Jan Martens

Anders denken, anders handeln


Der belgische Choreograf Jan Martens ist ein hell leuchtender Stern am Firmament des aktuellen europäischen Tanzes. Im März bringt er sein jüngstes Stück „Futur proche“ ans Festspielhaus St. Pölten.

In Österreich mag die Compagnie des Opera Ballet Vlaanderen nicht allen Kulturaficionados geläufig sein – außer vielleicht durch ihr Gast- spiel mit einem Stück von Anne Teresa De Keersmaeker vergangenen Dezember im Festspielhaus St. Pöl- ten –, aber in der Tanzhochburg Bel- gien gehört sie zu den Spitzeninsti- tutionen. Die Opernabteilung des in Antwerpen und Gent beheimateten Hauses hat sogar einen prominenten Österreichbezug: Mit ihr hat Oscar- preisträger Christoph Waltz im Jahr 2013 seine Version von „Der Rosen- kavalier“ erarbeitet.

Sieben Jahre lang, bis Mitte 2022, wurde die Ballettcompagnie vom zeitgenössischen Starchoreo- grafen Sidi Larbi Cherkaoui geleitet. Auch unter Jan Vandenhouwe, der die Nachfolge als Direktor des Ope- ra Ballet Vlaanderen übernommen hat, bleibt sie offen für Experimen- te und tanzt Werke von Koryphäen des zeitgenössischen Tanzes wie

Akram Khan, Pina Bausch, William Forsythe oder Crystal Pite. Im Vor- jahr wurde Jan Martens eingeladen, mit der Compagnie ein neues Stück zu produzieren: „Futur proche“, zu Deutsch „Nahe Zukunft“, feierte vorigen Sommer Premiere im Cour d’honneur des prestigeträchtigen französischen Festival d’Avignon und gastiert nun zu Frühlingsbeginn im Festspielhaus St. Pölten.

Exzellente Gastspiele

Der gebürtige Belgier Martens, Jahrgang 1984, hat sich seit seinem Erstlingswerk „I Can Ride a Horse Whilst Juggling so Marry Me“ (2010) zu einem der besonders hell leuchtenden Sterne am Firmament der aktuellen europäischen Choreografie entwickelt. Er hatte auch schon Gastspiele in Österreich, etwa im Tanzquartier Wien, 2016 mit „The Dog Days Are Over“ und 2018 mit „Rule of Three“. Und das Festival Sommerszene Salzburg zeigte in seiner jüngsten Ausgabe Martens’ exzellentes frühes Duett „Sweat Baby Sweat“.

Er gehört zu jenen Vertreterinnen und Vertretern der jüngeren Generation, die mit verschiedenen Tanzstilen arbeiten und auch das Ballett schätzen. Was dabei entstehen kann, zeigt sich in „Futur proche“. „Wir leben gerade in einer wirklich verrückten Zeit“, antwortet Martens auf die Frage, wie denn für ihn die nahe Zukunft aussehe. „In Bezug auf die Erderhitzung müssten wir handeln – aber das tun wir nicht in ausreichendem Maße.“ Der Westen habe sich in seiner Prosperität so lange für unantastbar gehalten, dass er keine Dringlichkeit spüre zu reagieren.

„Wir leben gerade in einer wirklich verrückten Zeit.“

Sorgen um die Zukunft

Obwohl es Hoffnung gäbe – dank der jungen Generation –, hält Martens die aktuelle Situation gerade hinsichtlich der Klimakrise für „ziemlich deprimierend“. Beobachte man diejenigen, die an den Schalthebeln der Macht sitzen, dabei, wie sie mit den gegenwärtigen Herausforderungen umgehen, werde sichtbar, dass vergleichsweise „wenig drängende Dinge“ für sie dominieren. Weshalb er sich um die nächste Zukunft ersthafte Sorgen mache.

Erst mit 17 Jahren begann Jan Martens mit dem Tanzen – bei besten Bedingungen in der choreografisch aufgeschlossenen Heimat einer Anne Teresa De Keersmaeker, eines Wim Vandekeybus, Alain Platel oder Jan Fabre. Sein Tanzstudium begann in den Niederlanden, wo eine neoklassische Ästhetik dominiert, wie sie etwa Hans van Manen oder das Nederlands Dans Theater repräsentieren. Damit konnte sich Martens nicht wirklich identifizieren, er hielt dagegen und begann auch aus diesem Grund, eigene Arbeiten zu entwickeln.

„Ein wichtiger Moment war, dass ich das Cembalo für mich entdeckt habe.“

Atypische Körper

Nach zwei Jahren wechselte er nach Flandern ans Antwerpener Konservatorium, um dort seine Ausbildung zu beenden. Den virtuosen Tanz ließ er im Hintergrund, er hielt sich lieber an sein bis heute gültiges Prinzip, dass jeder Körper die Möglichkeit hat zu kommunizieren. Seine Wahl fällt deshalb eher auf Tänzerinnen und Tänzer mit „atypischen Körpern, die man nicht so oft auf einer Tanzbühne sieht“. Von vielen seiner spätpostmodernen Gleichaltrigen unterschied er sich schon früh durch seine spezielle Arbeitsweise: Er überträgt das Virtuose auf andere Fähigkeiten – die des Choreografierens und Darstellens, der Dramaturgie und Konzeption.

Wie zum Beispiel 2014 bei „The Dog Days Are Over“. Dort sind die Figuren auf der Bühne ganz auf die Bewegungen des Springens konzentriert. Dafür folgte Martens einem Zitat des in Riga geborenen US-amerikanischen Fotografen Philippe Halsman (1906–1979), der meinte, dass eine Person besonders beim Springen ihre wahre Persönlichkeit offenbare. Das Stück wurde zu einem großen Erfolg.

Und jetzt, bei „Futur proche“? Wie ist er künstlerisch an die Idee herangegangen, über das zu reflektieren, was bevorsteht? „Ein wichtiger Moment war, dass ich das Cembalo für mich entdeckt habe.“ Ein Instrument, das Ende des

18. Jahrhunderts aus der Mode kam und mehr als ein Jahrhundert lang vergessen war. Jan Martens fragte sich, ob sich daraus etwas über den Tanz und die Zukunft lernen ließe – sozusagen in der Parallele zwischen der vergangenen temporären Auslöschung dieses Instruments und der möglicherweise künftig drohenden Auslöschung der menschlichen Spezies.

Faszination Cembalo

Seine Faszination für das Cembalo begann bereits 2021: mit „Any Attempt Will End in Crushed Bodies and Shattered Bones“, einem Stück für 17 Tanzende im Alter von 17 bis 70. Zur darin verwendeten Musik zählt etwa das „Konzert für Cembalo und Streichorchester op. 40“ des polnischen Komponisten Henryk Mikołaj Górecki (1933–2010). Im selben Jahr schuf Martens für sich selbst ein Tanzsolo als Porträt der polnischen Cembalistin Elżbieta Chojnacka.

In „Futur proche“ mit 16 erwachsenen Tänzern und zwei Kindern zwischen zwölf und 14 Jahren arbeitet Martens nun mit musikalischen Werken von Komponistinnen und Komponisten wie Pēteris Vasks, Anna Sigríður Þorvaldsdóttir, Graciane Finzi oder Aleksandra Gryka. „In ,Any Attempt …‘ geht es um den Protest“, sagt Martens. „Es ist ein publikumsfreundliches Stück.“ Im Vergleich dazu halte „Futur proche“ eine viel größere Herausforderung für das Publikum bereit.

Diese entspricht den Herausforderungen, die im „planetarischen Zeitalter“, wie der indische Historiker Dipesh Chakrabarty unsere Gegenwart nennt, allen Gesellschaften ins Haus stehen. Daher verändert Jan Martens die Struktur der Ballettcompagnie und des Stückaufbaus so, dass sie an die Notwendigkeit erinnern, anders zu denken als bisher – und endlich zu handeln.● ○