Kultur • Isolde Chari

„Wir leben in einer sehr verdichteten Zeit"


Die Philosophin Isolde Charim über die Krisen der Gegenwart, die gesellschaftlichen Umwälzungen, den Hang zur Selbstoptimierung und das Diktat der Qual.

Am liebsten würde man Isolde Charim fragen, warum sie in den frühen 1980er-Jahren am Max-Reinhardt- Seminar Regie studierte – und sich erst danach ganz auf die Philosophie konzentrierte. Denn Gemeinsamkeiten haben die beiden Disziplinen für sie nicht wirklich: „Theater ist eine soziale Form, bei der es um Eindrücke, Erlebnisse und Bilder geht. Philosophie ist eine strenge Arbeit am Begriff“, sagt sie. „Das hat nichts miteinander zu tun. Außer man ist Bert Brecht.“

Über sich selbst wiederum will Charim kein Wort verlieren: „Ich spreche öffentlich nie über mich als Person, meine Herkunft oder meine Geschichte. Sie können das als Antwort nehmen – oder aber wir überspringen diese Fragen.“ Wir verweisen also, was ihre Herkunft anbelangt, auf den Wikipedia-Eintrag und beschränken uns auf das Folgende: Isolde Charim, geboren 1959 in Wien, studierte Philosophie in Wien und Berlin, sie war Kuratorin am Bruno Kreisky Forum, lehrte an der Universität Wien und kommentiert das Weltgeschehen aus philosophischer Sicht – unter anderem in ihrer Kolumne für die Wiener Wochenzeitung Falter. 2018 veröffentlichte sie das Buch „Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert“, erst kürzlich folgte die Gesellschaftsanalyse „Die Qualen des Narzissmus“. Zudem erhielt Isolde Charim 2022 den österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik.

Gemeinhin denkt man, dass in der Philosophie lange über ein Problem sinniert wird. Sie schaffen es aber, Woche für Woche im Falter aktuelle Probleme philosophisch zu ergründen. Nach welchen Kriterien wählen Sie Ihre Themen aus?

Isolde Charim:

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Das Thema für eine Kolumne wählt man nach zwei Kriterien aus. Sie werden lachen, aber zunächst einmal braucht es: eine Emotion. Ein Thema muss einen anspringen. Wütend machen, empören, berühren, egal – es muss einen bewegen. Jede Kolumne bedarf einer Emotion. Und zweitens muss einem etwas dazu einfallen. Nicht eine Meinung. Es geht nicht um das Propagieren einer Meinung, sondern um das Entwickeln eines Gedankens. Und da muss man sagen: Man hat definitiv nicht zu allem etwas zu sagen.

Sie sind eine engagierte Kämpferin. Aufgrund der Regierungsbeteiligung der FPÖ gründeten Sie im Februar 2000 mit anderen die Plattform Demokratische Offensive. Diese organisierte eine Demonstration auf dem Wiener Heldenplatz mit mehr als 100.000 Menschen. Sie sahen damals die Demokratie als gefährdet an. Wie interpretieren Sie die gegenwärtige Situation?

Mehr als 100.000? Es waren damals 300.000 am Heldenplatz. Geholfen aber hat es – nichts. Das, was damals noch Anlass zur großen, weit- reichenden Empörung war, ist heute längst zur neuen Normalität geworden. Insofern muss man sagen, dass sich die Situation verschlechtert hat.

Inwiefern? Was das Demokratieverständnis angeht, die Korruption, die Ausländerfeindlichkeit, den Antisemitismus?

Ja. Rechtes Denken ebenso wie antidemokratische Tendenzen gab es natürlich schon. Aber was damals ein Skandalon war, ist heute gesellschaftlicher Mainstream.

Auch wenn Sie betonen, dass Sie „definitiv nicht zu allem etwas zu sagen“ haben: Ihr Themenspektrum hat sich in den letzten Jahren stark erweitert, Sie beschäftigen sich auch mit dem Klimaaktivismus und dem Erstarken des Nationalismus, mit der EU und dem Ukraine-Krieg, mit dem Niedergang der Werte. Hat das mit der gegenwärtigen Zeit zu tun?

Zum einen beschäftigt man sich als Kolumnistin mit den Dingen, die einem zentral für das Zeitgeschehen erscheinen. Und zum anderen leben wir in einer sehr verdichteten Zeit. Gerade im letzten Jahr. Da gab es mehrere Realitätsschübe von mehrfachen Katastrophen – etwa die Pandemie oder den Krieg in der Ukraine.

War Corona der Auslöser? Oder nur ein Verstärker von Tendenzen?

Corona war der völlig unerwartete Einbruch einer unbekannten Realität, der das bisherige gesellschaftliche Gefüge kräftig durcheinander gewirbelt hat. Das hat nicht nur unser aller Selbstverständnis zumindest infrage gestellt, sondern auch die politischen Verhältnisse. Etwa die Rolle des Staates.

Auch die Krisen klingen in Ihren Texten an. Rutschen wir derzeit in eine existenzbedrohliche Krise, in chaotische Zustände? Oder schreiben wir die Krisen nur herbei? Also: Gibt es eine Anhäufung von Krisen – oder interpretieren wir diese Zeit als krisenhafte?

Gemeinhin versteht man unter einer Krise eine Unterbrechung, eine Störung, ein Nichtfunktionieren. Seit Karl Marx wissen wir aber, dass etwa der Kapitalismus gerade durch seine notwendigen Krisen „funktioniert“. Die Krise ist da nicht das Andere der Normalität, sondern vielmehr deren Existenzmodus. Ob wir – und ich nehme an, mit „wir“ meinen Sie: wir hier in Österreich, in Europa – nun in eine existenzbedrohliche Krise schlittern, weiß ich natürlich nicht. Bedrohungsszenarien gibt es etliche. Aber die gibt es immer. Das Besondere derzeit ist wohl das Denken, das Fühlen im Krisenmodus. Das meint nicht ein Herbeischreiben von Krisen, sondern einen Mangel an Sicherheit in Bezug auf die Gegenwart. Es fehlt an Selbstverständlichkeit – in Bezug auf die Gesellschaft, auf die Politik, auf das eigene Sein. Das aber ist mehr eine grundlegende Verun- sicherung als eine Krise.

Sie haben natürlich Recht mit dem, was ich mit „wir“ meinte. Unzweifelhaft ging es „uns“ in Mitteleuropa noch nie so gut – als Allgemeinheit, auch wenn es sehr viele Verlierer, Abgehängte, Arme etc. gibt. Sie kommen in einer Kolumne zum Schluss, dass die aktuellen Krisen gerade den Mittelstand besonders treffen. Könnten Sie das genauer ausführen?

Das meint zum einen, dass die wirtschaftliche Krise – die Inflation ebenso wie die Energiepreise – den Mittelstand ökonomisch trifft. Und zum anderen, dass eben dieser Mittelstand von seiner gesamten mentalen, ideologischen Konstitution, die sich in den letzten Jahrzehnten gebildet hat, denkbar schlecht für diese Krise gerüstet ist. Die zeitgenössische Identität, die gegenwärtige Subjektivität des Mittelstands ist nicht auf Krisen ausgelegt.

Gehört zu dieser grundlegenden Verunsicherung, von der Sie eben sprachen, dass immer mehr Menschen Probleme mit dem eigenen Körper haben, sich in ihrer Haut nicht mehr wohlfühlen, das Geschlecht wechseln möchten?

Ist es nicht vielmehr genau anders herum? Die Konzentration auf sich selbst, auf den eigenen Körper, die Frage nach dem eigenen Geschlecht – all dem unterliegt eben keine Verunsicherung, sondern vielmehr die Überzeugung eines selbstbezüglichen Weltverhältnisses. Dem unterliegt das Selbstverständnis des vorherrschenden Narzissmus. Das ist ein Anspruch – keine Verunsicherung. Die Verunsicherung kommt von außen – wie etwa die Wirtschaftskrise – und stört eben diesen Weltbezug. Eben darum sind wir so schlecht dafür gerüstet.

In Ihrem neuen Buch „Die Qualen des Narzissmus“ analysieren Sie die generelle Bereitschaft des Menschen zur Knechtschaft. Für mich hat das Samuel Beckett in „Endspiel“ auf den Punkt gebracht: Hamm kann nur so lange Herr sein, so lange Clov der Diener ist. Liege ich da falsch?

Ja und nein. Ja, denn Herrschaft ist immer ein dialektisches Verhältnis. Nein, denn in meinem Buch geht es um die heute vorherrschende freiwillige Unterwerfung unter das eigene Ich-Ideal. Da ist kein äußerer Herr mehr.

Der Unterschied zu früher ist aber, dass „wir“ uns keiner Religion mehr unterwerfen – und auch keiner Ethik. Wir unterwerfen uns der Herrschaft des Ich-Ideals. Ist das mehr als nur eine Mode?

Natürlich ist das mehr als eine Mode! Es ist die grundlegende Ideologie unserer Zeit. Das, was unser Weltverhältnis prägt.

Beim Lesen ist mir aufgefallen, dass Sie sehr präzise den Hang zur Vereinzelung, zum kleinen Ich bin Ich beschreiben, aber sehr oft in Wir-Form: „Wir haben ...“ Das ist – jedenfalls für mich – ein Widerspruch. Denn das „Wir“ hat sich ja aufgelöst – aufgrund fehlender Moral oder fehlender Gesetze oder einer fehlenden Ethik. Oder?

Das „Wir“ im Buch ist nur die gängige Höflichkeitsform für den Autor, der sich nicht als Ich hervorheben möchte. Es ist gewissermaßen die grammatikalische Übersetzung der Weigerung, über die eigene Geschichte zu sprechen.

Wenn Sie schreiben, dass die Vereinzelung immer weitergetrieben wird – „bis kein Allgemeines mehr im Einzelnen zu finden ist“: Hängt das auch mit Paul Feyerabends Postulat „Anything goes“ aus den 1970er-Jahren zusammen?

Nein. Das meint nur den Versuch, alles Gesellschaftliche, alle gesellschaftlichen Vorgaben zurückzuweisen und eine reine Selbstdefinition zu behaupten.

Ihre Conclusio lautet: „Die Ideologie des Narzissmus ist eine Sackgasse.“ Wie kommen „wir“ wieder aus ihr raus? Worauf müssten wir uns rückbesinnen?

Das Buch endet mit dem Wort von der Sackgasse, weil es eben nicht die Position einnimmt, hier einen Ausweg zu weisen. Es ist eine Analyse, kein Ratgeber.

Ist diese Ich-Bezogenheit nicht auch ein Ausfluss der westlichen Luxusgesellschaft? Und wären ihr nicht schlagartig Grenzen gesetzt, wenn „wir“, alle gemeinsam, in eine echte, ernstzunehmende Krise rutschen?

Der Narzissmus als gesellschaftliches Phänomen, wie er heute vorherrscht, ist ein Effekt der völlig enthemmten Konkurrenzgesellschaft, die alles und jeden Bereich erfasst hat. Echte Krisen gibt es da natürlich auch – nur sind diese uns nicht gemeinsam. Ein entscheidender Moment ist ja gerade, dass jeder auch in Krisen vereinzelt ist. Eine kollektive Krise könnte das natürlich verändern. Die Frage bleibt nur, ob eine solche Krise als Ausweg, als Lösung wünschenswert wäre.