Standpunkte

Wie können wir von krisenerprobten Gesellschaften lernen?


In jeder Ausgabe stellt morgen drei Menschen, die sich auskennen, eine Frage. Diesmal:

Feinere Antennen für einen Repressionsapparat

Ich beobachte oft eine paternalistische, gönnerhafte Attitüde bei privilegierten Personen, die es sich leisten können, in der Welt herumzureisen, und die andere Gesellschaften als Inspirationsquelle hernehmen, um ihr eigenes Glück voranzutreiben. Ich finde nicht, dass andere Länder dazu da sind, uns satte Europäer zu inspirieren und zu bereichern. Diese Länder brauchen keine „White Saviours“, die glauben, ihre Lage besser einschätzen zu können als sie selbst.

Dennoch halte ich es für wichtig, über den eigenen Tellerrand zu blicken und den Horizont zu erweitern. Wir können viel lernen von Menschen, die in totalitären Regimen leben, aber auch von Minderheiten, die zeit ihres Lebens diskriminiert wurden. Sie haben viel feinere Antennen für einen Repressionsapparat, der ihre Freiheit einschränkt. Wer permanent von einer Macht umgeben ist, die sich ins eigene Leben einmischt, politisiert sich und entwickelt eine Art Dissidentenmentalität.

Ich wünschte, auch in Österreich würden Autoritäten stärker infrage gestellt werden. Die Hörigkeit gegenüber Autoritäten und der extreme vorauseilende Gehorsam irritieren mich sehr. Hier wird es oft schon als mutig empfunden, wenn man sich Vorgesetzten entgegenstellt. Aber es geht um mehr als das. Es alarmiert mich zum Beispiel, wie mäßig schockiert wir Journalisten darüber sind, dass in Deutschland ein riesiges Terrornetzwerk aufgedeckt wurde, das den Staat abschaffen wollte. Was kann denn demokratiebedrohlicher sein als Politiker, Elitesoldaten und Richter, die einen Putsch versuchen?

Diverse Teams, damit alle voneinander lernen

Bei Ärzte ohne Grenzen lernen wir weniger von anderen Gesellschaften als von den Menschen in unseren Einsatzgebieten, die von multiplen Krisen wie Gewalt, Kriegen und anderen Konflikten betroffen sind. Obwohl ihnen oft schon die Kräfte ausgehen, mobilisieren sie unglaubliche Ressourcen. Immer wieder erleben wir, wie Menschen tagelange Fußmärsche auf sich nehmen, um ihre Nachbarn auf einer Bahre zur nächsten Gesundheitsversorgung zu tragen. Daraus können wir lernen, dass Krisen am besten solidarisch zu lösen sind – auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg.

Früher gab es das Bild des weißen Arztes, der ein schwarzes Kind behandelt – davon sind wir weit entfernt. Unsere Teams sind bewusst divers, damit alle so viel wie möglich voneinander lernen, etwa über die Art, wie in anderen Ländern praktiziert wird, welche Diagnosegeräte eingesetzt werden etc. Zwar wurde Ärzte ohne Grenzen von weißen Journalisten und Medizinern gegründet, aber heute haben wir 90 Prozent lokale Mitarbeiter*innen. Der Rest sind internationale Einsatzkräfte. Von ihnen kommt mehr als die Hälfte aus dem globalen Süden.

Bei unseren Einsätzen in Ebola-­Gebieten, etwa dem Kongo und Uganda, konnten wir Erfahrungen sammeln, die auch für die Covid-Pandemie wichtig waren bzw. gewesen wären. Wir haben gesehen, wie wichtig in Krisen klare Kommunikation und vertrauensbildende Maßnahmen sind, die Gesellschaften holistisch wahrnehmen. Bei Covid wurden einige Bedürfnisse der Menschen nicht adressiert, sodass ein Teil der Bevölkerung Maßnahmen nicht verstehen konnte und somit nicht akzeptieren wollte.

In die Zeit unserer Großeltern zurückblicken

Heute ist oft von der größten Krise der Nachkriegszeit die Rede, aber das stimmt so nicht. Österreich steckte nach dem Zweiten Weltkrieg in einer multiplen Krisensituation, bei der es im Unterschied zur heutigen Krise ums nackte Überleben ging. In der Nachkriegszeit gab es 1,6 Millionen Menschen – Flüchtlinge, Vertriebene, Emigranten und Exilanten –, die auf der Suche nach Unterkunft, Nahrung und Kleidung durch das Land zogen. Das war fast ein Viertel der hier ansässigen Bevölkerung – die Republik war praktisch ein einziges Flüchtlingslager.

Da es noch keine Auffanglager und keine humanitären Institutionen gab, hat die Zivilbevölkerung versucht, diese Menschen über Wasser zu halten. Eine weitere Krise gab es im Winter 1946 / 47 vor allem in Wien, wo vulnerable Gruppen vor dem Hungertod standen. Die Lebensmittelzuteilung sah für normal arbeitende Erwachsene 950 Kalorien pro Tag vor. Doch all das ist aus dem historischen Gedächtnis verschwunden.

Es gibt erst seit den 1950er-­Jahren keine gesellschaftlichen Groß­krisen mehr – die Jahrhunderte davor war Europa von permanenten Krisen bestimmt. Aber weil sich der Mensch schneller an Fortschritt als an Rückschritt gewöhnt, erachten wir es heute bereits als Krise, wenn eine halbe Stunde das Internet ausfällt. Es würde schon reichen, in die Zeit unserer Großeltern und Urgroßeltern zu blicken, und vieles, was uns heute Sorge bereitet, würde sich relativieren. Wir können also auch aus unserer eigenen Gesellschaft lernen, wenn wir uns wieder an eine vergessene Zeit erinnern.