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Baugruppen
„Kinder wollen nicht ihr eigenes Schwimmbad, sie wollen Freunde haben“
Vor mehr als 40 Jahren errichteten Sie, Herr Matzinger, das erste Mal gemeinsam mit anderen einen Wohnbau. Ihr Konzept der Atriumhäuser, bei dem sich die Wohneinheiten um ein gemeinschaftlich genutztes Atrium gruppieren, hat sich seitdem bewährt. Wie kamen Sie damals auf die Idee, andere junge Familien zu suchen, um gemeinsam zu bauen und zu wohnen?
Fritz Matzinger
:1973 war ich erstmals in Côte d’Ivoire in Westafrika, wo ich Dörfer und ihre Dorfgemeinschaften unbeeinflusst von unserer westlichen Zivilisation kennenlernte. Die Wertschätzung, die dort den alten Menschen entgegengebracht wird, hat mich fasziniert, ebenso wie die ganz natürliche Sozialisation der Kinder in der Gemeinschaft. Dort gibt es keine Altersheime und keine Kindergärten. Als ich wieder zu Hause war, versuchte ich, die starken Impressionen auf Papier zu bringen und habe den ersten Entwurf für ein Atriumhaus gezeichnet. Einen Monat später fand ich über eine Zeitungsannonce viele Gleichgesinnte. Seit damals lässt mich dieses bedeutende Thema der Architektur, der humane und soziale Wohnbau, nicht mehr los.
Welche Wohnidee, welches Wohngefühl hatten Sie damals im Sinn?
Matzinger
:Es ging mir weniger um die Architektur, als um das Bedürfnis, in einer natürlichen und sozialen Gemeinschaft zu leben. Das ist eine Bereicherung fürs Leben, und das ist auch etwas, was wir von der Dritten Welt lernen könnten. Mir war auf Grund von Beispielen aus Dänemark klar, dass in einem solch gemeinschaftlichen Wohnprojekt entsprechend Platz für die Geborgenheit der individuellen Familie, der kleinsten sozialen Einheit, vorhanden sein muss.
Frau Leutgöb, Sie realisierten in Pressbaum gemeinsam mit anderen eine Wohnanlage, das Projekt b.r.o.t. Motivierte Sie der Wunsch, in einer Gemeinschaft zu leben, dazu, Mitglied einer Baugruppe zu werden?
Johanna Leutgöb
:Was Herr Matzinger sagt, kann ich bestätigen: Auch ich brauche meinen individuellen Wohnbereich, in den ich mich zurückziehen kann, in dem ich tun und lassen kann, was ich will. Zugleich ermöglicht die gemeinschaftliche Wohnform Beziehungen zu anderen Menschen, eine gemeinsame Freizeitgestaltung, und sie gibt Sicherheit. Das sind alles Funktionen, die für mich zum Wohnen dazugehören. Die Architektur hat dabei einen sehr hohen Stellenwert, sie schafft Begegnungsräume, die es erlauben, auf ungeplante Weise zusammenzukommen. Für mich ist auch wichtig, nachhaltig zu leben, nicht auf Kosten der zukünftigen Generationen. Durch das gemeinschaftliche Wohnen kann man viel teilen: Wir haben ein Carsharing-Auto und betreiben eine Food-Kooperative, über die wir gemeinsam Lebensmittel von regionalen Produzentinnen und Produzenten beziehen.
Gibt es neben dem Wohnprojekt in Pressbaum weitere Baugruppen in Niederösterreich?
Heidrun Schlögl
:Meines Wissens gibt es nur wenige Baugruppen hier, das älteste Projekt ist in Maria Lanzendorf entstanden. Doch auch in Gänserndorf, Wölbling, Rohrbach an der Gölsen und Kalksburg haben sich in den letzten Jahrzehnten Baugruppen gebildet. Mir erscheint diese Wohnform wie ein ungeborgener Schatz.
Für wen kann eine Baugruppe interessant sein und was könnte so eine Wohnform zur ländlichen Entwicklung beitragen?
Schlögl
:Diese Wohnform ist für alle geeignet, die Individualisten sind und zugleich Gemeinschaftssinn haben, für Menschen, denen eine gelebte Nachbarschaft wichtig ist. Gut geeignet ist sie auch für Ältere, die Unterstützung brauchen, ebenso für Alleinerziehende und Kinder. Fritz Matzinger hat ja viele Projekte realisiert, in denen die Menschen miteinander alt geworden sind. Wie in einem Dorf. Das finde ich sehr schön. Solche Wohnprojekte wären wichtig zur Stärkung von schwach besiedelten Regionen. Außerdem plädiere ich dafür, dass wir nicht neu bauen, sondern den Gebäudebestand, den wir haben, reaktivieren.
Matzinger
:Ich bearbeite gerade einige Projekte in dieser Richtung. Wir stehen in Vorbereitung für eine Revitalisierung in Strengberg im Mostviertel. Das ist ein großer Vierkanthof in wunderbarer Aussichtslage, in dem derzeit nur eine Person lebt. In Garsten, in Oberösterreich, haben wir vor zwei Jahren einen denkmalgeschützten 550 Jahre alten Vierkanter zu einem wunderbaren gemeinschaftlichen Wohnprojekt für 20 Familien umgebaut.
Schlögl
:Viele Baugruppen legen großen Wert auf Nachhaltigkeit. Aber noch nachhaltiger ist es doch, nicht weiter kostbaren Boden durch Neubauten zu versiegeln, sondern vorhandene Bausubstanz zu nutzen. Gerade Niederösterreich hat einen großen Bestand an Einfamilien- und Zweifamilienhäusern, die unterbelegt sind oder leer stehen. Das wäre doch eine wunderbare Gelegenheit für Gemeinschaftsprojekte.
Matzinger
:Ich würde mich dagegen wehren, Einfamilienhäuser zu sanieren. Das ist weder sozial noch energetisch nachhaltig. Vorbildlich nachhaltig sind meines Erachtens unsere hunderte Jahre alten historischen Dörfer und Märkte.
Wo liegt in Ihren Augen die kritische Größe für ein gemeinschaftliches Wohnprojekt?
Leutgöb
:Es braucht eine gewisse Größe, damit es gut funktioniert. Ich weiß von kleinen Baugruppen, die aus sechs Familien bestehen. Sie tun sich schwer, weil sie einen Konflikt nicht so leicht abfedern können. Sobald eine Gemeinschaft größer wird, diversifiziert sich das. Genau das braucht es in einer Baugruppe. Beziehungen verändern sich, und man braucht immer ein paar Leute, mit denen man gut kann. Zudem ist es wichtig, dass die Architektur diese Begegnung ermöglicht. Das funktioniert in einer Einfamilienhaussiedlung nicht so gut.
Matzinger
:Diese Gemeinschaftsräume müssen attraktiv sein. Es ist unsinnig, sie auf Restflächen, im Dachgeschoß oder im Keller einzurichten. Sie müssen auf dem Weg zum persönlichen Wohnbereich liegen.
Suchen Baugruppen Leute mit ähnlichen Wertvorstellungen? Auch die finanziellen Mittel werden viele Menschen, obwohl sie vielleicht gut zur Gemeinschaft passen, nicht aufbringen können. Ist es damit eine elitäre Wohnform?
Matzinger
:Wir hatten bei der letzten Baugruppe quer durch die Bevölkerung vom Akademiker bis zum Wohnbauhilfeempfänger eine bunte Mischung. Die Gruppe funktioniert perfekt.
Leutgöb
:Ich kenne diesen Vorwurf, dass Baugruppen elitär seien. Bei unserem Wohnprojekt b.r.o.t. in Pressbaum sind aber vor allem Menschen dabei, denen ein nachhaltiger Lebensstil wichtig ist. Darunter auch Leute, die sich das nur ganz knapp finanziell leisten konnten.
Wenn ich Teil einer Baugruppe sein will, brauche ich aber immer Eigenmittel, oder?
Leutgöb
:Wir haben unser Projekt als Verein selber realisiert. Die niederösterreichische Wohnbauförderung fördert nur Projekte mit einem Bauträger. Deshalb mussten wir es frei finanzieren. Es gibt aber auch das Habitatsmodell: Da gibt es Anleger, wodurch nicht alle Mitglieder Eigenmittel haben müssen. In dem Bereich der Baugruppen ist derzeit viel in Bewegung. Man probiert die verschiedensten Finanzierungsformen aus.
Neben den Finanzen ist auch der Planungs- und Bauprozess zu erwähnen, der lang und mühsam sein kann. Ihre Baugruppe in Pressbaum brauchte vier Jahre für Planung und Bauzeit. Das muss man neben dem Beruf auch zeitlich unterbringen können.
Leutgöb
:Es ist viel Arbeit. Aber das ist so wie bei einer Geburt: Wenn es vorbei ist, ist es schnell wieder vergessen. Man muss aber darauf achten, dass man nicht im Burnout landet.
Schlögl
:Wenn ich das höre, denke ich, das tue ich mir nicht an. Deshalb ist es wichtig, sich diese tollen Projekte anzuschauen, zum Beispiel b.r.o.t., in dem Sie wohnen. Ich möchte aber noch ein anderes Thema ansprechen: In Österreich sind drei Viertel aller Gebäude Ein- und Zweifamilienhäuser. Das ist die teuerste Art des Bauens. 72 Prozent der Objekte, die vor 1991 errichtet wurden, sind sanierungs- bzw. revitalisierungsbedürftig, doch die Sanierungsrate liegt nur bei einem Prozent. Ich glaube, dass darin sehr wohl ein Potenzial für das gemeinschaftliche Wohnen liegt. Immer mehr wird am Stadt- oder Ortsrand gebaut. Die Bestandsaktivierung kann den sogenannten Donut-Effekt, der das Aussterben der Zentren bewirkt, zurückdrängen.
Matzinger
:Die Einfamilienhaussiedlungen sind eine Fehlentwicklung des 20. Jahrhunderts. Aber die Wohnhäuser, die sich in den Orten um die Marktplätze gruppieren, das sind meist auch Häuser für nur eine Familie, die kann man nicht in den gleichen Topf werfen. Diese sollte man aktivieren. Das ist der richtige Weg. Ich gebe Ihnen Recht, da muss man differenzieren.
Wie kann man andere Menschen für das gemeinschaftliche Bauen und Wohnen gewinnen?
Leutgöb
:Ich persönlich will hinaus in die Gesellschaft wirken, als Vorbild und indem wir als Gruppe den Kontakt zur Gemeinde pflegen, uns dort einbringen und Initiativen setzen. Da sehe ich viel Potenzial, um noch mehr in die Breite zu gehen.
Schlögl
:Ich würde mir wünschen, dass in Niederösterreich noch viele Bauten im Sinne des gemeinschaftlichen Wohnens entstehen. Und dass es dafür Unterstützung von Seiten des Landes gibt. So können wir die Ortszentren endlich wiederbeleben.
Matzinger
:Unser Projekt in Strengberg gefällt mir diesbezüglich sehr gut. Dem Bürgermeister gefällt es nicht mehr, wenn Bauträger Grundstücke im Ort kaufen und dort die immer gleichen Einfamilienhäuser errichten. Jetzt ist er sehr angetan von der Idee, einen Vierkanthof umzubauen. Man muss den Leuten zeigen, dass es neben Einfamilienhaus und Massenwohnbau eine dritte Möglichkeit des Wohnens mit Mehrwert und Nachhaltigkeit gibt. Dann kann man sie mitnehmen. Eine Forschungsarbeit besagt, was viele nicht wahrhaben wollen: dass das Einfamilienhaus und das Hochhaus nicht kinderfreundlich sind, dass Kinder vor allem Gemeinschaft suchen. Sie wollen nicht ihr eigenes Schwimmbad im Garten eines Einfamilienhauses, sie wollen Freunde haben. ●○