
Gesellschaft • Novarino
„Die Kiste bleibt zu“
In der Wissenschaft sind Fehler oft der Ausgangspunkt für neue Sichtweisen, bisweilen sogar bahnbrechende Entdeckungen. Um frei arbeiten zu können, braucht die Wissenschaft das Vertrauen der Bevölkerung. Gaia Novarino, Genetikerin und Vizepräsidentin des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg, erzählt morgen, wie sie dieses gewinnt und mit eigenem Scheitern umgeht.
In diesem Gespräch wird es um Fehlerkultur gehen, aber auch um Wissenschaftsskepsis und die Frage, wie man Forschung allgemeinverständlich erklärt. Beginnen wir also mit der Frage, was Sie und Ihr Team eigentlich machen.
Gaia Novarino
:Wir erforschen, wie sich das Gehirn entwickelt. Am Anfang unserer Existenz besteht es nur aus ein paar Zellen, die sich vermehren, am Ende sind es mehrere Milliarden. Allein dieser Vorgang ist unglaublich faszinierend, denn er ist komplex und geschieht sehr koordiniert. Uns interessiert der Moment, in dem es während der Entwicklung zu ungeplanten Veränderungen in der DNA kommt, die zu Autismus oder Epilepsie führen. Dabei erfahren wir mehr über diese Entwicklungsstörungen, aber auch viel über das Gehirn.
Sie lernen also von Fehlern?
Wir bezeichnen sie lieber als „Variationen“. Der Begriff „Fehler“ ist für einige Personen im Spektrum möglicherweise unpassend. Bei den schweren Formen, die wir untersuchen, handelt es sich aber tatsächlich um genetische Fehler, die Veränderungen in der Entwicklung des Gehirns verursachen. Auch Krebs ist ein Fehler, ein Error der Zelle. Dabei fällt es uns leichter, von einem Fehler zu sprechen. Wenn es um das Gehirn geht, ist die Angelegenheit sensibler. Autismus schließt ein sehr weites Spektrum an Störungen ein, manche sind schwerwiegend. Das sind die Formen, die wir erforschen – das sind definitiv Fehler, nämlich genetische Defekte. Die Betroffenen brauchen medizinische Behandlung, im Gegensatz zu vielen Menschen mit einer leichten Erscheinungsform von Autismus.
Wir sollten behutsam mit dem Begriff „Fehler“ umgehen, auch aus unserer Geschichte und dem nationalsozialistischen Umgang mit geistigen Behinderungen heraus.
Absolut. Menschen als „krank“ zu labeln, kann sehr problematisch sein. Trotzdem handelt es sich um Entwicklungsstörungen und bei den schweren Formen um Krankheiten. Sie auch so einzustufen, ist für die Forschung sehr wichtig.

Sie sind sehr erfolgreich als Forscherin. Haben Sie trotzdem Momente des wissenschaftlichen Irrtums erlebt?
Ja, andauernd. Das gehört zu unserem Job. Wenn man eine Hypothese aufstellt und nicht offen ist für die Tatsache, dass sie sich als falsch erweisen könnte, kann man keine erfolgreiche Wissenschaftlerin sein. Wer zu sehr an seiner Hypothese hängt, ist sehr viel anfälliger für schwerwiegende Fehler. Wir müssen offen bleiben. Ganz am Anfang, als ich mein Labor hier in Klosterneuburg aufbaute, gab es so ein Aha-Erlebnis. Wir hatten ein bestimmtes Gen gefunden, das zu Autismus führt, wenn es mutiert, und wollten herausfinden, wie das genau abläuft. Wir erzielten bald sehr interessante Ergebnisse, die wir auch veröffentlicht haben. Es gab aber ein Detail, das wir nicht verstanden hatten. Ich bat eine PhD-Studentin, sich das genauer anzuschauen, und ging davon aus, dass nicht viel dabei herauskommen wird. Es hat sich dann herausgestellt, dass viel mehr dahintersteckte. Sie erforschte dieses Detail ganze fünf Jahre. Ihre Ergebnisse wurden zu einer der wichtigsten und prestigeträchtigsten Studien für unser Labor. Meine Annahme am Anfang war falsch. Das hat mir aber richtig Spaß gemacht! Auch, weil es zeigt: Wissenschaft ist spannend – und unberechenbar.
Forschung braucht Zeit und Geduld. Gleichzeitig gibt es einen immensen Druck, viel und schnell zu publizieren, oder?
So ist es. Andererseits gilt manchmal auch das Gegenteil. Während meiner Promotion arbeitete ich in einem Labor in Deutschland, das auch auf der Grundlage der Ergebnisse eines Zellbiologen eines anderen Labors forschte. Er hatte entdeckt, dass eine bestimmte Genmutation zu einer Gehirnerkrankung führt. Mein Labor und andere gaben viel Geld aus bei dem Versuch, diese Annahmen zu bestätigen. Es gab nur ein Problem: Er hatte bei seinen Ergebnissen betrogen. Zu meinen Kolleginnen und Kollegen im Labor sage ich deshalb immer: „Wenn wir ganz genau beschreiben, was wir machen und wie wir zu unseren Annahmen kommen, können wir nie falsch liegen.“ Es geht auch nicht darum, niemals falsch zu liegen, sondern den Prozess sehr gewissenhaft zu belegen.
Das bedeutet, auch negative Ergebnisse zu veröffentlichen. Ist es schwer, zuzugeben, dass sich Annahmen nicht bestätigt haben?
Klar ist ein deutliches Ergebnis schöner. Aber das gibt es eben oft nicht. Ich glaube, alle in der wissenschaftlichen Community finden, dass wir offener und selbstbewusster mit Nicht-Ergebnissen umgehen sollten.
Gleichzeitig erleben wir in vielen Sparten einen regelrechten Fehler-Hype, zum Beispiel Konferenzen, auf denen Start-ups ihr Scheitern feiern. Romantisieren wir das Scheitern vielleicht auch ein wenig?
Darüber habe ich schon viel nachgedacht. Eine neue Fehlerkultur darf nicht bedeuten, dass wir achtlos werden. Denken wir ans Skifahren: Früher musste man sehr gut fahren können, um sicher den Berg herunterzukommen. Heute, mit den modernen Skiern, können auch absolute Anfängerinnen und Anfänger die Piste hinuntersausen. Das kann sehr gefährlich werden. Ein bisschen ist es auch in der Wissenschaft so. Früher musste man viel lernen, und es war mühsam, Daten zu sammeln. Man musste sich gut vorbereiten, denn ein Scheitern wäre für die Forschung wie ein gebrochenes Bein gewesen: Es hätte unnötig viel Zeit, Geld und Nerven gekostet. Heute machen es uns die neuen Technologien manchmal zu leicht.
Jutta Schickore, eine deutsche Philosophin und Wissenschaftstheoretikerin, schrieb vor einigen Jahren einen Essay mit dem Titel „Durch Tausende von Irrtümern erreichen wir die Wahrheit“. Stimmen Sie dieser Aussage zu?
Absolut. Das müssen wir auch besser vermitteln. In einem Workshop unseres VISTA-Programms, des Wissenschaftsvermittlungsprogramms des ISTA, arbeiten wir zum Beispiel mit einer Kiste, aus der mehrere bunte Schnüre heraushängen. Wenn man an einer davon zieht, verschwindet sie in der Box und eine andersfarbige kommt zum Vorschein – ein bisschen wie bei einem Zaubertrick. Wir fragen das Publikum, was wohl in der Kiste ist und wie sie funktioniert. Sie denken sich alle möglichen Erklärungen aus. Und dann passiert immer das Gleiche: Sie schauen uns an und warten darauf, dass wir die Antwort liefern und die Kiste öffnen.
Was Sie nicht tun.
Genau. Die Kiste bleibt zu. Wir können nur Annahmen formulieren und ausprobieren, was passiert, wenn wir an einer Schnur in einer bestimmten Farbe ziehen. Wir können nicht in die Kiste hineinschauen. Das ist Wissenschaft. Die Frustration, die Wahrheit nie ganz zu kennen, ist Teil unseres Jobs. Damit müssen wir umgehen.
Es geht also auch um unrealistische Erwartungen. Während der Coronakrise haben wir erlebt, wie diese auch zu Wissenschaftsskepsis oder sogar Hass gegenüber Forschenden führten.
Das ist einer der Gründe, warum wir das VISTA-Programm gestartet haben. In ganz Europa ist das ein großes Problem. Österreich ist eines der Länder, in denen die Skepsis besonders hoch ist.
Die neuen Technologien machen es uns manchmal zu leicht.
Wie ist es in Ihrer Heimat Italien?
Das Vertrauen in die Wissenschaft ist etwas größer, aber es gibt viele andere Probleme im Bildungssektor. Wenn ich die beiden Länder vergleiche, fällt mir auf: Schülerinnen und Schüler in Österreich können gut Fakten lernen. Aber kritisches Denken und Kreativität kommen zu kurz. Wer gewohnt ist, unkritisch auswendig zu lernen, tut sich schwer mit Ungewissheit und Uneindeutigkeit. All das ist essenziell für den wissenschaftlichen Prozess.
Der aus Wien stammende Philosoph Karl Popper zeigte, dass wir uns der Wahrheit nur annähern können und jede Erkenntnis nur so lange gilt, bis sie widerlegt wird. Wie können Sie das vermitteln?
Eine sehr wichtige Frage. In Workshops sprechen wir über Fake News und erklären, wie man Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Zudem zeigen wir, dass es keine endgültige Wahrheit gibt. Aber wir unterrichten keine Fakten. Kinder vergessen diese ziemlich schnell, und in einigen Jahrzehnten werden sie möglicherweise obsolet sein. Also geht es vielmehr darum, Wissenschaft als Prozess zu verstehen. Ich habe eine Annahme und treffe eine erste Entscheidung, wie ich sie überprüfen könnte. Dafür sammle ich Daten. Studieren heißt, verstehen zu lernen. Letztendlich geht es um die Demokratie: Wenn Menschen sehen, wie Entscheidungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse entstehen, können sie diese vielleicht besser mittragen.
Auch die Wissenschaftsgemeinschaft ist nicht gefeit vor falschen Annahmen. In der Geschichte wurden neue Erkenntnisse, die der gängigen Lehrmeinung widersprachen, oft bekämpft – und erwiesen sich erst später als richtig.
Das passiert immer wieder. Ein Beispiel aus meinem Fachgebiet: Lange galten Impfungen als mögliche Auslöser von Autismus. Diese Annahme basierte auf Studien, bei denen es sich um Betrug handelte. Das Problem war vor allem, dass Statistiken falsch gelesen wurden. Impfungen führen in einem von einer Million Fälle zu Autismus. Wenn man sich allerdings nicht impfen lässt und die Masern kriegt, erhöht das die Gefahr, Autismus zu entwickeln oder gar zu sterben auf einen Fall pro tausend Personen. Es ist also wichtig, sich impfen zu lassen, um keinen Autismus zu entwickeln und nicht andersherum.
Forschende müssen in der Lage sein, offen an eine Frage heranzugehen und frei zu experimentieren. Ist die Grundlagenforschung in der Krise, weil vor allem wirtschaftlich verwertbare Studien gesponsert werden?
Die Wissenschaft hat sich in der letzten Zeit massiv verbreitert. Es gibt viel mehr Themen und immense Datenmengen. Früher saßen die – vor allem männlichen – Philosophen im Wiener Kaffeehaus und diskutierten über alles Mögliche. Dahin können wir nicht zurück. Aber wir sollten uns mehr Zeit lassen! Und das gilt nicht nur für die Wissenschaft. Aber die Gesellschaft erwartet von uns schnelle Lösungen für ihre Probleme. Das würde bedeuten, immer den kürzesten Weg zu wählen. Der ist aber oft falsch. ● ○