Mittels Gesprächen zu Entscheidungen finden: Alexander Wandruszka, Renate Kolm und Monika Wandruszka vom Ökotopischen Zentrum in Maria Lanzendorf
Mittels Gesprächen zu Entscheidungen finden: Alexander Wandruszka, Renate Kolm und Monika Wandruszka vom Ökotopischen Zentrum in Maria Lanzendorf

Gesellschaft • Wohnprojekte

Reden, reden, reden


Gemeinschaftliche Wohnprojekte verfügen häufig über große Expertise im Umgang mit Krisen. Viele Ent­scheidungen und Konflikte begleiten ihren Weg – von der Idee bis zum Einzug in ein Projekt. Aber auch der Alltag einer solchen Gemeinschaft erfordert dauernde Kommunikation. Ein Besuch.

Zwei Löwenköpfe auf einem großen Metalltor bewachen den Eingang. „Achtung, frisch gestrichen“, sagt Alexander Wandruszka, ein Bewohner des Ökotopischen Zentrums. Die mächtige Linde im Hof reckt ihre Äste in den Nebel, im Sommer sitzen alle unter ihrer dichten Laubkrone im Freien. 1980 kaufte der Verein Leben und Umwelt das Areal einer ehemaligen Trikotfabrik in Maria Lanzendorf, kurz danach wurde das Tor zum ersten Mal gestrichen. 20 Erwachsene und zehn Kinder zogen ein, jeden Tag kochte jemand anderer in der einzigen vorhandenen Küche. Auf die Anfangseuphorie folgten die Mühen der Ebene. Für einige passte es nicht, der erste Einschnitt. Paare trennten sich, ein Drittel verließ die Gruppe.

Die Diskussionen dauern manchmal sehr lang, aber irgendwie lösen sich die Dinge immer.

Jeden Monat eine Sitzung

Man inserierte in der Wiener Wochenzeitung Falter. Nach dem Probewohnen zogen neue Mitglieder ein, eroberten sich Arbeiter- und Herrenhaus, die riesige Fabrik mit ihren drei Stockwerken und hohen Räumen. Sie liegt an der Schwechat und war früher eine Mühle. Die Menschen formten das Areal um, nisteten sich ein, erneuerten, ließen los, zogen weiter. Ihre Spuren prägen den Ort. Jeden Monat eine Sitzung, ohne Zwang zur Teilnahme. „Die Diskussionen dauern manchmal sehr lang, aber irgendwie lösen sich die Dinge immer“, sagt Psychologin und Bewohnerin Ulrike Tiefenthaler-Gilmer.

Viel Entgegenkommen

Auch Renate Kolm lebt hier, seit 1988. Mit etwa 40 Jahren hatte sie aus heiterem Himmel einen beidseitigen Schlaganfall. „Ich merke, dass ihr seither anders seid“, sagt sie zur Gruppe. Sie wohnt im zweiten Stock. „Ich kann mich schwer ausdrücken, sobald ich rauf oder runter will, brauche ich zwei Leute und muss anrufen, ob sie Zeit haben.“ Alexander und Fritz Ruprechter, der auch hier wohnt, haben sie mit großer Rücksicht über die Treppen getragen, damit sie bei unserem Gespräch dabei sein kann.

„Wir mussten entscheiden, ob Renate in eine Pflegeeinrichtung kommt“, sagt Ulrike. „Wir wollten ihr das Hierbleiben ermöglichen.“ Die Gruppe baute die Wohnung behindertengerecht um, sodass nun eine 20-Stunden-Betreuung darin leben kann. Renate hätte so viel Entgegenkommen nicht erwartet, sie weiß es zu schätzen. Schwierig bleibt es dennoch.

Die Möglichkeiten der alten Fabrik und des großen Areals tragen stark zur Resilienz der Gruppe bei, sie lassen viel Veränderung zu. Ein Lift würde den Spielraum deutlich erweitern. Im „Beisl“, einem einfachen, alten Haus, stehen ausgemusterte Kinositzreihen, Bierkisten, sechs Kühlschränke, eine Bar. Es bietet die Infrastruktur für Feste. Die Sommerfeste im Hof sind legendär, das größte dauerte drei Tage, 500 Leute waren da. Das 40-Jahr-Jubiläum fiel Corona zum Opfer. Die Pandemie war für alle hart, die Entscheidung über den Umgang damit fiel – wie alles hier – kollektiv. Die Gruppe orientierte sich an den Schwächsten, monatliche Sitzungen fanden online statt.

Gabriela Ludescher lernte Lan zendorf 1982 bei einem Sommerfest kennen. „Ich dachte sofort: Da möchte ich leben.“ Sie überredete Alexander Wandruszka, der damals ihr Freund war, zum Umzug. Die beiden kamen im November, es war nasskalt und grau. „Eine Frau im Arbeitsoverall schüttete heißes Wasser in den Hof, wie auf einer Kolchose.“ Beim Aufnahmegespräch saßen auch zwei Sannyasins in roten Gewändern. Gabriela war irritiert, doch sie blieb. Hier toleriert man private Lebensentwürfe, die Sannyasin-Mode ging vorüber, wie sie gekommen war. Die meisten der Bewohnerinnen und Bewohner stammen noch aus der Gründungsphase, sie sind 50 bis 60 plus. „Wir redeten sehr viel darüber, ob wir jetzt eine Alters-WG werden wollen“, sagt Gabriela. „Es gab intensive Diskussionen und Streitereien, wir kamen auf keinen grünen Zweig.“

Jeder wollte, dass Junge einziehen, es war das Wie, das entzweite. Einige waren dafür, proaktiv Wohnungen für junge Leute auszubauen. Die anderen fanden das nicht gut, weil Einsteigende bis dato immer ihren eigenen Wohnraum mitgestaltet hatten. „Wir nehmen uns viel Zeit zum Reden“, sagt Monika Wandruszka, eine Frau der ersten Stunde. „Entscheidungen müssen auch nicht sofort getroffen werden.“ Drei Jahre dauerte es, bis eine Lösung für einen gemächlichen Generationenwechsel gefunden war. Die Gruppe räumte einen Teil ihres Lagers im dritten Stock, um dort Raum für zwei junge Familien zu schaffen.

Erst skeptisch, dann begeistert

Julia Wittmann (32) kam im Ökotopischen Zentrum als Hausgeburt zur Welt, wie ihr Baby jetzt. „Eine schönere Kindheit gibt es nicht.“ Mit 19 zog sie nach Wien, 2015 starb die Mutter, dem Vater war die Wohnung zu groß, er machte sie gern für seine Tochter, deren Freund und ihre zwei Kinder frei. Der Freund war erst skeptisch, dann begeistert. Der Vater lebt jetzt in einem Zimmer unterm Dach. Dort stört sein Saxophonspiel keinen. Nicht optimal, aber tragbar. Der souveräne Umgang mit temporären Lösungen und die ständige Suche nach besseren ist hier eine gelebte Strategie. „Das ist wohl ein Grund, warum es uns noch gibt.“

Derzeit wohnen 32 Erwachsene und acht Kinder in der Anlage, das jüngste ist drei Monate, das älteste 18 Jahre. Seit Kurzem gibt es eine Pelletsheizung. Der Weg zu so viel Komfort führte über Stroh und Holz. „Die riesigen Scheite musste man alle drei bis vier Stunden nachlegen“, sagt Gabriela. „Jeder hatte einen Tag im Monat Heizdienst. Wenn Leute darauf vergaßen, war es kalt.“ Inzwischen wird überlegt, das kleine Wasserkraftwerk der einstigen Textilfabrik wieder in Stand zu setzen. Die Diskussion darüber begleitet das Ökotopische Zentrum seit seiner Gründung. „Da könnten wir dreimal so viel Strom erzeugen, wie wir brauchen“, sagt Alexander. Den Jungen ist es ein großes Anliegen. Sie werden es durchsetzen.

Man macht als Gruppe einen gemeinsamen Entwicklungsprozess durch, der sehr anspruchsvoll ist.

Kultur der Wertschätzung

Katharina Lechthaler ist systemische Beraterin und Soziokratie-Expertin. Sie hat viele Gemeinschaftsprojekte besucht und begleitet. Seit etwa zehn Jahren lebt sie im Cohousing-Projekt Pomali in Oberwölbing, dessen Aufbau sie maßgeblich mitgestaltete. „Wir wollten gleichwertig sein, daher waren wir basisdemokratisch organisiert“, sagt sie. In der Praxis bildeten sich bald informelle Hierarchien. Sind Organisationstrukturen unklar, können informelle und verborgene Machtverhältnisse entstehen. „Das ist verheerend, weil es Vertrauen untergräbt“, weiß Lechthaler.

Als besonders praktikabel für Gemeinschaftsprojekte erwies sich die Soziokratie. „Das ist eine Organisationsmethode, die unter anderem auf dem Konsent zur Entscheidungsfindung beruht. Ein Vorschlag wird gemacht, Information erfragt, jeder kommt dran.“ Auch Leisere haben hier das Wort, alle wissen genug, um auf profunder Grundlage entscheiden zu können. Der Vorgang ist moderiert, Einwände werden integriert und Vorschläge angepasst, bis jeder und jede sie mittragen kann. Generell gilt: Spannungen nicht übergehen und einen sicheren Raum schaffen, um sie zu lösen. Lechthaler beschäftigt sich auch mit den Wirkweisen von Systemen. Ihrer Erfahrung nach kommt es zu Krisen, wenn diese nicht beachtet werden. „Man macht als Gruppe einen gemeinsamen Entwicklungsprozess durch, der sehr anspruchsvoll ist und von extern begleitet werden sollte. Wichtig ist immer eine Kultur der Wertschätzung.“

Schauplatzwechsel. Etwa eine Viertelstunde geht man vom Bahnhof Pressbaum zur gemeinschaftlichen Wohnanlage B.R.O.T. Zehn wesensverwandte Holzhäuser, annähernd gleich groß, stehen wie eine Herde im Hang. Ihre wettergegerbten Fassaden aus rauer Lärche sind längst in die hügelige Landschaft eingewachsen. Das elfte ist gemauert und weiß: das Gemeinschaftshaus. Hier gibt es unter anderem einen Kinderraum, ein Atelier und
einen Saal mit Kochinsel. Hier wird gemeinsam gegessen, getagt, geturnt, gemalt, gespielt, entschieden. Es finden Kinoabende und Veranstaltungen statt. Das zweite verputzte Gebäude, das „Haus der Stille“, baute die Gruppe selbst. Aus Holz, Stroh und Lehm. Religiöse Symbole gibt es keine, große Fenster holen die Natur herein. Die Straße zwischen den Häusern ist breit, autofrei, ein Paradies für Kinder. Am Ende liegt ein Biotop – der Schwimmteich.

Die Genese der Gemeinschaft B.R.O.T.-Pressbaum ist unorthodox. Die Pfarre Pressbaum wollte ihren Hanggrund am Haitzawinkel sinnvoll nutzen und verpachten. Sie kontaktierte Helmuth Schattovits, den Gründer des B.R.O.T.-Verbandes.

B.R.O.T. ist kurz für „beten, reden, offen sein, teilen“, auch das erste B.R.O.T.-Haus in der Hernalser Geblergasse steht auf pfarreigenem Pachtgrund. Seit 1990 lebt dort eine Gemeinschaft solidarisch, selbstorganisiert und generationenübergreifend christliche Werte und Spiritualität. In Wien gibt es zwei Folgeprojekte, Schattovits war begeistert, die B.R.O.T.-Idee aufs Land zu tragen, Architekt Peter Nageler vom Büro Nonconform ebenso begeistert, das Projekt zu planen.

Unser Leitbild kostete uns einige Gemeinschaftswochenenden.

Begegnen statt beten

Grundstück und Architekt waren da, die Gruppe musste sich erst formieren. 2014 konstituierte sich der Verein Gemeinschaft B.R.O.T.- Pressbaum, der das „B“ für „beten“ mittels systemischen Konsensierens in „begegnen“ umwandelte. Dieses Wort stieß auf den geringsten Widerstand. „Für mich wäre ,beten‘ ein Grund gewesen, nicht mitzumachen“, sagt Stefan Fittner, der mit Frau und vier Kindern hier lebt. „Anderen war es wichtig. Wir wollten inklusiv sein, mit oder ohne Bezug zur Spiritualität.“ Derzeit leben 59 Erwachsene mit etwa 50 Kindern im Gemeinschaftsprojekt B.R.O.T.-Pressbaum. Die Häuser sind Vereinseigentum, die Bewohnerinnen und Bewohner sowohl Vereinsmitglieder als auch Nutzungsberechtigte. Das Wohnen sollte sie monatlich maximal elf bis zwölf Euro pro Quadratmeter kosten. Es brauchte also eine kritische Größe, um die Leistbarkeit zu garantieren.

Gemeinsame Werte

Von Anfang an gab es vier Kernarbeitsgruppen – je eine für Finanzen, Bauen, Gemeinschaft und Öffentlichkeitsarbeit. Man ging aktiv auf Interessierte zu. Marianne Eder wuchs auf einem Bauernhof auf und wollte mit ihren zwei Söhnen am Land leben. Die erste Vollversammlung, an der sie teilnahm, dauerte fast zwölf Stunden. Sie fand im B.R.O.T.-Haus in der Geblergasse statt, es ging um „arge Themen“. Etwa um Finanzielles oder die gemeinsamen Werte. „Die Emotionen sind nur so herumgeflogen“, erzählt Marianne. „Am Schluss gab es einen Konsens. Es ist sehr beeindruckend, dass das funktionieren kann.“

Die Gruppe teilt sich vieles, die Organisationsstruktur dafür wird laufend verfeinert. Um Gäste vom Bahnhof abzuholen, reservierte Johanna Leutgöb (siehe auch unser Round-Table-Gespräch in Heft 1/2019) das vereinseigene Elektroauto. Der Zug hatte Verspätung, sofort sah sie in ihrer App nach, ob jemand nach ihr das Fahrzeug gebucht hatte. Wäre das der Fall, würde sie Bescheid geben – hier hat schließlich jeder die Telefonnummer der anderen. Johanna ist systemische Organisationsberaterin und im Vorstand der Initiative Gemeinsam Bauen & Wohnen aktiv. Jahrelang lebte sie im Ökotopischen Zentrum in Maria Lanzendorf. Ausschlaggebend für ihren Auszug war unter anderem die dortige Überalterung. „Auf uns kommt das auch noch zu“, scherzt der erst 40-jährige Fittner.

„Unser Leitbild kostete uns einige Gemeinschaftswochenenden“, erzählt Vereinssprecher Thomas Wibmer. „Wir mussten auf einen gemeinsamen Nenner kommen, wie wir Lösungen suchen.“ Elemente aus der Soziokratie helfen dabei. Den Ausschlag gibt, dass alle mitkönnen. Gravierende Einwände müssen aus dem Weg geräumt werden, wesentliche Fragestellungen sind: Wo ist der Widerstand? Was braucht es, ihm zu begegnen? In besonders schwierigen Fällen wird eine externe Moderation zugezogen.

Im Gemeinschaftshaus hängt ein Zettel mit dem Leitbild. Ressourcenschonend und in lebendiger Nachbarschaft leben, steht da unter anderem. Außerdem war klar, dass es Konflikte geben würde. Vorsorgend erstellte die Gruppe daher einen Leitfaden zur Konfliktlösung. Es gibt ein eigenes Format dafür: den „Begegnungsraum“. Und eine Arbeitsgruppe, an die man sich wenden kann. „Wesentlich ist ein respektvoller Umgang miteinander und dass man Konflikte anspricht“, sagt Johanna. „Dass wer einfach heimrennt, ist sehr selten. Man diskutiert in einem anderen Rahmen weiter“, ergänzt Thomas.

Corona forderte auch das Wohnprojekt B.R.O.T. heraus. „Wir hielten uns an die gesetzlichen Vorgaben, nicht mehr und nicht weniger“, erinnert sich Thomas. „Es gab viel Hilfsbereitschaft für Erkrankte. Man kaufte für sie ein und kochte für sie.“ Auch hier werden unterschiedliche Lebensentwürfe respektiert. Dazu zählte der individuelle Umgang mit Covid. Die gemeinsamen Werte werden immer wieder der aktuellen Lebensrealität angepasst.

Soziokratie, undogmatisch

Der Schwimmteich wurde angelegt, bevor soziokratische Elemente in das B.R.O.T.-Organisationsmodell integriert worden waren. Einige hatten Vorbehalte gegen seine Errichtung, sie wurden von einer klaren Mehrheit überstimmt. Es machte einfach am meisten Sinn, das Biotop noch während der Bauphase anzulegen. Nach den Spielregeln der Soziokratie wäre es vielleicht nicht umgesetzt worden, auch wenn die Gruppe die Methode undogmatisch handhabt. Viele nutzen den Schwimmteich nun sehr gern. Besonders die Kinder. Manche Entscheidung erweist sich eben erst im Nachhinein als genau richtig.