Porträt

Unter die Haut


Seit einer Residency 2010/11 ist der belgisch-marokkanische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui dem Festspielhaus St. Pölten eng verbunden. Wer 2022 im großen Saal sein Stück „Vlaemsch (chez moi)“ sah, erlebte die unter die Haut gehende, bilder­starke Inszenierung einer düsteren Erzählung über Nationa­lismus, Kolonialismus und Diskriminierung. War diese Arbeit vom Leben seiner Mutter inspiriert, so stellte sich der 48-Jährige mit seinem neuen Stück „Ihsane“ (Foto auf dieser Doppelseite) der Biografie seines Vaters. Dieser wanderte einst von Marokko nach Belgien aus und kämpfte dort mit enormen Schwierigkeiten. Darüber erzählte Sidi Larbi Cherkaoui der Theaterkritikerin Sara Schausberger für ihr Porträt auf den folgenden Seiten; zudem befragten wir den Choreografen Marc Brew, Impulstanz-Intendant Karl Regensburger und Bettina Masuch, künstlerische Leiterin des Festspielhauses, darüber, was sie an Sidi Larbi Cherkaouis Arbeit fasziniert. „Ihsane“ kommt am 24. Jänner 2025 ins Festspielhaus. Mehr dazu unter: festspielhaus.at.

© Filip Van Roe
© Filip Van Roe

Sidi Larbi Cherkaoui

Der Poet des Tanzes


Sidi Larbi Cherkaoui inszeniert Tanzstücke und Opern – sowie Musikvideos für Beyoncé. morgen sprach mit dem belgisch-marokkanischen Star-Choreografen über das Potenzial des Versagens, seine kindlichen Fernseh­vorlieben, seine Wege durch die Dunkelheit und sein neues Stück „Ihsane“, das von seinem Vater handelt.

Wenn Sidi Larbi Cherkaouis Eltern glücklich waren, schalteten sie das Radio ein und tanzten. Oft klopfte das Glück nicht an die Tür der marokkanisch-flämischen Familie in Antwerpen. Aber wenn, dann wünschte sich Cherkaoui, für immer in diesem Zustand zu verharren: „Als Kind war Tanz für mich ein Ausdruck von Freude und Verbundenheit.“

Heute gehört der 48-Jährige zu den weltweit bekanntesten Choreografen. Cherkaoui inszeniert Tanzstücke und Opern, hat seine eigene Company, Eastman, choreografiert für Beyoncé und Madonna. Er leitete das Ballet Vlaanderen und ist seit zwei Jahren Ballettchef am Grand Théâtre in Genf. Es ist unmöglich, Cherkaoui auf eine Form festzulegen: Zu unterschiedlich sind seine Stücke. Der Künstler ohne Berührungsängste arbeitete mit Shaolin-Mönchen aus China, renommierten Ballettensembles und Tangopaaren aus Argentinien. Er stand mit der britisch-bengalischen Tanzikone Akram Khan auf der Bühne und mit Tänzerinnen und Tänzern aus den Sparten Hip-Hop, Akrobatik und Lindy-Hop.

Sprachenwahnsinn

morgen trifft ihn an einem Sonntagvormittag zum Online-Gespräch. Cherkaoui sitzt im karierten Flanellhemd in seiner Wohnung in Antwerpen. Im Hintergrund steht eine mit Blumen verzierte, mexikanische Totenkopfmaske. An der Wand lehnt eine Aufnahme aus seinem Stück „Vlaemsch (chez moi)“. Der Künstler erweist sich als freundlicher und aufmerksamer Gesprächspartner. Er spricht schnell, viel – er hoffe, betont er, dass er genug Brauchbares erzähle. Dieses Wochenende habe er seine Mutter besucht, am nächsten Tag gehe es zurück nach Genf. Seit er dort als Ballettdirektor arbeitet, pendelt er zwischen der Schweiz und Belgien, wo seine Company Eastman (die englische Übersetzung seines Nachnamens) ihren Sitz hat. Sein neues Projekt „Ihsane“ ist eine Kooperation des Genfer Balletts mit Eastman.

Im November feiert das Stück seine Uraufführung, im Jänner gastiert es im Festspielhaus St. Pölten, mit dem Cherkaoui eine lange Beziehung verbindet: 2010/11 war er dort Artist in Residence, ebenso standen schon zahlreiche seiner Projekte auf dem Spielplan. Neben Stücken wie dem Tangoabend „m¡longa“, dem Sprachenwahnsinn „Babel(words)“ – gemeinsam mit Damien Jalet – und dem Shaolin-Projekt „Sutra“ war im Jahr 2022 „Vlaemsch (chez moi)“ zu sehen, eine Ode an Cherkaouis Mutter. Die neue Arbeit „Ihsane“ setzt die Erzählung fort, indem sie den Blick auf den Vater lenkt.

1972 in der Hafenstadt Antwerpen geboren, wuchs Cherkaoui im flämischen Teil von Belgien auf. Sein muslimischer Vater stammte aus Marokko, seine katholische Mutter aus Flandern. Zuhause sprach die Familie französisch. Beide Elternteile waren Halbwaisen. „Diese Parallele brachte sie schicksalhaft zusammen“, so der Choreograf. Als er 15 war, ließen sie sich scheiden. Seine Mutter wurde Alleinerzieherin, wie schon ihre eigene.

Neues Stück: Proben zu „Ihsane“

© Gregory Batardon / Grand Théâtre de Genève
© Gregory Batardon / Grand Théâtre de Genève

Faszinosum Voguing

Zum Tanz kam Cherkaoui vor allem übers Fernsehen. Er liebte den Musicalfilm „Fame – Der Weg zum Ruhm“. Und er sah viele Musikvideos: Kate Bush, Michael Jackson, Madonna. Vor allem faszinierten ihn die Bewegungen des Voguing. Beim exzentrischen Tanzstil aus der queeren afro- und lateinamerikanischen Ballroom-Szene in New York steht das dramatische Posieren im Zentrum. „Erst später verstand ich, warum ich mich als queerer Mann dem Voguing so verbunden fühlte“, erinnert sich der Choreograf.

Mit 15 begann er selbst zu tanzen: Flamenco, Stepptanz, Hip-Hop, Ballett. Nichts davon habe er besonders gut gekonnt, beteuert Cherkaoui. Bis er mit 19 Jahren den zeitgenössischen Tanz entdeckte. In den Stücken von Pina Bausch fand er sich wieder: „Ich hatte so viel Traurigkeit in mir, vor der ich davonlief. Der zeitgenössische Tanz wurde zu einem Ort für meine Melancholie.“ Der Tod war sehr präsent in seinem Leben: Sowohl sein Großvater, seine Tante als auch sein Vater starben, als er sehr jung war. Angesichts von Pina Bauschs Stücken bekam er das Gefühl, „dass Tanz eine Art ist, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen“.

Cherkaoui begann, zeitgenössischen Tanz in Brüssel bei P.A.R.T.S., der Schule der belgischen Choreografin und Tänzerin Anne Teresa De Keersmaeker, zu studieren. Es folgten Engagements für prominente Compagnien wie Alain Platels Truppe Les Ballets C de la B, Les Ballets de Monte-Carlo oder Sasha Waltz & Guests. 2010 gründete der Tänzer seine eigene Compagnie: Eastman. In der Arbeit mit seiner Gruppe fühle er eine andere Freiheit, so der Choreograf. Hier könne er experimentieren und Fehler riskieren. „Im Versagen liegt viel Potenzial“, findet Cherkaoui. „In meiner Karriere waren immer die Dinge, die nicht funktionierten, am nützlichsten. Sie gaben mir das Werkzeug in die Hand, es besser zu machen.“

Orte der Dunkelheit

Nach wie vor fängt der Tanz Cherkaouis Melancholie auf: „Ich gehe gerne an Orte der Dunkelheit und zeige, dass wir es schaffen können durchzugehen.“ Eine seiner jüngsten Arbeiten, die diesen Sommer beim Wiener Performance-Festival Impulstanz zu Gast war, erschütterte in ihrer Direktheit: In „3S“ reflektiert Cherkaoui die Verzweiflung über den Zustand der Welt, zeigt auf, wie nah am Abgrund die Menschheit steht – von der nuklearen Katastrophe in Fukushima über den Bürgerkrieg in Kolumbien bis zur industriellen Umweltzerstörung in Australien. Die Mischung aus Tanz, Text, Livemusik und dokumentarischen Videoaufnahmen schreit förmlich: Lasst uns diesen Planeten bewahren!

Wer sich mit Cherkaoui beschäftigt, stößt regelmäßig auf die Bezeichnung „Vermittler zwischen den Kulturen“. Das hat nicht nur mit seiner eigenen Herkunft zu tun, sondern vor allem damit, dass er seit jeher mit Künstlerinnen und Künstlern aus unterschiedlichsten Nationalitäten auftritt und Elemente aus vielen Traditionen, Religionen und Kunststilen verbindet. Der Mix der Kulturen wirkt bei ihm authentisch. In „Babel(words)“ etwa fragen sich 18 Künstlerinnen und Künstler aus 13 Ländern mit 15 Sprachen und sieben Religionen: Welche Sprache verwendeten die Menschen, bevor es die gesprochene Sprache gab? Sie hatten Gesten, lautet die tänzerische Antwort dieses vielsprachigen Haufens im nüchternen Bühnenbild. In „Sutra“ stehen Shaolin-Mönche auf der Bühne. Das Stück wurde Cherkaouis größter Hit, es tourt seit über 16 Jahren um die Welt. Die Faszination dafür ist nachvollziehbar: Akrobatik und Synchronizität begegnen choreografischer Poesie. Die traditionellen Bewegungen der Shaolin-Mönche treffen auf langsam ausgeführte Breakdance-Moves und melancholische Geigenmusik. In „Sutra“ gibt es eine Sequenz, in der Cherkaoui ausschließlich mit seinen Händen und Fingern tanzt, während ein Shaolin-Mönch im Hintergrund ein langes Schwert schwingt.

Der zeitgenössische Tanz wurde zu einem Ort für meine Melancholie.

Schreiende Ziege

Auch während des Interviews führt der Choreograf immer wieder seine Fingerspitzen aneinander, um das, was er sagt, zu verdeutlichen. Er streicht sich sacht über den Bart am Kinn, während er über die komplizierte Beziehung zu seinem Vater spricht, der nun Gegenstand seiner neuesten Arbeit „Ihsane“ ist. „Ihsane“ bedeutet Güte und Freundlichkeit. Der Titel spielt auch auf den aus Marokko stammenden Ihsane Jarfi an, den vier Männer 2012 im belgischen Liège aus homophoben und rassistischen Motiven ermordeten. Als queerer, arabischstämmiger Künstler meint Cherkaoui: „Ihsane hätte ich sein können.“

Die Sehnsucht seines Vaters, einen „echten Mann“ aus ihm zu machen, sei schwierig für ihn gewesen. In Flandern hatte der Marokkaner Probleme, Arbeit zu finden. „Es war hart zu sehen, wie er kämpft. Es war aber auch hart für mich, mit ihm zu kämpfen.“ Sein Papa brachte ihn zum Beispiel in Schlachthäuser, wo Tiere blutend an Haken hingen. „Ich sollte verstehen, dass Tiere getötet werden, damit wir sie am Abend essen können. Mein Vater dachte, ich würde davon richtig stark werden. Aber ich wurde Veganer.“ Heute ist er ihm dankbar dafür, dass er ihn nicht in einer Blase aufwachsen ließ. „Auch wenn es traumatisch war, eine Ziege schreien zu hören, während ihr der Kopf abgeschnitten wird: Er zeigte mir, was das Leben ist.“

Während sich Cherkaoui in „Vlaemsch (chez moi)“ mit dem flämischen Erbe seiner Mutter, der Rolle der Frau in Belgien und dem erstarkenden Nationalismus beschäftigte, nähert er sich nun der marokkanischen Herkunft seines Vaters. Wie hat dieser seine Identität geformt? In „Ihsane“ arbeitet Cherkaoui vor allem mit Künstlerinnen und Künstlern aus dem Nahen Osten und Marokko zusammen. Wie immer wird Livemusik eine fundamentale Rolle spielen. Cherkaoui wird auch in diesem Stück nicht selbst tanzen. Seit der Pandemie ist er nicht mehr aufgetreten. „Ich fühlte mich nach der langen Pause nicht gut genug als Tänzer“, sagt er. „Aber ich will nicht lügen: Ich vermisse es sehr.“ ● ○

Sidi Larbi Cherkaoui, Ballet du Grand
Théâtre de Genève, Eastman: „Ihsane“ Österreichpremiere: Festspielhaus
St. Pölten, 24. Jänner 2025, 19.30 Uhr
Einführung von Festspielhaus-Leiterin Bettina Masuch um 18.30 Uhr
Tickets unter:
shop.festspielhaus.at

© Maurice Ramirez
© Maurice Ramirez

Statements

Ein echter Aufreger


Wie Sidi Larbi Cherkaoui den Choreografen Marc Brew dazu ermutigte, seine traumatische Geschichte auf der Bühne zu erzählen, womit er Karl Regensburger, den Intendanten des Impulstanz-Festivals, umhaute und aus welchem Gefühl heraus er – Bettina Masuch, der künstlerischen Leiterin des Festspielhauses St. Pölten, zufolge – sein Talent entwickelte, das Hybride der Identitäten und der Nationalitäten zusammenzuführen: Das erzählen die drei auf den folgenden Seiten.

„Er fing meine Persönlichkeit ein“

Marc Brew ist Choreograf aus Schottland und Pionier im Bereich Mixed Abilities im Tanz.

Ich sah 2007 das Stück „Zero Degrees“ von Sidi Larbi Cherkaoui und Akram Khan in London. Damals tanzte ich bei der Candoco Dance Company, der führenden Kompanie für behinderte Tänzerinnen und Tänzer in Großbritannien. Das Stück hat mich sehr beeindruckt. Ich fühlte mich Cherkaouis tänzerischem Vokabular nahe und dachte, dass wir viel voneinander lernen könnten.

Als mich Bruno Heynderickx, der Direktor des Hessischen Staatsballetts, 2021 fragte, was ich gerne machen würde, antwortete ich: „Mein Traum ist es, mit Sidi Larbi Cherkaoui zusammenzuarbeiten.“ Also nahm er Kontakt zu ihm auf, und Larbi war fasziniert von der Idee. Wir trafen uns zunächst auf Zoom und tauschten Geschichten über unser Leben, unsere Familien, das Aufwachsen als Homo­sexuelle und viele andere Dinge aus. Bei einem späteren Anruf fragte er mich, ob wir über meinen Unfall mit 20 und die Zeit danach sprechen könnten. Während ich erzählte, nahm er mich mit seinem Handy auf. Mit diesem Interview begann unser Arbeitsprozess. Als erste kreative Aufgabe gab er mir vor: „Ich möchte, dass du von diesem Video lernst, wie du dich bewegst, wie du dich verhältst, wie du sprichst, welche Gesten du machst.“

Als wir uns dann persönlich trafen, war Larbi sehr neugierig herauszufinden, wie mein Körper funktioniert. Er schlug mir Bewegungen vor, um neue Dinge auszuprobieren. Dabei legte er sich zu mir auf den Boden, denn er ist fasziniert von Anatomie. Gleichzeitig vergewisserte er sich immer, dass es mir gut geht. So fühlte ich mich aufgehoben. Ursprünglich dachte ich, wir würden ein Duo wie mit Akram Khan machen. Aber als wir die Arbeit weiterentwickelten, meinte Larbi schließlich, dass sein Mitwirken die Kraft meiner Geschichte verwässern würde. Sie habe ihren eigenen Raum verdient. Das war sehr schön und großzügig von ihm.

Ich hätte nie gedacht, dass wir ein Stück über meinen Autounfall machen würden und konnte mir nicht vorstellen, dass sich die Leute für diese Geschichte interessieren würden. Doch im Leben vieler Menschen passieren unerwartete Veränderungen, mit denen sie fertig werden müssen. Mein Stück „an Accident / a Life“ lebt von der Erzählung, dem Text und den Visuals. Zuerst wollten wir einen Film machen, deshalb war vom ersten Tag an eine Kamera dabei. Mit Larbi als Mastermind ist ein vielschichtiges Theatererlebnis entstanden. Er fing meine ganze Persönlichkeit ein und zeigte, dass der menschliche Geist schwierige Zeiten überstehen kann. Das Stück beginnt mit dem Crash, aber es geht nicht nur um das Trauma, sondern auch um Widerstandsfähigkeit, Lachen und Humor. Ich konnte die Geschichten von Joanne, Simon und Toby erzählen, die bei dem Unfall gestorben sind. Das Stück hält die Erinnerung an diese wunderbaren Menschen wach. ● ○

„Das hat man bis dahin noch nicht gesehen“

Karl Regensburger gründete 1984 mit dem Tänzer Ismael Ivo das Impulstanz-Festival in Wien, das er bis heute leitet.

Ich habe Sidi Larbi Cherkaoui 1998 im Volkstheater als jungen Tänzer bei der Produktion „A Little Something On Bach“ von Alain Platel kennengelernt. Da stand er in riesigen Skischuhen auf einer Hütte in fünf Metern Höhe und legte einen Tanz hin, der mich wirklich umgehauen hat. Das war eine Art Vorwegnahme der Zirkuskunst, die sich erst später im zeitgenössischen Tanz verbreitet hat. Aber bei Cherkaoui war es weniger Akrobatik, das ist einfach so fantastisch mitgeschwungen – ein echter Aufreger! Er war ein derartiges Bewegungstalent, das hatte man bis zu dem Zeitpunkt noch nicht gesehen.

Als sehr selbstständiger Künstler löste er sich rasch von Platel und begann mit eigenen Choreografien. Bei Impulstanz war Cherkaoui unter anderem mit der großartigen Produktion „D’avant“ vertreten. Darin sang er mit Damien Jalet, Luc Dunberry und Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola mittelalterliche Lieder und sprach dabei viele Themen an. Es geistert immer wieder in unseren Köpfen herum, ob wir das nicht noch einmal in der Originalbesetzung bringen könnten. Larbi ist beruflich enorm eingespannt. Er leitet das Ballet du Grand Théâtre de Genève und ist auch ins Filmgeschäft involviert. Nach seinem Film „Anna Karenina“ waren sie in Hollywood von seiner Art der Personenführung derart hingerissen, dass sie sogar vom „Larbi­cismo“ gesprochen haben.

Er ist ein unglaublich friedfertiger Mensch, mit großem Verständnis für Dinge, die man schwer akzeptieren kann – und ein Vorbild. Mit welcher Ruhe er Schwierigkeiten nimmt, und wie er diskutiert, auch bei Meinungen, die völlig konträr zu seinen eigenen sind! Es liegt in seiner Natur, Leute zusammenzubringen. Ich glaube, er war als Sohn eines Marokkaners in Belgien sehr früh mit gewissen Ressentiments konfrontiert und hat wahrscheinlich schon in der Schule gelernt, mit Konflikten umzugehen. Als Autodidakt verfügt er vielleicht über einen freieren Zugang, ist von der Technik her nicht so in ein Korsett gezwängt.

Im Juli war bei Impulstanz die Neuproduktion „3S“ zu sehen. Während der Covid-Pandemie konnte Cherkaoui nicht mit einer größeren Anzahl von Tänzern arbeiten, daher hat er erstmals Eins-zu-eins-Stücke choreografiert. In den drei Soli ging es um die Ausbeutung der Natur, um Krieg und Gewalt, um Suizid. Das war schon starker Tobak, von ihm sehr unerwartet. Ich erlebte Cherkaoui plötzlich als jemanden, der sich große Sorgen um unsere Zukunft macht.

Für Ende kommenden Jahres planen wir eine Koproduktion mit dem Johann-Strauss-Jahr. Der Titel lautet „Imperial Ball“. Das Stück mit Orchester und 25 Tänzerinnen und Tänzern dreht sich um die sozialen Funktionen des Balls. Der kann ja auch ein Instrument sein, um andere zu kontrollieren, gleichzeitig liegt im Walzer eine gewisse Freiheit. Cherkaoui möchte das in Verbindung zur japanischen Kultur bringen, wo er Parallelen sieht. ● ○

„Er feiert die Unterschiede"

Bettina Masuch ist künstlerische Leiterin des Festspielhauses St. Pölten, das Sidi Larbi Cherkaoui seit Langem verbunden ist.

Ich kenne Sidi Larbi Cherkaoui seit seinen Anfängen und habe seinen Werdegang mit großer Begeisterung verfolgt. Er kreierte in den Jahren 2000 bis 2004 in der aufregenden neuen Kompanie Les Ballets C de la B von Alain Platel seine ersten Stücke. Dort wurde zeitgenössischer Tanz bereits mit den großen gesellschaftlichen Themen zusammengebracht. Auch später als Choreograf hat Larbi nie der Welt den Rücken zugedreht, sondern sich ihr empathisch zugewandt.

Familiär hatte er keinen privilegierten Start ins Leben. In Interviews sagte er, er hätte sich nirgends so richtig zu Hause gefühlt. Ich glaube, aus diesem Gefühl heraus entwickelte er dieses Talent, das Hybride der Identitäten und der Nationalitäten zusammenzuführen. Als Choreograf arbeitete er mit unterschiedlichen Tänzerinnen und Tänzern. Dabei kommen Tanzsprachen aus dem klassischen Ballett, Urban Styles wie Hip-Hop, Flamenco oder Tango zum Einsatz, aber auch die Bewegungskunst der Shaolin-Mönche. Seine Stücke lassen die Künstlerinnen und Künstler stets in ihren kulturellen Eigenheiten bestehen. Sie müssen sich nicht einer Ästhetik unterordnen. Cherkaoui macht diesen Brückenschlag zu anderen Kulturen mit einer großen Wertschätzung. Er ist neugierig auf die Unterschiede, die er feiert. Aber gleichzeitig sucht er auch das, was uns jenseits der Oberfläche als Menschen miteinander verbindet.

Ich finde sehr interessant, wie Sidi Larbi Cherkaoui sich mit kultureller Identität auseinandersetzt, weil dieser Begriff im Moment so oft instrumentalisiert und als Kampfbegriff zur Abschottung benützt wird. In „Vlaemsch (chez moi)“ beschäftigte sich Cherkaoui 2022 mit der flämischen Herkunft seiner Mutter. Das Stück ist eine Hommage an Flandern, seine Rituale, Vorlieben und Besonderheiten. Gleichzeitig vermittelt er, dass diese Traditionen eben nur einen kulturellen Reichtum darstellen, wenn man sie mit anderen teilt. Seine Kunst zieht keine Mauern hoch, sondern öffnet Türen. Durch seine eigene Biografie ist Larbi für bestimmte Themen wie Migration oder Heimatlosigkeit sensibilisiert. Kommenden Jänner wird er sich im Festspielhaus St. Pölten in dem Stück „Ihsane“ den marokkanischen Wurzeln seines Vaters widmen.

Cherkaoui kooperiert immer wieder mit bildenden Künstlern wie Marina Abramović oder Antony Gormley. Er bewahrt seine künstlerische Handschrift, auch wenn er mit Popstars wie Madonna und Beyoncé arbeitet. Die persönliche Verbundenheit mit langjährigen Partnern wie dem Festspielhaus St. Pölten ist ihm wichtig. Unser Publikum liebt ihn. ● ○