsmitglieder hatte Kunst studiert, aber die Autodidakten verband ein intensives Bedürfnis, ihre Interessen wie Musik, Sport, Showbusiness und Massenmedien künstlerisch zu verarbeiten. Zu ihren frühesten Gemeinschaftsarbeiten zählt die Serie „Paparazzi“, die sie während eines Stipendienaufenthalts in Los Angeles entwickelten. Damals legten sich die Steirer auf die Lauer und schossen Fotos von ihren Nachbarn ebenso wie von echten Celebritys. Aber da die Leute auf den grobkörnigen Fotos kaum zu erkennen waren, verschwammen die Grenzen zwischen Stars und Nobodys. 

Als „Dynamik einer Selbsthilfegruppe“ beschreiben g.r.a.m., was sie ursprünglich zusammenführte; im Lauf der Zeit entwickelten sie eine künstlerische Marke. Der Kamera blieben g.r.a.m. über vier Jahrzehnte lang treu. Mit einfachen Mitteln stellten sie in Serien immer wieder Ikonen der Fotogeschichte nach, sowohl Presse- als auch Kunstfotos. „Es geht um das Abrufen kollektiver Schlüsselreize über das Medium der Fotografie, um ein Misstrauen gegenüber den Bildern, eine Auseinandersetzung über die Wirklichkeit der Fotografie sowie den Versuch einer Neuinterpretation alter Bilder“, erklären sie ihre Strategie, bei der ihnen auch Humor wichtig ist. Die Palette dieser „Re-Enactments“ reicht von Slapstick-Motiven der Komiker Stan Laurel und Oliver Hardy über berühmte Fotos der Wiener Aktionisten bis hin zu Reportagebildern aus Parlamenten, wo Politiker einander attackierten. 

Die Kunst von Gelatin, den
Hohenbüchlers und g.r.a.m. mag gänzlich unterschiedlich sein, doch gemeinsam ist ihnen die Utopie des Kollektiven. Indem sie sich auf das Ungewisse des Gemeinsamen einlassen, entwickeln sie neue Erlebnisqualitäten und Sichtweisen. So lustvoll, engagiert und gewitzt, wie diese Teamworker die romantische Idee vom genialen Einzelnen verabschieden, stellt sich kein Gefühl des Verlusts ein. Denn viele Köche verderben den Brei nicht: Die Künstlergruppe ist weitaus mehr als die Summe ihrer Teile. Sie bietet ein Modell der Emanzipation über die Grenzen der Kunst hinaus. ●○