© Alexi Pelekanos
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Kultur • Round Table

„Ich möchte nackt mein Fett schütteln“


Im Ballett sehen wir normierte Körper, die von Zucht und Disziplin erzählen. Welche alternativen Körperbilder vertritt der zeitgenössische Tanz? Wie reagiert eine Ausbildungsstätte auf gesellschaftliche Entwicklungen? Und warum provoziert Nacktsein noch immer? Darüber sprach morgen mit den Choreografinnen Doris Uhlich und Leonie Humitsch sowie Rosemarie Brucher, Vizerektorin der Musik und Kunst Privatuniversität Wien, in deren Büro.

Doris Uhlich, Ihr „Pudertanz“ zur Eröffnung der Kulturhauptstadt Europas in Bad Ischl verursachte heftige mediale Aufregung. Hat es Sie überrascht, dass man mit Nacktheit noch provozieren kann?

Doris Uhlich

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Ich glaube tatsächlich, es war weniger die Nacktheit, sondern die Diversität der Körper, die schockiert hat. Angeblich hätte die Kombination von nackten und behinderten Körpern auch verstörend auf einige Kinder gewirkt. Ich frage mich, ob das die Eindrücke und Gedanken der Kinder sind oder die der Erwachsenen. Für viele ist es anscheinend eine Herausforderung, dass diverse Körper selbstbewusst auftreten.

Mit scheinbar perfekten Ballettkörpern wäre es anders rezipiert worden?

Uhlich

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Ich wurde im Laufe meiner Karriere oft mit der Frage konfrontiert, welche Körper es verdienen, nackt gezeigt zu werden – und welche besser verborgen bleiben sollen. Wenn wir nichtgenormte Körper zeigen, dann wird uns vorgeworfen, wir wollten doch nur provozieren. Wenn ich meinen Fetttanz mache, dann heißt es, solche Körper wolle man nicht sehen. Die seien nicht schön. Besonders Frauen sollen sich in unserer Gesellschaft dafür schämen, dass sie nicht den von der Werbung propagierten, genormten Bildern entsprechen. Wenn sie das nicht tun, sondern selbstbewusst nackt auftreten, dann empört das viele. Es stellt ihr Wertesystem in Frage. Einige wollen diese perfektionierten Körper auf der Bühne sehen. Aber meine Bühne sieht anders aus, mehr wie die Welt da draußen.

Tanz soll unser Denken öffnen.

Rosemarie Brucher

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Doris arbeitet ja schon lange mit diversen Körpern. Aber man sieht auch in den Arbeiten von Florentina Holzinger, dass Tänzerinnen offensiv ihre Operationsnarben zeigen oder alternde Körper nackt auftreten. Ich denke, der Grund dafür, dass der „Pudertanz“ im Salzkammergut für Aufregung sorgte, ist auch, dass man den geschützten Raum der Bühne verlassen hat. Auf der Straße nimmt man Nacktheit noch immer anders wahr als im Theater. Das sind zwei getrennte Welten. Auf der Bühne ist man längst aufgeschlossen, progressiv und divers.

Uhlich

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Das stimmt sicher. Ich habe in Bad Ischl das erste Mal in meiner Biografie mit der Nacktheit diese Kunstblase verlassen, was ich zunehmend wichtiger finde. Ich war erstaunt, in welche politischen Diskussionen ich durch das Wahljahr plötzlich involviert wurde. Politik darf sich nicht einmischen in die Frage, was Kunst ist und was nicht. Aber das motiviert mich nur noch mehr: Kunst muss frei sein, dafür kämpfe ich. Gern auch im öffentlichen Raum.

Leonie Humitsch

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Dabei hat der zeitgenössische Tanz ja die Aufgabe, Unterschiede aufzuheben. Von der Pädagogik bis in den künstlerischen Betrieb geht es darum, Diversität zu ermöglichen: Statt in den festgefahrenen Oppositionen von Mann und Frau und veralteten Schönheitsbildern festzustecken, soll er unser Denken und unsere Erfahrungswelt öffnen. In unserem alltäglichen Leben wird Diversität zum Glück immer „normaler“.

Im Ballett wird nach klassischen Typen besetzt. Versucht zeitgenössischer Tanz, gegen diese Rollenvorstellungen zu rebellieren?

Brucher

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Natürlich ist vieles auch eine Frage der Ausbildung. Beim klassischen Ballett wurde man sofort aussortiert, wenn man gewissen Körpernormen nicht entsprach. Die Frage lautete lange Zeit: Was muss ein Körper können, um an einer kompetitiven Ausbildungsstätte zu reüssieren? Wir haben an der Musik und Kunst Privatuni inzwischen auch eine Arbeitsgruppe zur Barrierefreiheit, die aus der Frage hervorgegangen ist: Wie kann eine Institution auch Menschen mit diversen Körpern und Psychen eine Ausbildung ermöglichen? Wir hatten etwa einen Rollstuhlfahrer im Fach Tanz. Vor 15 Jahren wäre das undenkbar gewesen. Aber wir sind gefordert, uns zu öffnen und die Lehrpläne zu adaptieren. Wenn man sagt, man möchte mehr diverse Körper auf der Bühne sehen, dann muss man diese Menschen auch motivieren, sich zu bewerben. Ihnen vermitteln, dass sie willkommen sind und ernst genommen werden, schon dadurch, dass Räume technisch adaptiert werden. Eine inklusive Langzeitwirkung zu erzielen, das beginnt meiner Meinung nach bei der Ausbildung.

Humitsch

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Der Vater meines Sohnes ist unter anderem Sozialpädagoge und hat viel mit Menschen mit Behinderung gearbeitet. Für meinen Sohn war das nichts Außergewöhnliches, er hat viel Zeit in der Einrichtung verbracht, ist an den Rollstühlen herumgeklettert und hat keinen Unterschied gemacht zwischen den Leuten dort mit oder ohne Behinderung. In der Schule wird man dann wieder fast automatisch in Vorurteile hineingedrängt, allein schon wegen Bezeichnungen und Wordings wie „Inklusion“. Da gibt es im Bildungssystem noch viel zu ändern, vor allem auch, was die Sprache betrifft.

Selbstermächtigung ist ein zen­trales Thema im Tanz. Gleichzeitig werden gerade viele Skandale aufgedeckt, wie restriktiv und übergriffig es in großen Institutionen und Kompanien nach wie vor zugeht.

Brucher

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Es ist höchste Zeit, dass diese veralteten Strukturen aufgebrochen, dass Hierarchien nicht unhinterfragt akzeptiert werden. Im Studiengang Tanz fordern die Studierenden ganz klar bestimmte Lehrinhalte wie Kolonialismus, Gender, Queer und Trans Studies ein. Fragen nach Inklusion und Diversität sind ihnen wichtig. Mich beeindruckt, wie streitbar sie dabei auftreten. Sie melden sich selbstbewusst zu Wort, hinterfragen Hierarchien. Dadurch sind sie auch besser für die Berufswelt gerüstet. Sie haben gelernt zu widersprechen, müssen sich keinen Abläufen anpassen, die für alle schädlich sind.

Wenn es einem nicht gefällt, kann man jederzeit gehen.

Humitsch

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Deshalb ist es mir ein großes Anliegen, mit sehr unterschiedlichen Menschen zusammenzuarbeiten, auch aus anderen Kunstrichtungen. Das erweitert nicht nur den eigenen Horizont, sondern die Stücke werden dadurch auch einem breiteren Publikum zugänglicher – weil sich unterschiedliche Welten, Ansichten und Zugänge mischen und austauschen. Oft hat man das Gefühl, ein Stück sei nun fertig – aber durch eine neue Tänzerin, einen neuen Tänzer, Musikerin oder Musiker bei einer Wiederaufnahme kommt eine ganz andere Facette und Lebenswelt dazu.

Im Theater, aber auch im Tanz wird die Arbeit mit sogenannten Laien immer wichtiger. Ist das nicht auch ein Problem, dass jede Person nur über sich selbst und die eigenen Lebenswirklichkeit erzählen soll?

Brucher

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Oft sind die Hierarchien klar verteilt: Nach wie vor absolvieren vorwiegend gewissen Normen entsprechende Menschen universitäre Ausbildungen. Sie sind hochqualifizierte Künstler und Künstlerinnen, die dann „Expertinnen und Experten des Alltags“ casten, etwa Menschen mit Fluchterfahrung, um mit realer Betroffenheit zu arbeiten. Uns als Universität ist es aber ein Anliegen, dass auch diese Experten und Expertinnen des Alltags die Möglichkeit haben, einen Ausbildungsprozess zu durchlaufen, damit sie nicht nur auf ihre scheinbare Identität reduziert werden und die Hierarchie von professionellen Kunstschaffenden und sogenannten Laien aufgebrochen wird.

Uhlich

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Ich bin glücklich, dass es eine reiche Kunst- und Performancegeschichte vor mir gab, an der ich mich orientieren konnte. Dass ich in einer politischen Landschaft begonnen habe, die meine Herangehensweise geschätzt und gefördert hat. Im Moment habe ich eher das Gefühl, vieles ist gefährdet, wofür wir stehen. Es ist in Ordnung, wenn jemand mit meiner Kunst nichts anfangen kann. Aber es geht nicht, dass sie jemand in den Mistkübel werfen möchte. Es gilt zu akzeptieren, dass es Parallelwelten und unterschiedliche Geschmäcker gibt. Ich akzeptiere ja auch, dass manche in Lederhosen als Schuhplattler auftreten. Und ich möchte nackt mein Fett schütteln. Es sollte nicht dieses Entweder-­oder-Denken geben.

Brucher

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Man ist oft schnell dabei, das, was man nicht versteht, abzulehnen. Für die Persönlichkeitsentwicklung unserer Studierenden ist es uns als Ausbildungsstätte wichtig, dass wir sie in ihrer Fähigkeit, kritisch zu denken, fördern – und zugleich, dass sie einen gewissen Respekt für die Dinge haben, die sie nicht verstehen.

Lange war Mitmachtheater ein abschreckender Begriff. Mittlerweile hat man das Gefühl, die Bereitschaft des Publikums, Teil des Kunstgeschehens zu sein, habe deutlich zugenommen.

Humitsch

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Ich merke, dass niederschwellige, trotzdem hochqualitative Möglichkeiten für Menschen, etwas selbst zu erleben, sehr gefragt sind. Sie dabei abzuholen und weniger auf theoretische Betitelungen der Kurse und Angebote zu achten, gibt ein angenehmes und sicheres Gefühl. Ich gebe Workshops für unterschiedliche Berufsgruppen – unter anderem habe ich einen Workshop für eine Zahnarztpraxis gehalten und gemerkt, dass ich gar nicht mit Schlagwörtern wie zeitgenössischer Tanz zu kommen brauche. Das schreckt viele nur ab. Ich habe versucht, das Bewegungsprogramm aus ihrem Alltag heraus zu entwickeln. Welche Bewegungen und Haltungen machen und nehmen Zahnärztinnen und Zahnärzte ein? Welche Körperpartien werden wie beansprucht und bewegt? Wie kann man daraus etwas entwickeln? So erwischt man Menschen, die mit zeitgenössischem Tanz gar nichts anfangen können, aber Spaß an der Bewegung haben. In meinen „Sommertanzwochen“ sind meist auch viele Buben, die sicher Hemmschwellen hätten, in Kurse oder Workshops mit dem Titel „Ballett“ oder „Contemporary Dance“ zu gehen, weil das leider nicht als „männlich“ gilt.

Uhlich

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In meinen Nackttanzkursen bin ich auch oft überrascht, wie schnell sich Menschen ausziehen. Sie wollen selbst erfahren, was die Performerinnen und Performer erleben. Sie wollen wissen, wie sich das anfühlt. Ich glaube, es ist ein großes Ja zu diversen Körpern – und zu dem eigenen, der wahrscheinlich auch nicht perfekt ist. Um noch einmal auf meinen „Pudertanz“ im Salzkammergut zurückzukommen: Ich denke, gerade für Kinder hat es eine große Vorbildwirkung, dass eine diverse Gruppe nackt und stolz tanzt. Mir geht es bei der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen auch nicht um das scheinbare Defizit, sondern um das Potenzial. Wenn man sieht, wie sich diese Körper energetisch bewegen, dann wird es zu einer Selbstverständlichkeit. Außerdem gilt in Theater und Tanz noch immer: Wenn es einem nicht gefällt, dann kann man jederzeit gehen. ● ○