Festspielhaus St. Pölten

Berühren und berührt werden


Die Umarmung sei das zentrale Motiv ihrer ersten Saison als künstlerische Leiterin am Festspielhaus St. Pölten, schreibt Bettina Masuch in einem Statement zum aktuellen Programm des Hauses. In Anbetracht weltweiter Krisen und kriegerischer Auseinandersetzungen, großer Umbrüche,

der Angst und der Unsicherheit stehe die Umarmung „für ein Festspielhaus der Mitte, [...] für berühren und berührt werden“, so die renommierte Tanzexpertin. Seit seiner Eröffnung 1997 hat sich der architektonisch auffällige Bau als Ort für zeitgenössischen internationalen Tanz einen Namen gemacht. Aber nicht nur damit: Auch Konzerte von Größen aus Klassik, Jazz und Pop sowie Cirque Nouveau finden hier statt. Mit den Tonkünstlern hat das Festspielhaus überdies ein eigenes Residenzorchester.

Auf den folgenden Seiten erfahren Sie mehr über einige jener Menschen, die – neben Masuch – dazu beitragen, dass sich das Festspielhaus St. Pölten als „Ort der aktiven Begegnung in Tanz, Musik und Architektur“ versteht, sowie über den gefeierten belgischen Choreografen Jan Martens, der im März sein jüngstes Stück „Futur proche“ in einer Österreich-Premiere nach St. Pölten bringt.

Hinter den Kulissen

Bühnenmenschen


Im Festspielhaus ist nicht nur das Bühnenprogramm breit gefächert. Auch die Tätigkeitsfelder der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinter den Kulissen sind abwechslungsreich. morgen war mit fünf Personen des rund 50-köpfigen Kernteams im Haus unterwegs, um Einblick in ihre Arbeit zu gewinnen – und erfuhr, was sie daran besonders begeistert.

Eva Swoboda, Bühnenmeisterin

Ich bin als Leiterin der Abteilung Bühne ver- antwortlich für den Aufbau diverser Deko- rationsteile, und wenn sich während einer Show etwas bewegt, auch dafür. Wir sind zu viert in meinem Team, das neben mir aus meinem Stellvertreter und zwei Bühnenar- beitern besteht. Darüber hinaus gibt es noch Mitarbeiter, die angemietet werden. Wie die Bühne auszusehen hat, ergibt sich durch die Veranstaltungen, die auf Gastspiel kommen. Ich erkundige mich bei den Kompanien, was sie spielen und was sie für ihr Bühnenbild brauchen. Dann zeichne ich in meinem Büro Pläne und bereite alles vor. Für mich bedeu- tet das auch viel Kommunikation via E-Mail im Vorfeld, ich arbeite aber auch unten auf der Bühne. Als Bühnenmeisterin ist man immer mit den technischen Mitarbeitenden der Kompanien im Austausch und versucht gemeinsam, die Pläne umzusetzen.

Seit ungefähr acht Jahren bin ich nun im Festspielhaus, vorher arbeitete ich beim Art for Art Theaterservice an den Bundes- theatern. Das ergab sich mehr oder weniger zufällig. Mein Studium schloss ich in etwas ganz anderem ab – an der Universität für Bodenkultur. Danach machte ich dann aber rund zehn Jahre lang den technischen Aufbau beim Life Ball, so kam ich auf die Aus- bildung zur Bühnenmeisterin.

Am meisten mag ich es, wenn es auf der Bühne viel zu tun gibt und nicht nur ein schwarzer Aushang zu sehen ist. Seit Sep- tember haben wir einen neuen Schnürboden mit elektrischen Zügen, den man per Knopf- druck vom Rand der großen Bühne aus steu- ern kann. Das macht es noch netter, wenn sich beim Bühnenbild etwas tut, weil wir nun noch mehr technische Möglichkeiten haben. Wie lange wir für einen Bühnenauf- bau brauchen, ist sehr unterschiedlich: Mal sind es vier Stunden, bei großen Dekoratio- nen kann es zwei Tage dauern, bis die Pro- ben beginnen. Die Bühnentechnik geht mit den Abteilungen für Licht und Ton Hand in Hand. Es ist sehr abwechslungsreich und wird auch nie langweilig, weil immer eine andere Kompanie im Haus ist.


Wir haben nun noch mehr Möglichkeiten.

Ahmet Bayazit, Hausorganisation, Vermietungen

Ich bin für die Abenddienste verantwort- lich, für Vermietungen und die Reinigung. Das nennt man bei uns Hausorganisation: ein weiter Begriff. Es ist noch mehr dabei, zum Beispiel Caterings und Transfers für Künstlerinnen und Künstler. Ich koordi- niere in diesen Bereichen, dass alles gut funktioniert. Bei Abenddiensten achte ich darauf, dass die Leute zufrieden nach Hau- se gehen und hoffentlich wiederkommen. Wenn vor einer Veranstaltung alles fertig ist, gebe ich bei der Tür das Handzeichen, dass es losgeht – schon eine bekannte Ges- te. Vorher mache ich die Diensteinteilung und Briefings, wer was und wann macht: von Garderobe bis Platzanweisung. Ich schule auch die Neuen ein. Das waren si- cher schon Tausende ...

Ich bin – als Dienstältester – seit 25 Jahren im Festspielhaus. Von der Baustel- le weg. Zuvor arbeitete ich in der Bühne im Hof. Nach St. Pölten kam ich damals durch das Haus, das ich mir am Land gekauft habe. In Wien hatte ich Betriebswirtschaft studiert und dann zwei Geschäfte betrie- ben, einen Bioladen und einen Handel mit Kunsthandwerk. Verschiedene Theater-

mehr Zeit für diese Leidenschaft. Fad wird mir nicht – ich bin auch Bogenbauer und Messerschmied.

Im Festspielhaus interessiert mich der Kontakt zu Künstlerinnen und Künstlern sehr. Ich höre gern Geschichten von ihnen und habe viele kennengelernt – da könnte 30 ich Bücher schreiben. Einmal hatte ich die Möglichkeit, mich mit H. C. Artmann zu unterhalten. Er hat seine Zigarettenschach- tel vergessen, die habe ich noch. Auch am modernen Tanz bin ich interessiert, ruhig

„Da könnte ich Bücher schreiben!“

sitzen und zuschauen kann ich aber nicht. Ich bin im ganzen Haus unterwegs und es gibt auch viel Büroarbeit, Buchhaltung und so weiter. Wegen der Energiekrise müssen wir jetzt sparen. Wir haben ein tolles Publi- kum und wollen es natürlich nicht verlie- ren, weil es kalt ist.


Da könnte ich Bücher schreiben!

Constanze Eiselt, Leitung künstlerisches Produktionsbüro

Ich habe hier ein etwas ungewöhnliches Berufsprofil. Mein Hauptjob ist die Leitung des künstlerischen Produktionsbüros. Ich bin aber auch Musikkuratorin und Prokuristin, arbeite also an der Schnittstelle von Inhalt, Verwaltung und Management. Das ist sehr spannend. Ich komme aus dem Musikbereich, wuchs mit klassischer Musik auf und war lange Tourmanagerin für internationale Künstlerinnen und Künstler der Genres Weltmusik und Jazz. So war ich weltweit unterwegs und lebte auch in Brasilien. Bevor ich ins Festspielhaus kam, leitete ich drei Jahre das Festival Kulturarena in Jena.

Ursprünglich studierte ich Kunstgeschichte, Lateinamerikanistik und Afrikanistik. Das hat nur peripher mit meinem Job zu tun, aber es war horizonterweiternd. In das Managen von Tourneen bin ich zufällig reingerutscht. Jetzt habe ich die Seiten gewechselt. Wenn Tourbusse hier sind, bekomme ich schon manchmal Sehnsucht. Mittlerweile bin ich elf Jahre im Haus. Der größte Gewinn an meiner Arbeit ist, dass ich ein neues Genre für mich entdeckt habe: den zeitgenössischen

Kommunikation, wir fixieren Gastspiele und klären Konditionen, erstellen Zeitpläne und Verträge, sind verantwortlich für die Logistik und die Ansprechpartnerinnen für Agenturen und Kunstschaffende. Die Organisation passiert in Abstimmung mit der künstlerischen Leitung. Auch mit Bettina Masuch, der neuen Leiterin, ist das eine gute und direkte Zusam- menarbeit. In meiner Rolle als Musikkuratorin tausche ich mich mit ihr aus und wir basteln am Programm.

Was ich derzeit spüre: Besonders für den Nachwuchs wird es schwieriger, Auftritte zu bekommen. Für mich ist es auch unser Auftrag, jungen Künstlerinnen und Künstlern eine Bühne zu bieten. Gerade in dieser Krisenzeit, die diese Generation so mitnimmt.


Für den Nachwuchs wird es schwieriger.

Leonie Humitsch, Kulturvermittlung und Outreach

Ich bin zeitgenössische Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin. Ich studierte am Konservatorium Wien und war ab 2010 selbstständig tätig, habe unterrichtet und mit meinem Verein freitanz Projekte verwirklicht. Dieser ist in Kärnten situiert, von dort komme ich ursprünglich. Danach habe ich in Wien gewohnt. Aktuell lebe ich etwas außerhalb der Stadt und pendle nach St. Pölten. Ans Festspielhaus kam ich durch eine körperliche Einschränkung, wegen der ich nicht mehr so viel aktiv tanzen kann. Aber es ist auch schon immer meine Mission, Menschen den zeitgenössischen Tanz näherzubringen und sie daran teilhaben zu lassen. Somit ergab sich die Stelle hier super auf meinem Weg.

Ich bin relativ neu im Haus: Vorigen September fing ich als Kulturvermittlerin für den Bereich Tanz an. Ich leite einen Großteil der bewegten Einführungen im kleinen Saal oder im Freien, sobald es draußen warm ist. Dabei erfährt das Publikum vor einer Produktion am eigenen Körper etwas zum Stück, statt es nur zu sehen. Man kann so in homöopathischen Dosen ausprobieren, was auf der Bühne geleistet wird. Das macht irrsinnig Spaß und das kenne ich von nirgendwo sonst. Dafür muss man kein Profi sein, Tanz beginnt schon mit kleinen Körperwahrnehmungen. Das ist mir wichtig.

Meine Arbeit ist eine schöne Mischung aus Organisation und praktischen Dingen. Für den Schreibtisch allein bin ich zu sehr Bewegungsmensch. Ich betreue eine Tanzcommunity, die offen für alle ist und in die man laufend einsteigen kann, sowie die Masterclasses für Tanzschaffende und Studierende. Und ich leite immer wieder Workshops vor Ort. Die Probebühne ist einer der Hauptschauplätze dafür. Im Festspielhaus passiert für mich etwas sehr Ganzheitliches. Es gibt nicht nur die Stücke, sondern so viel verschiedenes Programm drum he­rum. Ich finde es schön, dass nicht alle nur für sich dahinarbeiten, sondern es total verstrickt ist. Und es ist ein schöner Ort, um den Menschen wieder nahezukommen, was ja in den letzten Jahren nur reduziert möglich war.


Das kenne ich von nirgendwo sonst.

Florian Hackel, Veranstaltungstechnik, Bühnentechnik

Ich stieg früh aus dem Gymnasium aus und arbeitete in einer grafischen Ideenwerkstatt. Auf der Suche nach einer Ausbildung kam dann die Veranstaltungstechnik daher. Schon meine Lehrzeit verbrachte ich am Festspielhaus, dabei lernte ich von allem etwas. Es ist ein umfangreicher Beruf: Von Metall- bis Holztechnik, von Licht bis Ton ist alles drin. Ich entschied mich für die Bühnentechnik – das ist jeden Tag spannend, selten passiert das Gleiche. Büroarbeit ist eher nichts für mich. Ich bin Praktiker, mache den Aufbau, die Showdurchführung und den Abbau.

Dafür kriegen wir Pläne und versuchen, diese Ideen in unser Haus hineinzubekommen. Das braucht oft Kreativität. Mein Job ist es, permanent technische Lösungen für Probleme zu finden, die andere nicht verstehen. Und diese Arbeit auf der Bühne unsichtbar zu machen. Oft muss man schnell reagieren. Natürlich ist man dann angespannt und kontrolliert dreimal, ob es funktioniert. Gespielt wurde bisher immer. Die Hauptbühne ist darauf ausgelegt, Wunder zu vollbringen. Wir Techniker sind aber im ganzen Haus beschäftigt, also etwa auch im kleinen Saal, auf den Probebühnen oder im Foyer.

Ich bin seit 2009 im Festspielhaus und mittlerweile ist es mein zweites Zuhause. Ich arbeite, wenn andere freihaben, und wenn sie heimgehen, baue ich bis drei Uhr morgens ab. Das muss man mögen. Aber ich bin ein Theatermensch. Man sieht Dinge, die andere nicht sehen, lernt Menschen kennen, die andere nicht kennenlernen.

Die Pause während der Pandemie war ungewohnt. Man hat gemerkt, dass die Branche nicht wirklich krisensicher ist. Hier ist es uns aber gut gegangen. Ich konnte Projekte erledigen, die schon lange gelegen sind. Ich arbeite auch in der Werkstatt, wo wir spezielle Konstruktionen entwickeln und umsetzen, um Abläufe zu vereinfachen. Wie etwa unser Abrollgerät, damit lassen sich Klebebandlinien am Tanzboden kreuzschonend anbringen. Es kommt vor, dass sich Kompanien solche Lösungen abfotografieren.


Dann ist man jeden Tag angespannt.

Jan Martens

Anders denken, anders handeln


Der belgische Choreograf Jan Martens ist ein hell leuchtender Stern am Firmament des aktuellen europäischen Tanzes. Im März bringt er sein jüngstes Stück „Futur proche“ ans Festspielhaus St. Pölten.

In Österreich mag die Compagnie des Opera Ballet Vlaanderen nicht allen Kulturaficionados geläufig sein – außer vielleicht durch ihr Gast- spiel mit einem Stück von Anne Teresa De Keersmaeker vergangenen Dezember im Festspielhaus St. Pöl- ten –, aber in der Tanzhochburg Bel- gien gehört sie zu den Spitzeninsti- tutionen. Die Opernabteilung des in Antwerpen und Gent beheimateten Hauses hat sogar einen prominenten Österreichbezug: Mit ihr hat Oscar- preisträger Christoph Waltz im Jahr 2013 seine Version von „Der Rosen- kavalier“ erarbeitet.

Sieben Jahre lang, bis Mitte 2022, wurde die Ballettcompagnie vom zeitgenössischen Starchoreo- grafen Sidi Larbi Cherkaoui geleitet. Auch unter Jan Vandenhouwe, der die Nachfolge als Direktor des Ope- ra Ballet Vlaanderen übernommen hat, bleibt sie offen für Experimen- te und tanzt Werke von Koryphäen des zeitgenössischen Tanzes wie

Akram Khan, Pina Bausch, William Forsythe oder Crystal Pite. Im Vor- jahr wurde Jan Martens eingeladen, mit der Compagnie ein neues Stück zu produzieren: „Futur proche“, zu Deutsch „Nahe Zukunft“, feierte vorigen Sommer Premiere im Cour d’honneur des prestigeträchtigen französischen Festival d’Avignon und gastiert nun zu Frühlingsbeginn im Festspielhaus St. Pölten.

Exzellente Gastspiele

Der gebürtige Belgier Martens, Jahrgang 1984, hat sich seit seinem Erstlingswerk „I Can Ride a Horse Whilst Juggling so Marry Me“ (2010) zu einem der besonders hell leuchtenden Sterne am Firmament der aktuellen europäischen Choreografie entwickelt. Er hatte auch schon Gastspiele in Österreich, etwa im Tanzquartier Wien, 2016 mit „The Dog Days Are Over“ und 2018 mit „Rule of Three“. Und das Festival Sommerszene Salzburg zeigte in seiner jüngsten Ausgabe Martens’ exzellentes frühes Duett „Sweat Baby Sweat“.

Er gehört zu jenen Vertreterinnen und Vertretern der jüngeren Generation, die mit verschiedenen Tanzstilen arbeiten und auch das Ballett schätzen. Was dabei entstehen kann, zeigt sich in „Futur proche“. „Wir leben gerade in einer wirklich verrückten Zeit“, antwortet Martens auf die Frage, wie denn für ihn die nahe Zukunft aussehe. „In Bezug auf die Erderhitzung müssten wir handeln – aber das tun wir nicht in ausreichendem Maße.“ Der Westen habe sich in seiner Prosperität so lange für unantastbar gehalten, dass er keine Dringlichkeit spüre zu reagieren.

„Wir leben gerade in einer wirklich verrückten Zeit.“

Sorgen um die Zukunft

Obwohl es Hoffnung gäbe – dank der jungen Generation –, hält Martens die aktuelle Situation gerade hinsichtlich der Klimakrise für „ziemlich deprimierend“. Beobachte man diejenigen, die an den Schalthebeln der Macht sitzen, dabei, wie sie mit den gegenwärtigen Herausforderungen umgehen, werde sichtbar, dass vergleichsweise „wenig drängende Dinge“ für sie dominieren. Weshalb er sich um die nächste Zukunft ersthafte Sorgen mache.

Erst mit 17 Jahren begann Jan Martens mit dem Tanzen – bei besten Bedingungen in der choreografisch aufgeschlossenen Heimat einer Anne Teresa De Keersmaeker, eines Wim Vandekeybus, Alain Platel oder Jan Fabre. Sein Tanzstudium begann in den Niederlanden, wo eine neoklassische Ästhetik dominiert, wie sie etwa Hans van Manen oder das Nederlands Dans Theater repräsentieren. Damit konnte sich Martens nicht wirklich identifizieren, er hielt dagegen und begann auch aus diesem Grund, eigene Arbeiten zu entwickeln.

„Ein wichtiger Moment war, dass ich das Cembalo für mich entdeckt habe.“

Atypische Körper

Nach zwei Jahren wechselte er nach Flandern ans Antwerpener Konservatorium, um dort seine Ausbildung zu beenden. Den virtuosen Tanz ließ er im Hintergrund, er hielt sich lieber an sein bis heute gültiges Prinzip, dass jeder Körper die Möglichkeit hat zu kommunizieren. Seine Wahl fällt deshalb eher auf Tänzerinnen und Tänzer mit „atypischen Körpern, die man nicht so oft auf einer Tanzbühne sieht“. Von vielen seiner spätpostmodernen Gleichaltrigen unterschied er sich schon früh durch seine spezielle Arbeitsweise: Er überträgt das Virtuose auf andere Fähigkeiten – die des Choreografierens und Darstellens, der Dramaturgie und Konzeption.

Wie zum Beispiel 2014 bei „The Dog Days Are Over“. Dort sind die Figuren auf der Bühne ganz auf die Bewegungen des Springens konzentriert. Dafür folgte Martens einem Zitat des in Riga geborenen US-amerikanischen Fotografen Philippe Halsman (1906–1979), der meinte, dass eine Person besonders beim Springen ihre wahre Persönlichkeit offenbare. Das Stück wurde zu einem großen Erfolg.

Und jetzt, bei „Futur proche“? Wie ist er künstlerisch an die Idee herangegangen, über das zu reflektieren, was bevorsteht? „Ein wichtiger Moment war, dass ich das Cembalo für mich entdeckt habe.“ Ein Instrument, das Ende des

18. Jahrhunderts aus der Mode kam und mehr als ein Jahrhundert lang vergessen war. Jan Martens fragte sich, ob sich daraus etwas über den Tanz und die Zukunft lernen ließe – sozusagen in der Parallele zwischen der vergangenen temporären Auslöschung dieses Instruments und der möglicherweise künftig drohenden Auslöschung der menschlichen Spezies.

Faszination Cembalo

Seine Faszination für das Cembalo begann bereits 2021: mit „Any Attempt Will End in Crushed Bodies and Shattered Bones“, einem Stück für 17 Tanzende im Alter von 17 bis 70. Zur darin verwendeten Musik zählt etwa das „Konzert für Cembalo und Streichorchester op. 40“ des polnischen Komponisten Henryk Mikołaj Górecki (1933–2010). Im selben Jahr schuf Martens für sich selbst ein Tanzsolo als Porträt der polnischen Cembalistin Elżbieta Chojnacka.

In „Futur proche“ mit 16 erwachsenen Tänzern und zwei Kindern zwischen zwölf und 14 Jahren arbeitet Martens nun mit musikalischen Werken von Komponistinnen und Komponisten wie Pēteris Vasks, Anna Sigríður Þorvaldsdóttir, Graciane Finzi oder Aleksandra Gryka. „In ,Any Attempt …‘ geht es um den Protest“, sagt Martens. „Es ist ein publikumsfreundliches Stück.“ Im Vergleich dazu halte „Futur proche“ eine viel größere Herausforderung für das Publikum bereit.

Diese entspricht den Herausforderungen, die im „planetarischen Zeitalter“, wie der indische Historiker Dipesh Chakrabarty unsere Gegenwart nennt, allen Gesellschaften ins Haus stehen. Daher verändert Jan Martens die Struktur der Ballettcompagnie und des Stückaufbaus so, dass sie an die Notwendigkeit erinnern, anders zu denken als bisher – und endlich zu handeln.● ○