© Heribert Corn
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Kultur • Round Table

„Scheitern bedeutet Wachstum"


Wie viel Mut braucht man, um sich im zarten Alter auf die Bühne zu trauen oder die eigene künstlerische Stimme zu finden? Kann es manchmal auch zu glatt laufen? Chorleiter Erwin Ortner, Komponistin Judit Varga und Musikerin Golnar Shahyar sprachen mit morgen über die produktive Kraft des Unperfekten, große Träume und die Resilienz von Grashalmen.

Herr Ortner, Sie haben mit 15 Jahren Ihren ersten Chor gegründet. Wie kam es dazu?

Ernst Ortner

:

Ich habe in der Volksschule Klavier gelernt und wollte unbedingt Wiener Sängerknabe werden. Das gemeinsame Singen war wie ein musikalisches Urerlebnis für mich. Als Gymnasiast habe ich meinen ersten Jugendchor gegründet. Wie man Menschen zum Singen bringt, habe ich mit ganz einfacher Literatur gelernt. Später fuhren wir zu Wettbewerben, gewannen Preise und erhielten erste Engagements. 1972 gründete ich auf Initiative der Jeunesse in Wien den Arnold Schoenberg Chor. Das erste Mal traten wir als Männerchor im Musikverein auf, mit einer Messe von Bohuslav Martinů und den Wiener Philharmonikern. Ich habe sehr früh begonnen, mit zeitgenössischen Komponisten wie Roman Haubenstock-Ramati, Dieter Kaufmann und Luigi Nono zusammenzuarbeiten. Prägend waren außerdem die lange Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt sowie die Opernprojekte am Theater an der Wien.

Frau Varga, durften Sie sich als Kind ausprobieren?

Judit Varga

:

Ich bin in einem sexistischen Umfeld am Land in Ungarn aufgewachsen, wo es immer geheißen hat: „Aus dir wird eh nichts.“ Oder: „Es gibt keine Komponistinnen.“ Aber ich war ein trotziges Kind und hatte schon früh große Träume. Ich wollte Komposition studieren und eines Tages Professorin werden, Kinofilme vertonen und für die Staatsoper schreiben. Obwohl dieser Weg für mich nicht vorgesehen war, bin ich drangeblieben. Als ich 36 Jahre alt war, führte die Ungarische Staatsoper eine Oper von mir auf, mit 40 wurde ich zur Professorin berufen. Danach fiel ich in eine Art Loch, weil ich alles, wovon ich geträumt hatte, was mein Antrieb gewesen war, erreicht hatte.

Wie haben Sie diesen Kreislauf durchbrochen?

Varga

:

Ich begab mich auf die Suche nach meinem inneren Kind und versuche jetzt vermehrt, Stücke zu schreiben, bei denen ich ganz ich selbst sein kann. Bei denen es keinen Druck von außen gibt und keine großen Gelder fließen. Diese Art von geschützter Werkstätte ist wichtig, um sich auszuprobieren. Kreativität erfordert Spontanität, Unsicherheit, Regel- und Tabubrüche. Der Mut zu scheitern gehört natürlich dazu.

Kann Kunst ohne Scheitern überhaupt existieren?

Golnar Shahyar

:

Scheitern bedeutet für mich Wachstum. Um zu wachsen, muss ich heraus­finden, wer ich bin, wo ich stehe und was überhaupt in mir steckt. Das kann nur gelingen, wenn ich mich traue, neue Dinge auszuprobieren. Diesen Weg kann man auch als Trial and Error bezeichnen.

Varga

:

Als Komponistin und Pianistin führt mein Weg immer über das Scheitern. Je höher der Druck von außen ist, desto größer ist die Angst zu scheitern. Auch Erfolg kann eine Belastung sein, weil er die Erwartungen steigen lässt. Man glaubt, dass man sich keine Fehler mehr erlauben darf.

Ortner

:

Als Künstler arbeitet man ein Leben lang gegen die Angst, dass die Musik nicht ankommt, die Umsetzung nicht funktioniert oder die erste Probe mit Musikern, die man nicht kennt, scheitert. Wenn man sich seinen Ängsten nicht stellt, bleibt man stehen. Das Wichtigste ist, die Angst zu überwinden.

Gibt es in der Kunst eine gelebte Fehlerkultur?

Varga

:

Beim Komponieren sind Fehler schwer zu definieren. Leere, Missverständnisse oder mangelnde Kommunikation gehören dazu. Entscheidend ist, wie man damit umgeht. Oft zeigt sich, dass gerade vermeintlich „fehlerhafte“ Stellen besondere Qualitäten besitzen.

Ortner

:

Wenn ich probe und bei jeder falschen Note abbreche, bin ich fehlerhaft – im Umgang mit Menschen. Als ich vor 50 Jahren begonnen habe, war ich viel restriktiver. Heute geht es immer mehr um den gemeinsamen Erkenntnisprozess. Ich wünsche mir, dass die Mitglieder des Chores ihre Lebenserfahrung einbringen und aufeinander eingehen.

Varga

:

Fehler passieren, weil Perfektion nicht existiert. Entscheidend ist, was man daraus macht. Ein Beispiel: Wenn ich ein Stück perfekt schreiben will, erreiche ich vielleicht 90 Prozent. Es gibt immer Passagen oder Takte, mit denen ich unzufrieden bin. Abstand hilft oft, die Routine zu durchbrechen. Vielleicht entpuppt sich genau diese „unperfekte“ Stelle als besonders spannend.

Ortner

:

Als Dirigent ist es meine Aufgabe, ein klangliches Erlebnis zu ermöglichen. Dafür entschlüssle ich Noten und lasse die sogenannte Aufführungspraxis in meine Interpretation einfließen. Notenschrift ist rudimentär; je älter die Musik ist, desto weniger Angaben zu Dynamik oder Tempo gibt es. Dabei können immer wieder Missverständnisse entstehen. Für mich macht aber gerade das die Arbeit so spannend.

Was manche subjektiv als Fehler empfinden, finden andere großartig.

Ortner

:

Das Bekenntnis zur Subjektivität in der Kunst ist sehr wichtig. In der Musikinterpretation geht es darum, Dinge zuzulassen. György Ligetis „Lux Aeterna“ ist ein gutes Beispiel. Ich fing an, die Partitur zu studieren und scheiterte zunächst grandios. Die 16 Stimmen des Werks bestehen aus lauter Einzelstimmen, die zu Clustern verwoben sind, ohne gemeinsamen Rhythmus oder Melodie. Also musste ich neue Wege finden, um das Stück mit meinem Chor zu erarbeiten.

Varga

:

Ligetis Werke sind hochkomplex. Seine Partituren, etwa für das „Requiem“, erinnern an Ameisenstraßen im A3-Format. Er hat selbst einmal gesagt, dass Perfektion hier unmöglich ist. Fehler sind also einkalkuliert.

Frau Varga, sind in Ihren Stücken Fehler ebenfalls mit einkalkuliert?

Varga

:

Als Auftragskomponistin muss ich mich nach dem Programm und dem Ensemble richten und das Publikum ebenfalls berücksichtigen. Am liebsten würde ich alle glücklich machen, ohne mich dabei selbst zu verleugnen. Das ist oft ein schwieriger Spagat.

Welche Rolle spielt kommerzieller Erfolg?

Shahyar

:

Ob meine Kunst in der Musikindustrie funktioniert, ist für mich zweitrangig. Ich kenne Kolleginnen und Kollegen, die problemlos Werke spielen, zu denen sie keinen emotionalen Bezug haben. Für mich ist Kunst ein Mittel der Kommunikation mit dem Kollektiv. Der Austausch ist wichtiger als das Notenmaterial.

Ortner

:

In meinen Konzerten möchte ich das Publikum bewegen und überraschen, auch mit weniger bekannten Werken. Leider kann man mit großen Konzertveranstaltern nie ganz frei programmieren, weil hier der Verkauf eine wichtige Rolle spielt und selten gespieltes Repertoire zugunsten populärerer Werke zu kurz kommt. Zum Glück gibt es kleine Festivals wie die Loisiarte in Langenlois, wo das Programm offen ist. Das schätze ich sehr, weil wir dem Publikum etwas abseits des Mainstreams bieten können.

Ist Scheitern angesichts des ständigen Strebens nach Perfektion überhaupt erlaubt?

Ortner

:

Es gibt Musikaufnahmen, die zwar technisch perfekt sind, aber überhaupt nicht berühren. Andere bewegen, gerade weil sie unperfekt sind. Idealerweise verbinde ich beides: sauber singen und den Funken zünden. Dafür muss ich mein Handwerk beherrschen und die Fähigkeit haben, Menschen zum Singen zu bringen. Es geht um mehr als Noten, Text und Rhythmus – es geht darum, zu verstehen, was sich dahinter verbirgt.

Shayar

:

Technische Perfektion ist für mich ein Mittel, um authentisch zu kommunizieren. Diese Fixierung auf Perfektion – ob in der Ausbildung oder im Konzertbetrieb – finde ich fast schon pathologisch. Die dominierende Kultur definiert sehr genau, was Perfektion bedeutet, und entscheidet, was richtig oder falsch ist. Das passt nicht zu meiner Realität als Künstlerin.

Varga

:

In festgefahrenen Systemen hilft es mir, meine Bubble zu verlassen, zum Beispiel durch Werkstattarbeit oder Wohnzimmerkonzerte. Oder ich reise in ein kleines isländisches Dorf, um dort einige Wochen lang zu arbeiten. Statistisch gesehen, bekommt man, wenn man Neues ausprobiert, neun Absagen und eine Zusage. Einmal habe ich mir vorgenommen, 100 Absagen zu sammeln und dafür zehn Zusagen zu bekommen. Dasselbe Experiment könnte man mit Fehlern machen und sie quasi absichtlich in die Komposition einbauen. So verlieren sie ihren Schrecken.

Ortner

:

Dass man absichtlich Fehler macht, um sich zu beruhigen, kann ich nicht nachvollziehen. Wenn ich eine Kantilene gestalte und der Funke nicht überspringt, stimmen zwar die Töne, ich habe aber trotzdem etwas falsch gemacht. Wenn eine Interpretation misslingt, kann ich nicht behaupten, sie sei großartig gewesen. Vielleicht bin ich da zu konservativ.

Sie alle arbeiten mit jungen Menschen. Wie begleitet man diese auf dem Weg zur Selbstfindung?

Shayar

:

Glücklicherweise gibt es heute ein größeres Bewusstsein dafür, wie Machtstrukturen und Machtmissbrauch funktionieren. Das bedeutet leider nicht, dass dieses Wissen auch gelebt wird. Ich habe mit meinen Studierenden viele Stunden daran gearbeitet, das Vertrauen in den eigenen Körper zurückzugewinnen und die verinnerlichte Gewalt zu verlernen. Das hat mit unserer Familiengeschichte und dem Land sowie der Kultur, in der wir leben, zu tun. Diese Tatsache anzuerkennen und sich von den Erwartungshaltungen und dem Druck zu befreien, ist ein intellektueller und körperlicher Prozess. Ich studierte an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, der MDW, und unterrichte dort auch. Ich finde, dass die Räume und das gemeinsame Erforschen dieser Räume extrem eng sind.

Varga

:

Wir dürfen nicht vergessen, dass an der MDW 3.000 Menschen aus 72 Ländern studieren. Damit muss man erst einmal umgehen. Ich versuche, als Professorin offen zu bleiben – trotzdem gibt es zwischen mir und meinen Studierenden eine klare Hierarchie. Natürlich möchte ich sie ermutigen, ihre Herkunft, ihre Geschichte und ihre Kultur einzubringen. Die Realität ist aber, dass wir alle zusammenarbeiten müssen, noch dazu zeitlich begrenzt, und das ist oft der kleinste gemeinsame Nenner. Da bleibt von der eigenen Kultur manchmal nicht so viel übrig.

Wollten Sie schon einmal alles hinschmeißen?

Ortner

:

Das gemeinsame Singen ist für mich das Allerwichtigste. Ich wollte nie etwas anderes machen.

Shahyar

:

Ich bin im Iran aufgewachsen. Ich musste zunächst erkennen, dass ich als Frau überhaupt existiere. Der Weg zu mir selbst war schmerzhaft und erforderte nicht nur Mut, sondern Akzeptanz und Resilienz.

Varga

:

Bäume können bei starkem Wind leicht brechen. Grashalme oder Sonnenblumen sind hingegen resilient, weil sie biegsam sind. Wenn ein Unwetter kommt, legen sie sich einfach auf den Boden und stehen nachher wieder auf. Ich möchte lieber ein Grashalm sein, obwohl ich Bäume über alles liebe. ● ○