Kolumne

Karička, Hallingdans und Hora


Wenn meine Freundin Marianne zum Geburtstag einlädt, dann weiß man, es wird getanzt. Denn Marianne liebt Reigentänze jeder Art, ob brasilianisch, griechisch oder irisch. Sogar einem zünftigen Landler kann sie etwas abgewinnen. Hauptsache, der Rhythmus stimmt. Regelmäßig besucht sie verschiedene Tanzkurse, organisiert Tanzabende und reist sogar ein, zwei Mal im Jahr nach Griechenland, um das Gemeinschaftswunder der bewegten Körper immer wieder neu zu erleben.

Schulter an Schulter, Hand in Hand, Schritt für Schritt in einem Halbbogen der Musik folgend. Das Herz hüpft, die Beine schreiten – zwei nach vor, zwei zurück, einen nach links, einen nach rechts, eine Umdrehung, dreimal in die Hände klatschen. Das blaue Meer, am Horizont untergehende Sonne, weiße Segelschiffe, grüne Hügel in der Ferne, über den Wellen gleitende Möwen. „Griechischer Wein“, singt Udo Jürgens, „ist so wie das Blut der Erde / komm’, schenk dir ein.“ Wer kann dem Zauber widerstehen?

Auf den griechischen Inseln werden viele solche Kurse angeboten. Hier treffen sich tanzfreudige Menschen jeden Alters und unterschiedlicher Herkunft. Es wird gemeinsam gewandert, besichtigt, gegessen, getrunken, gelacht, in allen Sprachen der Welt von der Schönheit der Inseln geschwärmt. Und wenn Bouzouki, Gitarre, Baglama, Tsouras oder Geige erklingen, ist niemand zu halten. Morgens und abends eine zweistündige Tanzeinheit auf der Terrasse über den Klippen: Der Körper vibriert, der Kopf ist frei, die erst vor Kurzem schmerzenden Gelenke sind wie neu geölt, die Sorgen flattern im lauen Wind davon. Eine Heilung für den Körper und die Seele beginnt.

„Wenn ich meinen Rücken strecke, den Kopf hebe und die Tanzposition einnehme“, sagt Marianne, „bin ich vollkommen da und spüre auf einmal die gebündelte Energie der vergangenen Kurse in mir.“ Das ist es – die Erinnerung an eine wunderbare Zeit, die die Körperzellen speichern und immer wieder abrufen können.

Mariannes Tanzfreude erinnert mich an meine Anfänge in Wien. Um Deutsch zu lernen, besuchte ich die Vorbereitungskurse für ausländische Studenten und Studentinnen an der Universität Wien. Unsere Kursleiterin Veronika, mit der ich bis heute befreundet bin, schlug einmal vor, nach dem Unterricht noch gemeinsam etwas zu trinken. „Gleich um die Ecke ist ein Grieche. Gehen wir hin?“ Gesagt, getan.

Ein paar Minuten später saßen wir um den Tisch – vor uns Gyros, Zaziki und Souflaki, im Glas Retsina – und unterhielten uns im von unseren Muttersprachen gefärbten Deutsch, das den Kellnern sehr gefiel. Als Sirtaki-Musik aus dem Lautsprecher ertönte, holten die drahtigen Burschen einige von uns auf die freie Fläche zwischen den Tischen, legten ihre Arme auf die Schulter des Nächsten, schwenkten die Beine nach links und rechts und zogen die Reihe durch den Raum. Auf einmal war es nicht nur ein Tanz, sondern ein Lebensgefühl, ein bisschen Griechenland in Wien, eine für ein, zwei Stunden sorgenfreie Zeit.

Ab diesem Tag gingen wir jedes Mal nach dem Unterricht in unsere Landeslokale, aßen dort typische Speisen und tanzten, wenn es irgendwie ging, zu den Klängen des jeweiligen Volkes. Im ungarischen Restaurant versuchten wir uns am Csardas, im polnischen übten wir den Polkaschritt, im slowakischen zeigte ich meinen neuen Freundinnen und Freunden, wie man Karička tanzt, einen Kreistanz, der sich bei unseren Hochzeiten großer Beliebtheit erfreut. Wir waren für alles offen – ob norwegischer Hallingdans oder rumänische Hora, wir probierten alles. Dabei war es gar nicht wichtig, ob die Figuren stimmten, ob jemand wem anderen auf die Zehen stieg oder ihn unabsichtlich in die Rippen stieß. Wir waren jung, ungestüm und hungrig nach neuen Erfahrungen. Und wir hatten jede Menge Spaß dabei.

Damals sagten meine österreichischen Verwandten und Freunde, dass ich sehr schnell Deutsch gelernt hätte. Viel schneller als andere, meinten sie. Mir kam es nicht so vor, im Gegenteil; ich hatte das Gefühl, dass es viel zu langsam ging. Heute glaube ich, dass doch etwas Wahres dran sein könnte. Denn meine Kommilitonen und ich hatten ein unheimliches Glück mit unserer ersten Deutschlehrerin Veronika, die uns nicht nur die Sprache, sondern auch die Freude, in einem bis dahin fremden Land zu leben, beigebracht hat.

Sprache, Melodie und Rhythmus gehören untrennbar zusammen. Musik und Tanz bringen Lockerheit und ermöglichen es, leichter Kontakte zu knüpfen, oft sogar auch dort, wo die Sprache versagt. Im spielerischen Umgang miteinander verloren wir die Scheu vor möglichen Fehlern, hatten kein Problem, uns frei auszudrücken, die neuen Wörter so aneinanderzureihen, dass sie einen Sinn ergaben. Reden, tanzen, Spaß haben – das war die Devise unseres Unterrichts. Denn Alltagssorgen hatten wir als Migrantinnen und Migranten mehr als genug.

Veronika unterrichtete Deutsch als Fremdsprache länger als 40 Jahre. Sie bereitete Tausende Schüler auf ihr Studium oder Berufsleben vor und ging – keine Überraschung – privat sehr gern tanzen. Hauptsächlich Tango. In einem Beitrag für eine wissenschaftliche Publikation schrieb sie: „Wo Sprache nicht nur Sprache, Bild nicht nur Bild, Musik nicht nur Musik, Tanz nicht nur Tanz ist – dort, wo Semantik grenzüberschreitend in Bewegung gerät, wo die verschiedenen Sinnesbereiche in Beziehung treten und zu einem Ganzen werden, dort kann eine neue Sprache … etwas bewegen und zum Schwingen bringen.“*

Jede Sprache hat ihre eigene melodische Struktur, die beeinflusst, wie die Worte und Sätze ausgesprochen werden. Unsere Muttersprache prägt Tonhöhe, Akzent und Rhythmus, in denen wir auch in einer Fremdsprache sprechen. Vor allem der Rhythmus ist eng mit der Struktur einer Sprache verbunden. Ein kleines Kind lernt durch Gedichte und Lieder früher sprechen. Und auch beim Fremdsprachenlernen sind Singen und Tanzen von großem Vorteil.

Mariannes Geburtstagsfeier war ein Fest der Sinne. In ihrem mit Lichterketten und Fackeln geschmückten Garten gelang es ihr, ihre Tanzbegeisterung auf die Gäste zu übertragen und mich an meine Anfänge in Österreich zu erinnern. Gleich danach rief ich Veronika an und sprach fast eine Stunde mit ihr. Typisch Frauen, würde so mancher sagen. Ja, na und? Wir sehen uns bald. Wo? Natürlich bei einer Tanzveranstaltung. ● ○

* JAX, Veronika (2000), Was mich beim Fremdsprachenlernen bewegt, was ich beim
Fremdsprachenlernen bewege. In: SCHLEMMINGER, BRYSCH u. SCHEWE, (Hg.)