Im Stiegenhaus verhallen die letzten Stimmen. Die Tänzerinnen und Tänzer schlendern mit ihren Sporttaschen und Rucksäcken nach Hause. Draußen dämmert es. Niklas Kern und Maria Naber sind noch geblieben und harren nun vor dem großen Spiegel im Studio aus, wie eingefroren in einer erwartungsvollen Pose. Hana Zanin Pauknerová, ihre Lehrerin, zieht die Tür zu. Dann scrollt sie auf ihrem Handy eine Playlist durch. Zarte, erste Takte Klaviermusik erklingen. Sie gehören zu „Vast“, einem sphärischen Stück der philippinisch-amerikanischen Sängerin Sandrayati. Das Paar beginnt zu tanzen. Ein Mann und eine Frau, zwei Menschen mit Downsyndrom, Tänzer und Tänzerin eines zeitgenössischen Duetts voller Annäherungen, Gleichklang und Entwindungen.
Die Frage, was Kunst bewirken kann, ist so alt wie unbeantwortet. Aber an diesem späten Nachmittag im Studio von Ich bin O. K., einem Tanzverein für Menschen mit und ohne Behinderung, erübrigt sie sich. Es ist, was es ist, sagt die Kunst. Oder die Liebe? Die Liebe zur Kunst? Was sieht und fühlt das Publikum in den Bewegungen von Niklas Kern und Maria Naber? Ihre Freude am Ausdruck? Das Unpräzise an manchen Stellen? Die Lehrerin applaudiert. „Ein paar Kleinigkeiten“ seien ihr aufgefallen, sagt Hana Zanin Pauknerová. Daran würden sie noch arbeiten. Kern und Naber lächeln.
Inklusives Versprechen
Der Tanzverein Ich bin O. K. ist ein inklusives Versprechen. Das Anliegen, mit Tanz den Weg in eine bessere, offenere Gesellschaft zu weisen, ist Teil seiner Gründungsgeschichte. Was genau ist mit Inklusion gemeint? Fragt man Attila Zanin, der das Projekt mit Zanin Pauknerová künstlerisch leitet, was er damit verbindet, antwortet er: „Verwirklicht ist Inklusion, wenn vom Kindergarten über die Arbeitswelt bis zur Bühne alle so selbstverständlich angekommen sind, dass es den Begriff nicht mehr braucht.“ In rund 20 Klassen für Hip-Hop, Musical, Ballroom Dance, Bühnentanz und Modern arbeite man daran Stunde für Stunde. Die Company übt seit 2010 anspruchsvolle Choreografien und abendfüllende Tanztheaterproduktionen ein.
Modern Dance
Zurück an den Beginn des Nachmittags: Die Jüngeren tanzen heute draußen. Ein japanisches Fernsehteam will im Wiener Resselpark mit ihnen drehen. Zanin Pauknerová deutet auf das weiße Klavier unter einem ausladenden Baum: „Kinder, wir spielen heute für einen Film, dass wir im Park herumspazieren. Dann kommen wir zufällig dort vorbei und beginnen zu tanzen.“ Sofort vollführt ein Mädchen eine Pirouette. Füße wippen, tanzen frei, „lustige Füüüße“, ruft Zanin Pauknerová, Bäuche kreisen. „Stopp!“ Alle frieren ein. Der Pianist spielt John Lennons „Imagine“. Der Dreh kann beginnen. Bunte Tücher wirbeln durch die Luft. Die Kinder umringen das Klavier, Mütter und Väter zücken ihre Handys, Parkbesucher klatschen. Zum Schluss verbeugen sich die Tänzerinnen und Tänzer, bilden einen Kreis und legen ihre Hände für das Abschlussritual aufeinander: „Eins! Zwei! Drei! Wir! Sind! O.! K.!“
Die Lehrerin radelt zurück ins Tanzstudio und zieht sich um. Im Tanzsaal wartet schon die Intensivklasse Modern Dance: „Niklas, welches Körperteil?“, fragt sie. „Kopf“, antwortet dieser. Köpfe beginnen zu kreisen. „Hüfte“, schlägt seine Nachbarin vor. Hüften geraten in Bewegung. „Füße“, ruft Maria Naber. Allseitiges Ballenwippen. Die Tänzerinnen und Tänzer tragen schwarze T-Shirts der Company, auf deren Rücken der Schriftzug „AkzepTANZEN seit 1979“ zu lesen ist. Neben der Tür liegt ein grasgrünes Päckchen. „Liebe Hana. Happy happy Birthday. Deine Evi und Franzi“, steht darauf. Nach der Stunde wird mit alkoholfreiem Sekt, Ansprachen und vielen Umarmungen der Geburtstag der Lehrerin gefeiert, zuvor noch frei getanzt. Hana Zanin Pauknerová sucht nach der passenden Musik. „Lasst eure Gefühle raus“, ruft sie, am Ende fragt sie: „Was habt ihr gespürt?“ Jemand sagt: „Das Vertrauen beim Augenkontakt“. Und: „Das Streiten verschwindet, es ist nur mehr Freude da.“