Round Table

"Wir brauchen jede Maßnahme, jetzt, sofort, überall"


Corona­-Pandemie, Krieg und Klimawandel – die Welt kommt nicht zur Ruhe. Doch wie wirken sich die multiplen Krisen auf die heimische Kulturbranche aus? Verena Zeiner ist freischaffende Musikerin, Musikwissenschaftlerin Irene Suchy forscht über Komponistinnen und Philipp Stein ist Geschäftsführer von Grafenegg. Mit morgen sprachen sie über gesellschaftliche Verantwortung, neue Perspektiven und die Krise als Chance.

„Pandemie, Ukrainekrieg, Inflation, Klimaängste, Energiesorgen – unter dem wachsenden Druck der Verhältnisse ändern sich nicht nur Bedürfnisse und Prioritäten, sondern auch Gewohnheiten“, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Wie haben sich Ihre Gewohnheiten in den vergangenen drei Jahren verändert?

Verena Zeiner

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Für mich persönlich hat die Krise vieles verbessert. Ich komme aus der freien Szene, wo wir in kleinen Einheiten arbeiten und viele Rollen gleichzeitig erfüllen müssen. Diese Flexibilität hat mir geholfen, rasch auf die Krise zu reagieren. Ich sehe sie als Chance, sich neu auszurichten und Platz für Neues zu schaffen. Gleichzeitig haben wir gesehen, wie viel Potenzial es auf regionaler Ebene gibt, wenn man niemanden mehr einfliegen kann.

Irene Suchy

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Das Radio lief weiter, und das war beruhigend. Ich konnte für die Live-Sendungen ins Studio fahren und musste nicht ausschließlich von zu Hause arbeiten. Mit dem Verein maezenatentum.at haben wir Stadtspaziergänge in Wien organisiert – auf den Spuren Josephine Bakers und anderer afroamerikanischer Musikerinnen. Im Juni war ich im Rahmen einer Ö1-Reise mit 22 Mitreisenden und Ernst Kreneks „Reisebuch aus den österreichischen Alpen“ unterwegs. Die Corona-Lockdowns haben gezeigt, dass wir Menschen viel mehr an die Hand nehmen müssen, um Kultur zu vermitteln.

"Wir haben eine Verantwortung für unsere Freiheit, die wir wahrnehmen müssen."

Wie hat sich Corona auf ein gestandenes Festival wie Grafenegg ausgewirkt?

Philipp Stein:

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Zunächst habe ich entdeckt, dass Zu-Hause-Sein toll ist. Man ist nicht mehr jeden Abend auf einem Konzert und das tut ei-nem gar nicht schlecht. Weil auch andere entdeckt haben, wie toll Zu- Hause-Sein ist, fehlen uns jetzt an ganz vielen Stellen Antworten. Für mich war schnell klar, dass wir als Open-Air-Festival alles daransetzen müssen, im Sommer zu spielen. Also haben wir innerhalb von drei Wochen ein neues Festival aus dem Boden gestampft. Das hängt uns eineinhalb Jahre später immer noch nach. Ich hoffe, dass wir im neuen Jahr wieder genug Energie haben, um den vielen Herausforderungen zu begegnen. Zum Beispiel, ob es Sinn macht, ein Orchester über den Atlantik zu fliegen, damit 2.000 Leute, die mit dem Auto nach Grafenegg fahren, sich das anhören können.

In den Debatten ist immer wieder die Rede davon, ob Kunst und Kultur systemrelevant sind.

Stein:

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Ich habe immer versucht, nicht in meiner Kunstblase zu leben. In Wien wohne ich in Favoriten. Insofern hat es mich zu Beginn der Pandemie nicht überrascht, dass die Kultur als Erstes zugesperrt und als Letztes auch wieder aufgesperrt wurde. Das, was wir in Grafenegg tun, ist für die breite Masse der Bevölkerung auf den ersten Blick bestimmt nicht systemrelevant.

Warum?

Stein

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Weil unsere Spielpläne nur einen Bruchteil der Gesellschaft widerspiegeln. Sonst hätten wir 16 Prozent Migranten, sechs Prozent LGBTIQ und 50 Prozent Frauen auf der Bühne und dann auch im Publikum. Stattdessen sprechen Kulturinstitutionen mit ihrer Kommunikation immer noch nur die Männer im Publikum an, weil sie der Meinung sind, dass ein Gendersternchen die Sprache ruiniert. Gleichzeitig ist es unfassbar schwierig, vielen wichtigen Leuten klarzumachen, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher. Wenn wir Beethovens Klaviersonaten nicht spielen, haben wir jetzt vielleicht 20 Prozent weniger Publikum. Wenn wir ausschließlich Beethoven aufs Programm setzen, haben wir in zehn Jahren niemanden mehr in den Konzerten sitzen.

"Kunst hilft uns, mentale und emotionale Stärke zu entwickeln."

Was bleibt vom Künstler als Menschen, wenn er plötzlich seine Kunst verliert?

Zeiner:

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Ich habe es nie so empfunden. Das, was ich als Künstlerin die meiste Zeit tue, ist, mich alleine mit meiner Musik zu beschäftigen. Die Frage, ob und für wen das Sinn macht, muss ich mir ständig stellen. Und ich komme immer wieder zu dem Schluss, dass es für mich Sinn macht. Meine Kunst macht mich zu einem stabileren Menschen. Und als stabiler Mensch kann ich etwas für die Gesellschaft tun. Wenn ich meine Musik mache, bin ich im Flow. Das mag auf den ersten Blick nicht für alle relevant sein, aber es ist erstaunlich, wie viele Lösungen ich finde, um mit Krisen umzugehen.

Suchy:

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Gerade in der freien Szene hat die Pandemie dazu geführt, dass Gender-Balance oder Fair Pay stärker in den Fokus gerückt sind. Ich habe in den vergangenen 30 Jahren erlebt, wie Frauen belästigt und bedrängt und von niemandem davor geschützt wurden. Plattformen wie die Interessensgemeinschaft Freie Musikschaffende haben durch ihre Arbeit bewirkt, dass diese Themen endlich manifest wurden. Gleichzeitig muss ich die großen Kuratoren ein bisschen vom Sockel stoßen. Sie haben versäumt, Gender-Balance und Diversität in das Musikleben zu integrieren. Mich hat das Musikangebot in den letzten Jahren oft zu wenig betroffen. Ich möchte von den Organisatoren des Musiklebens hören, warum das, was sie programmieren, relevant ist.

Zeiner:

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Ich habe das Gefühl, wir behandeln die Leute, die in die Konzerte gehen, oft wie kleine Kinder. Dabei können wir ihnen viel mehr zutrauen. In Feldkirch gibt es zum Beispiel die Kammermusikreihe „Pforte“, die in der Programmgestaltung immer darauf Wert legt, Werke von vergangenen mit Werken von zeitgenössischen und lebenden Komponisten zu kombinieren. Die Konzerte sind immer sehr gut besucht. Leider ist es mittlerweile so, dass die Institutionen den Kunstschaffenden vorgeben, in welche Richtung sie arbeiten müssen, damit sie in ihre Programme passen. Und wir sind auf diesen Zug aufgesprungen. Ich wünsche mir offene Ausschreibungen. Ich wünsche mir, dass die Institutionen und Geldgeber mir wieder vertrauen.

In Grafenegg gibt es jedes Jahr einen Composer in Residence. Es gibt Uraufführungen und einen Kompositionsworkshop für junge Menschen. Wie wird die zeitgenössische Musik vom Publikum angenommen?

Stein:

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Wir tun uns sehr schwer, zeitgenössische Musik zu verkaufen, weil wir unserem Publikum beige-bracht haben, dass nur ganz wenige Dinge wirklich interessant sind. Gleichzeitig mit Grafenegg ist die Casa da Música in der portugiesischen Stadt Porto eröffnet worden. Dort gibt es drei Residenzorchester: ein symphonisches Orchester, ein Ensemble für Neue Musik und ein Barockorchester. Dort wird in jedem Konzert zeitgenössische Musik gespielt, weil ein Beethoven alleine niemanden hinter dem Ofen hervorlockt. Wir in Grafenegg haben uns in den letzten 15 Jahren nur um ein gewisses Repertoire gekümmert. Ich arbeite stark daran, dass wir auch die zeitgenössische Schiene ernster nehmen und sie gegenüber unserem Publikum vertreten. Es ist absurd, dass wir als Kulturinstitutionen immer konsequent die falsche Sprache sprechen. Mit unseren Geldgebern reden wir über Kunst und nicht über Umwegrentabilität, unserem Publikum versprechen wir exklusive Erlebnisse und erklären unsere Inhalte nicht.

Zeiner:

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Auf der anderen Seite frage ich mich, warum die Infrastruktur hoch subventionierter Häuser nicht zu bestimmten Zeiten von der freien Szene genutzt werden kann. Wenn so viel öffentliches Geld fließt, braucht es viel strengere Auflagen. Eine davon sollte sein, dass man sich auch um lebende Kunstschaffende kümmert und sich dafür vielleicht ein Beethoven- oder ein Strauss-Jahr spart.

Müssen wir unseren Begriff von Kultur und ihren Institutionen überdenken?

Zeiner:

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Ich denke, dass wir anfangen müssen, in der Gesellschaft anders zu denken. Natürlich kommt das Publikum nicht von einem Tag auf den anderen. Die Frage ist vielmehr, welche Rolle Kunst im Leben eines Menschen von Geburt an spielt und wie wir in der Politik verankern, dass Kunst ein ebenso wertvoller Teil des Lebens ist wie Physik und Mathematik. Kunst hilft uns, mentale und emotionale Stärke zu entwickeln. Sie macht uns resilienter gegen Krisen.

Suchy:

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Ich glaube an Konzerte, wo Menschen den Platz und die Distanz frei wählen können, wie zum Beispiel bei Wandelkonzerten in Museen. Und wir sollten uns viel mehr mit Themen beschäftigen, die uns betreffen. Ich habe zwei Konzerte mit neuer Musik aus der Ukraine veranstaltet. Es hat die Menschen interessiert, ein Stück von einer Komponistin aus Odessa zu hören, die am Tag nur zwei Stunden Strom hat. Wir müssen in der Musikprogrammierung wieder näher an die Welt rücken.

"Wir müssen in der Musikprogrammierung wieder näher an die Welt Rücken."

Haben Kunstschaffende und Kulturinstitutionen die moralische Pflicht, Stellung zum Krieg zu beziehen?

Stein:

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Wir haben eine Verantwortung für unsere Freiheit, die wir wahrnehmen müssen. Wenn wir von Werten sprechen und gleichzeitig Leute engagieren, die von den Kriegstreibern aus Moskau finanziert werden, frage ich mich, wo dieser Zug hinfährt. Umgekehrt ist es vollkommen absurd zu sagen, Tschaikowski spielen wir nicht mehr, weil er Russe ist. Und jemanden auszuladen, nur weil er einen russischen Namen hat, ist keine Kultur, sondern Barbarei. Der Krieg in der Ukraine hat nicht erst am 24. Februar begonnen, sondern schon 2014. Trotzdem war es kein Problem, Gazprom als Sponsor zu haben oder Valery Gergiev einzuladen – obwohl das schon damals ganz klar propagandistische Arbeit war.

Suchy:

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Ich habe mich sehr gefreut, dass der diesjährige Friedensnobelpreis an drei Aktivisten bzw. Menschenrechtsorganisationen aus Belarus, Russland und der Ukraine verliehen wurde. Wir müssen die Ukraine unterstützen und versuchen, die Brücken nach Russland zu erhalten. Vor allem Künstlerinnen sind dort einem enormen Druck ausgesetzt. Irgendwann wird der Krieg in der Ukraine zu Ende sein. Schauen wir, dass wir eine gute Nachkriegszeit für die Menschen bauen.

Mitglieder der Letzten Generation haben sich zuletzt am Dirigentenpult in der Elbphilharmonie festgeklebt. Herr Stein, fürchten Sie sich vor Aktionen in Grafenegg?

Stein:

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Wenn die Klimakatastrophe in dem Tempo voranschreitet, haben wir ganz andere Probleme, dann brauchen wir keine Kulturinstitutionen mehr, da die Welt dann sowieso Kopf steht. Eigentlich müssten wir uns alle längst viel intensiver mit dem Problem Klimakatastrophe und mit Lösungsmöglichkeiten auseinandersetzen. Grafenegg ist von der Trockenheit akut betroffen. Wir müssen einen Hydranten tiefer graben, weil es kein Grundwasser mehr gibt, und die Bäume sterben, weil sie im Trockenen stehen. Schon die Mobilität ist ein großes Problem, da nach Grafenegg fast alle mit dem Auto anreisen müssen. Wir sind gezwungen aus dem Kulturbudget einen Shuttlebus einzurichten, weil kein öffentlicher Verkehr fährt.

Braucht die Kultur einen „Green Deal“?

Suchy:

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Die Komponistinnen und Komponisten wussten schon immer, was sie an der Natur haben. Denken wir an die Bilder von Brahms in Aussee oder an den spazierenden Beethoven mit den Händen im Rücken. Die Komponierhäuschen von Gustav Mahler am Attersee oder in Toblach mitten in der Natur sind heute Pilgerstätten des Musikpublikums. Das Thema ist längst da, man muss es nur aufgreifen. Leider ist der Musikbetrieb schwerfällig und feige. Feige, wenn es darum geht, unangenehme Fragen zu stellen. Zu schwerfällig, um Dinge nachhaltig zu verändern.

Zeiner:

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Ich glaube, wir müssen uns davon verabschieden, nach einfachen Lösungen zu suchen, die für alle funktionieren. Die Welt ist komplex, und wir müssen lernen, mit dieser Komplexität umzugehen. Wenn wir uns jetzt über die Letzte Generation empören, weil sie sich an Straßen oder Kunstwerken festklebt, sollte uns klar sein, dass wir erst am Anfang einer Bewegung stehen. Die jungen Menschen werden keine Ruhe mehr geben – zu Recht. Es wird schmerzhaft, aber es wird gut.

Stein:

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Wir brauchen jede Maßnahme, jetzt, sofort, überall.