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Kultur • Essay

Sie hat keine Katze


Wie eine Frau im Wald des Geistes erfror: Unsere Autorin lagert Versuchtes und Aufgegebenes im Äquivalent einer großen Lagerhalle.

Stellen Sie sich einen lichten Herbstwald vor, draußen auf dem Land. Die Äste der Bäume sind kahl, das Laub bedeckt den Boden knöchelhoch. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, es ist einer dieser kalten, klaren Novembernachmittage. Und jetzt stellen Sie sich eine Frau mit lockigem, dunkelbraunem Haar vor. Sie ist Mitte vierzig, sie trägt einen roten Parka mit Kapuze und aufgenähten Taschen. Das Rot der Jacke sticht sich mit dem der herabgefallenen Blätter, die unter den Schritten der Frau rascheln.

Ich sitze im Zug und schaue aus dem Fenster, als mir diese Frau vor ein paar Monaten einfällt. Ich weiß noch nicht genau, was ich mit ihr machen will, aber das gehört zu meinem täglichen Brot als Autorin: Habe ich eine kleine Idee, beginne ich damit zu spielen wie eine Katze mit einer Maus, und schaue, wohin mich das bringt. Zurück zu Hause setze ich mich also an den Computer und beginne zu schreiben. Außer, dass die Frau einen Herbstspaziergang macht, weiß ich auch andere Dinge über sie: Sie ist alleinstehend. Und sie hat das Handy zu Hause vergessen. Und als mir das mit dem Handy einfällt, da ahne ich in der Dunkelheit dieser Geschichte, die noch keine ist, das Unglück plötzlich seinen großen Kopf heben. Alleinstehend, November und kein Handy: drei Komponenten, die den harmlosen Herbstspaziergang der Frau brandgefährlich werden lassen könnten. Niemand vermisst sie daheim, außer ihr Hund – nein, stopp, sie hat keinen Hund, der wäre sonst mit spazieren gegangen. Sie hat eine Katze. Meine Finger halten inne, schweben über der Tastatur. Ich starre auf den blinkenden Cursor und versuche herauszufinden, ob eine Katze zu der Frau im Parka passt. 25 Sekunden vergehen. Eine Minute vergeht. Frau allein in den Vierzigern mit Katze, das ist zu offensichtlich. Irgendwas in meinem Gehirn blättert eilig durch einen dieser altertümlichen, riesigen Folianten mit gezeichneten Tieren – vielleicht hat die Frau Fische? Oder Vögel. Oh, vielleicht züchtet sie Vögel! Nein, viel zu rechercheaufwendig, ich habe keine Ahnung von Vogelzucht, apropos Foliant, apropos Vogel: Der Dodo war ein lustiges Tier. Ausgestorben. So wie der tasmanische Teufel. Auch ausgestorben. Tasmanien, da war ich noch nicht. Warum denke ich jetzt an Tasmanien! Ich muss doch die Frau ins Unglück treiben – also hat sie jetzt eine Katze oder nicht? Ich werde ärgerlich über dieses nervige Detail, an dem sich meine Gedanken verhakt haben wie an einer Brombeerranke. Verdammt, sie hat einfach eine Katze, so eine Katze ist schnell aus einem Text gestrichen. Weiter geht’s: Die Sonne sinkt, im Wald wird es empfindlich kühl und duster und zu Hause wartet nur eine Katze auf die Frau, die jetzt in einen steilen, nach unten führenden Hohlweg einbiegt. Das Laub hier raschelt nicht, dafür ist es zu feucht. Der Frau fällt ein, dass sie nicht mehr weiß, wann sie die Katze das letzte Mal entwurmt hat. Nein, stopp. Das geht nicht, die Katze ist nicht fix, die ist ein Platzhalter, bis mir ein besseres Haustier eingefallen ist. Ein Kaninchen? Oder ein Chinchilla! Ich google Chinchillas. Ich bin halb durch den zweiten Absatz auf Wikipedia durch (die Backenzähne sind wurzellos), als ich mich dabei ertappe, was ich da tue. Ärgerlich klicke ich das Fenster weg. Ist doch egal, welches Haustier die Frau hat! Das einzig zwingende Muss in dieser Geschichte ist das Unglück! Es hat seinen Kopf gehoben, etwas muss passieren! Also beschließe ich: Die Frau hasst Tiere, nur, damit sie mir nicht mehr in die Quere kommen.

Im Wald schwindet das Licht. Der Frau, in deren Leben Tiere keine Rolle spielen, ist kalt, sie steckt die Hände in die Taschen des Parka. Das Laub unter ihren Füßen ist rutschig, der Weg steil. Sie beeilt sich, und weil sie keine Katze hat, denkt sie über Lichtschalter nach. Solche, die nicht an der Wand montiert sind, sondern die man herumtragen und daher verlieren kann. So was gibt’s. Im eigenen Haus einen Lichtschalter verlieren, das nenne ich mal eine Metaebene. Tief in Gedanken an verloren gegangene Lichtschalter tritt die Frau auf einen losen, unter dem Laub versteckten Stein. Ihr rechtes Bein rutscht unter ihr weg, sie fühlt ein hartes, unheilvolles Schnalzen in ihrem Knie. Sie will den Sturz mit den Händen abfangen, bekommt sie aber nicht schnell genug aus den Taschen des roten Parkas gezogen. Die Frau landet auf dem Rücken. Der harte Aufprall raubt ihr für einige Augenblicke den Atem. Ein entsetzliches Gefühl – aber als sie wieder Luft bekommt, muss sie feststellen, dass der Schmerz in ihrem Knie noch schlimmer ist. Er ist von der Sorte, bei dem man weiß: Krankenhaus. Sie versucht aufzustehen, gibt den Versuch aber sofort auf, denn der Schmerz dabei ist von solch gleißender Intensität, dass sie beinahe ohnmächtig wird. So. Jetzt ist die Frau dort, wo ich sie haben wollte: bewegungsunfähig, bei einbrechender Dunkelheit im Wald. Niemand vermisst sie, schon gar nicht ihre Katze, die sie nicht hat. Die Frau schaut in die Äste der Bäume, am Himmel blinkt ein erster Stern. Die Feuchte des Waldbodens dringt durch ihre Jacke. Das Knie der Frau schwillt mit beunruhigender Geschwindigkeit an, schon spannt der Jeansstoff der Hose. Sie blinzelt Tränen weg und begreift erst da, dass sie weint. Mitten im Wald. Kein Handy. Minusgrade. Sie will es nicht wahrhaben, aber sie weiß: Das Knie ist nur so lange ein Problem, bis sie erfriert. Ihr harmloser Spaziergang ist völlig außer Kontrolle geraten. Sie ruft um Hilfe, aber da ist niemand. Da ist nur die Nacht, die über den Wald fällt, da ist nur Verzweiflung, da ist … mein Tippen wird langsamer. Ich starre auf den letzten Satz, lösche das Wort Verzweiflung. Das ist zu unpräzise, zu beliebig, das ist einfach das falsche Wort. Klar ist die Frau verzweifelt, das muss ich da nicht auch noch hinschreiben. Reglos liegen meine Finger auf der Tastatur. Der Cursor blinkt. Jetzt was. Was jetzt. Das Unglück ist über die Frau hereingebrochen. Aber warum eigentlich? Ich hole Luft und blase sie mit vollen Backen wieder aus. Jetzt, wo die Frau hilflos im Wald liegt, weiß ich nicht mehr, was ich mit ihr anfangen soll. Gerade noch gab es ein drängendes Vorwärts, aber nun ist der Drive schlagartig weg, und ich stehe plötzlich im Nebel. Kein gutes Zeichen, aber ein klassisches Pro­blem beim Schreiben. Findet man sich in so einer Situation wieder, darf man nicht die Nerven verlieren, für solche Schwierigkeiten gibt es eine Werkzeugkiste. Schreiben ist Suchen: nach Puls, Takt, Rhythmus, es ist ein Probieren, ein Anstecken, wieder Abnehmen und anderswo anstecken. Die Frau liegt im Wald. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht hat es doch etwas mit der Katze zu tun, denn dass mich die Katze mehr interessiert als die schlimme Lage der Frau, ist ein recht offensichtlicher Hinweis dafür.

Ich lese noch einmal, was ich geschrieben habe und beschließe aufzuhören. Ich lasse die Frau nun auf zweierlei Arten liegen: im Wald und als Dokument mit dem Titel „Frau im roten Parka“ auf meinem Desktop. Denn Schreiben erfordert nicht nur Nachdenken, sondern im gleichen Maße das Gegenteil davon, nämlich auf gar keinen Fall darüber nachdenken. Es gibt das perfekte Haustier für die Frau, oder den perfekten Grund, warum sie keines hat, so wie es den perfekten Schuh fürs Aschenputtel gibt. Es gibt auch die perfekte Rettung für sie und irgendwann würde mir die auch einfallen. Aber damit das passiert, muss ich das Ding auf eine hintere Herdplatte im Gehirn schieben und mich stattdessen mit Tasmanien oder dem Dreißigjährigen Krieg beschäftigen. Oder mit Freunden zu Abend essen, ins Kino gehen oder wieder im Zug sitzen, aus dem Fenster schauen und mir plötzlich denken: Die Frau hatte eine Katze, aber die war gerade vom Nachbarn überfahren worden, was dieser der Frau gegenüber leugnet, sie aber ganz genau weiß, weil sie es durchs Fenster beobachtet hat. Diese Idee kam mir etwa einen Monat, nachdem ich die Frau auf dem Waldweg hatte ausrutschen lassen. Allerdings war das keine Lösung für mein Problem, denn dass der Nachbar die Katze überfahren hatte, würde die Frau nicht vor dem Erfrierungstod retten, und das war ja das eigentliche Szenario: dass die Frau völlig unschuldig in eine lebensbedrohliche Situation gerät.

Das ist zu unpräzise, zu unbeliebig, das ist einfach das falsche Wort.

Die Wochen zogen ins Land, wurden zu Monaten. Ich schrieb nicht daran weiter, und irgendwann wanderte das Dokument vom Desktop in den Ordner „Work in progress“. Ich hatte die Frau im roten Parka in eine Sackgasse manövriert, aus der ich nicht mehr herausfand. Eines von aberdutzend Dokumenten, die ich in meinem Schreiben schon fabriziert habe. Rumpfstücke. Unvollständige Bilder. Dialogfetzen. Eine riesige Sammlung von Versuchtem und Aufgegebenem. Ich bin jetzt so lange Autorin, dass diese Sammlung das Äquivalent einer großen Mehrzwecklagerhalle hat. Da ist so viel Zeug drin, dass ich schon vergessen habe, was da überhaupt drin ist. Manchmal krame ich deswegen darin herum und stelle fest, dass ich das eine oder andere als Ersatzteil verwenden kann. Als ich eingeladen wurde, einen Text über das Experimentieren beim Schreiben zu schreiben, tat ich genau das und fand im Ordner „Work in Progress“ die Frau im roten Parka, die im Wald meines Geistes erfror und von der ich dachte, niemand würde je von ihr erfahren. Ich musste den Text umschreiben, aber das ist Teil meines Jobs. Streichen gehört auch dazu, denn als ich den Text umgeschrieben hatte, war er um 3.000 Zeichen zu lang. Das ist eine ganze Seite, da bringt es nichts, hier einen Halbsatz, dort ein Adjektiv zu löschen, da muss ein ganzer Strang raus. Sie werden nie von ihm erfahren, aber stellen Sie sich mal Folgendes vor: nicht der Nachbar hat die Katze der Frau überfahren, sondern die Frau die Katze des Nachbarn. Sie ist es, die es ihm gegenüber leugnet. Und er weiß ganz genau, dass sie es war, weil er sie beobachtet hat. Und dann geht sie völlig zufrieden mit sich und der Welt im Wald spazieren und rutscht aus. Die Frau im roten Parka ist also alles andere als unschuldig. Da kann man sie ja eigentlich auch erfrieren lassen, oder? Aber wenn ich sie sterben lasse, bedeutet das: Nicht die Frau ist meine Hauptfigur. Der Nachbar ist es. Und damit wäre es eine ganz andere Geschichte, von der ich nur eine Sache mit Sicherheit weiß: Die Frau hat keine Katze. ● ○