© Philipp Horak
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Gesellschaft • Ich bin O. K.

Freie Köpfe, lustige Füße


Macht es die Welt besser, wenn Menschen, die sonst im Dunkeln bleiben, plötzlich im Rampenlicht erstrahlen – und jene, die sonst Unterstützung brauchen, auf der Bühne viel zu geben haben? Tanzen verzaubert, öffnet Blicke, zielt ins Herz. Daran glaubt die Compagnie Ich bin O. K., gegründet 1979 im Waldviertel. Ein Besuch im Tanzstudio.

Im Stiegenhaus verhallen die letzten Stimmen. Die Tänzerinnen und Tänzer schlendern mit ihren Sporttaschen und Rucksäcken nach Hause. Draußen dämmert es. Niklas Kern und Maria Naber sind noch geblieben und harren nun vor dem großen Spiegel im Studio aus, wie eingefroren in einer erwartungsvollen Pose. Hana Zanin Pauknerová, ihre Lehrerin, zieht die Tür zu. Dann scrollt sie auf ihrem Handy eine Playlist durch. Zarte, erste Takte Klaviermusik erklingen. Sie gehören zu „Vast“, einem sphärischen Stück der philippinisch-amerikanischen Sängerin Sandrayati. Das Paar beginnt zu tanzen. Ein Mann und eine Frau, zwei Menschen mit Downsyndrom, Tänzer und Tänzerin eines zeitgenössischen Duetts voller Annäherungen, Gleichklang und Entwindungen.

Die Frage, was Kunst bewirken kann, ist so alt wie unbeantwortet. Aber an diesem späten Nachmittag im Studio von Ich bin O. K., einem Tanzverein für Menschen mit und ohne Behinderung, erübrigt sie sich. Es ist, was es ist, sagt die Kunst. Oder die Liebe? Die Liebe zur Kunst? Was sieht und fühlt das Publikum in den Bewegungen von Niklas Kern und Maria Naber? Ihre Freude am Ausdruck? Das Unpräzise an manchen Stellen? Die Lehrerin applaudiert. „Ein paar Kleinigkeiten“ seien ihr aufgefallen, sagt Hana Zanin Pauknerová. Da­ran würden sie noch arbeiten. Kern und Naber lächeln.

Inklusives Versprechen

Der Tanzverein Ich bin O. K. ist ein inklusives Versprechen. Das Anliegen, mit Tanz den Weg in eine bessere, offenere Gesellschaft zu weisen, ist Teil seiner Gründungsgeschichte. Was genau ist mit Inklusion gemeint? Fragt man Attila Zanin, der das Projekt mit Zanin Pauknerová künstlerisch leitet, was er damit verbindet, antwortet er: „Verwirklicht ist Inklusion, wenn vom Kindergarten über die Arbeitswelt bis zur Bühne alle so selbstverständlich angekommen sind, dass es den Begriff nicht mehr braucht.“ In rund 20 Klassen für Hip-Hop, Musical, Ballroom Dance, Bühnentanz und Modern arbeite man da­ran Stunde für Stunde. Die Company übt seit 2010 anspruchsvolle Choreografien und abendfüllende Tanztheaterproduktionen ein.

Modern Dance

Zurück an den Beginn des Nachmittags: Die Jüngeren tanzen heute draußen. Ein japanisches Fernsehteam will im Wiener Resselpark mit ihnen drehen. Zanin Pauknerová deutet auf das weiße Klavier unter einem ausladenden Baum: „Kinder, wir spielen heute für einen Film, dass wir im Park herumspazieren. Dann kommen wir zufällig dort vorbei und beginnen zu tanzen.“ Sofort vollführt ein Mädchen eine Pirouette. Füße wippen, tanzen frei, „lustige Füüüße“, ruft Zanin Pauknerová, Bäuche kreisen. „Stopp!“ Alle frieren ein. Der Pianist spielt John Lennons „Imagine“. Der Dreh kann beginnen. Bunte Tücher wirbeln durch die Luft. Die Kinder umringen das Klavier, Mütter und Väter zücken ihre Handys, Parkbesucher klatschen. Zum Schluss verbeugen sich die Tänzerinnen und Tänzer, bilden einen Kreis und legen ihre Hände für das Abschlussritual aufeinander: „Eins! Zwei! Drei! Wir! Sind! O.! K.!“

Die Lehrerin radelt zurück ins Tanzstudio und zieht sich um. Im Tanzsaal wartet schon die Intensivklasse Modern Dance: „Niklas, welches Körperteil?“, fragt sie. „Kopf“, antwortet dieser. Köpfe beginnen zu kreisen. „Hüfte“, schlägt seine Nachbarin vor. Hüften geraten in Bewegung. „Füße“, ruft Maria Naber. Allseitiges Ballenwippen. Die Tänzerinnen und Tänzer tragen schwarze T-Shirts der Company, auf deren Rücken der Schriftzug „AkzepTANZEN seit 1979“ zu lesen ist. Neben der Tür liegt ein grasgrünes Päckchen. „Liebe Hana. Happy happy Birthday. Deine Evi und Franzi“, steht darauf. Nach der Stunde wird mit alkoholfreiem Sekt, Ansprachen und vielen Umarmungen der Geburtstag der Lehrerin gefeiert, zuvor noch frei getanzt. Hana Zanin Pauknerová sucht nach der passenden Musik. „Lasst eure Gefühle raus“, ruft sie, am Ende fragt sie: „Was habt ihr gespürt?“ Jemand sagt: „Das Vertrauen beim Augenkontakt“. Und: „Das Streiten verschwindet, es ist nur mehr Freude da.“

Strahlkraft: Tanzverein Ich bin O. K. beim TV-Dreh im Park

© Philipp Horak
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Traum vom Tanz

Seinen Sitz hat der Tanzverein heute in einem Innenhof unweit der Wiener Albertina. Vis-à-vis probt die Ballettschule der Staatsoper. Seinen Ursprung hat er in Waidhofen an der Thaya, im Waldviertel. In den optimistischen späten 1970er-Jahren beschloss eine junge Frau namens Katalin Zanin, die Freude an der Bewegung gesellschaftlichen Vorbehalten entgegenzusetzen. Die gebürtige Ungarin hatte als Heranwachsende davon geträumt, Tänzerin zu werden, musste sich aber den rigiden Vorstellungen ihres Vaters beugen, für den das kein achtbarer Beruf war. So studierte sie Psychologie und landete als Praktikantin in einem Spital. Dort musste sie Eltern schonend beibringen, dass ihr Neugeborenes das sogenannte Downsyndrom aufweist, Trisomie 21.
Zwei von tausend Babys kommen mit dieser Diagnose zur Welt. Katalin Zanin erlebte die Verzweiflung und Enttäuschung von Eltern aus nächster Nähe. Manche sahen sich nicht imstande, ihr Kind in den Arm zu nehmen. Dagegen wollte sie etwas tun. 1979, die Ungarin ist Anfang dreißig, hochschwanger und spricht noch kaum ein Wort Deutsch, gründet sie den Kultur- und Bildungsverein Ich bin O. K. In ihren Lebenserinnerungen, die nächstes Jahr als Buch erscheinen, beschreibt Katalin Zanin, wie sie einst als kleines Mädchen auf der Straße einem Rollstuhlfahrer begegnet und ihr Großvater sie wegzieht: „Schau nicht hin!“ Die Worte haben sich eingebrannt. „Schau hin! Und mach was!“ wird zu ihrem Credo.

Kampf gegen Vorurteile

Von Waidhofen führt der Weg drei Jahre später nach Wien. 1984 absolvieren Tänzerinnen und Tänzer von Ich bin O. K. einen Auftritt im Weißen Haus in Washington. Katalin Zanin fliegt mit Rollstuhlfahrern hin. Danach schickt sie dem Chef der Airline eine Packung Pampers und schreibt: „So müssen unsere Tänzer den Flug überstehen, weil sie nicht auf die Toilette kommen.“ Unentwegt hat sie zu kämpfen, gegen finanzielle Nöte ebenso wie gegen tiefsitzende Vorurteile. Vereinzelt stürmen Besucher und Besucherinnen wutschnaubend aus dem Saal: „Mongos gehören nicht auf die Bühne.“ Einmal wird sie im Volkstheater angespuckt. Doch langsam, aber stetig öffnet sich die Gesellschaft. 2001 eröffnet die Compagnie den Wiener Opernball.

Acht Jahre später übernimmt die nächste Generation. Auch darüber gibt es einiges zu erzählen. Als der Nachmittag noch jung ist – die erste Klasse beginnt in zwei Stunden –, rücken Attila Zanin, der Sohn der Vereinsgründerin, und Hana Zanin Pauknerová, seine langjährige Partnerin, im leeren Tanzsaal ein paar Sessel und einen kleinen, runden Tisch zusammen. Ihre Ehe hat nicht gehalten, ihre künstlerische Zusammenarbeit sehr wohl. Attila Zanin trat in jungen Jahren in die harte Schule des klassischen Balletts ein und wurde früh zum Pendler zwischen Tanzwelten: Im Studio seiner Mutter galt der fließende Ausdruck, die Lust an der Bewegung alles, während man im hochkulturellen Ballettbetrieb eine fast obsessive Einübung von fehlerloser Präzision hochhielt. Attila Zanin fand Gefallen an beidem. Als im August 1997 Lady Diana stirbt und Elton John ihr zum Abschied mit einer umgedichteten Version seines Hits „Candle In The Wind“ huldigt, tun sich in Wien klassische Balletttänzerinnen und -tänzer mit Ich bin O. K. zusammen, um zur ergreifenden Ballade zu performen.

Ich tanze mit Leidenschaft. Dieser Verein ist für mich sehr wichtig.

Attila Zanin zögerte zunächst, das künstlerische Erbe seiner Mutter anzutreten. Acht Jahre lang lebte er mit Hana Zanin Pauknerová – sie stammt aus Prag und studierte Ballett sowie zeitgenössischen Tanz – zunächst in Deutschland. Die beiden tanzten, unterrichteten, kellnerten und arbeiteten an der Tankstelle; dann unterrichtete Attila Zanin Hip-Hop in Jugendzentren und merkte dabei „dass etwas fehlt“, wie er sagt. 2009 ging das Paar zurück nach Wien und übernahm schließlich das Lebenswerk von Katalin Zanin. Inspiriert von einer Aufführung der spanischen Kunstschule und Tanzkompanie Danza Mobile, die sie in Sevilla gesehen hatten und deren Professionalität sie tief beeindruckte, erkannten sie das Potenzial, das in ihrem Tanzverein noch steckte.

Grenzvermessungen

Ständig wurden die Grenzen neu vermessen. Sechs Jahre später initiierten das Duo Zanin-Pauknerová und ihr Team eine Ausbildung zu Dance Assists als berufliche Option für begabte Tänzerinnen und Tänzer mit Trisomie 21. Wieder zwei Jahre später, 2018, debütierte erstmals ein Paar mit Downsyndrom auf dem Wiener Opernball, Felix Röper und Swatina Wutha. Bundespräsident Alexander Van der Bellen erwies dem Duo in seiner Loge die Ehre. Medien wurden aufmerksam. Wutha beschrieb in einem Interview mit der Presse damals Tanz als „Seele, die aus der Haut kommt“. Seither gehört ein Eröffnungspaar von Ich bin O. K. zum Opernball dazu.

Felix Röper ist ein mittlerweile international erfolgreicher Tänzer aus dem niederösterreichischen Wilhelmsburg – und auf seine Art ein Botschafter für eine künftige Welt, in der sich der Begriff Inklusion erübrigt hat, weil das, was er bezeichnet, nicht mehr erörtert werden muss. Ich bin O. K. war eine Station auf seinem Weg. „Ich bin Tänzer“, begrüßt er Besucher und Besucherinnen auf seiner Homepage: „Und ja, ich wurde mit Downsyndrom geboren, was mich aber nicht davon abhält, meinen Traum zu leben, denn der Tanz, der ist mein Leben.“ Schon früh habe sein großes Interesse der Musik, dem Tanz und dem Schauspiel gegolten, liest man. Kürzlich gastierte Röper beim Festival della Danza im italienischen Monfalcone.

Menschen, die normalerweise im Dunkeln bleiben, erstrahlen im Rampenlicht.

Aus dem Rahmen

Bei Ich bin O. K. steht herausragenden Tänzerinnen und Tänzern wie Niklas Kern und Maria Naber eine Intensivklasse offen. Daraus rekrutieren sich die Mitwirkenden an den eigenen Produktionen und an EU-Projekten wie ConnectUp, das der sozialen und kulturellen Spaltung in Europa entgegenwirkt. Die Kulturinitiative spricht jugendliche Randgruppen, Migrantencommunitys und Minderheiten wie die LGBTQ-Szene an.

Der 47-jährige Mike Brozek war bereits bei der Eröffnung des Opernballs 2001 dabei. An diesem Nachmittag verlässt er die Intensivklasse für ein paar Minuten, um im Büro mit der Journalistin zu reden. Er habe nie aufgehört, „sehr viel und sehr hart“ zu trainieren, sagt er: Aussprache, Steppen, Ballett. Goethes „Erlkönig“ könne er immer noch auswendig, „ohne Zetteln, ohne Schummeln“. Er hebt an: „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind“ und rezitiert die Ballade bis zum Schluss – ohne einmal abzusetzen. Was bedeutet ihm der Tanz? „Freiheit“, sagt Brozek ohne Zögern. Er habe viel zu kämpfen im Leben. „Ich tanze mit Leidenschaft. Dieser Verein ist für mich sehr wichtig. Da bleibe ich.“

Niklas Kern, 30, ist in Tulln aufgewachsen und lebt seit einigen Jahren in Wien. Der Dienstag gehört dem Hip-Hop, mittwochs steht Modern am Programm, freitags Breakdance. „Mir macht alles Spaß“, erzählt er. Derzeit arbeitet er am Stück „Aus dem Rahmen tanzen“ mit. Seine Kollegin Johanna Ortmayr verbindet Tanz, sagt sie, mit „Freundschaft“, mit „Liebe“. Auch für sie ist der Verein ein Zuhause; seit 25 Jahren gehört sie dazu. Als sie zum ersten Mal auf der Bühne stand, „da war ich noch ein Kind“.

Was also ändert Kunst? Fast alles, geht es nach Attila Zanin und Hana Paukernová. Tanzen verzaubere, mache offener, ziele ins Herz. Einmal blieb ein Besucher nach einer Performance sitzen. Er nehme sich einige Minuten Zeit um die Eindrücke zu verarbeiten, bekannte er, denn er habe „noch nie so etwas Ehrliches auf der Bühne gesehen“. Auch Vereinsgründerin Katalin Zanin hat im Tanztheater stets einen Raum gesehen, „in dem alles möglich ist“. Sogar eine Umkehrung, schildert Hana Zanin Pauknerová: „Menschen, die normalerweise im Dunkeln bleiben, erstrahlen plötzlich im Rampenlicht, und jene, die sonst Unterstützung brauchen, haben viel zu geben.“ Dabei habe Katalin Zanin nicht nur an eine tanzinteressierte Öffentlichkeit gedacht, sondern auch an die Eltern, für die nach der Geburt eines Babys mit Trisomie 21 eine Welt zusammengebrochen sei. Sie sollten ihre Kinder auf der Bühne sehen und sich über sie freuen. Sie selbst habe sich mit ihrer Autobiografie die Trauer über den Tod ihres Mannes, mit dem sie 50 Jahre verheiratet war, von der Seele schreiben wollen: „Er ist immer an meiner Seite gestanden, nicht hinter mir, sondern Hand in Hand.“

Bodenhaftung: Intensivklasse im Studio des Vereins

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So viel Talent

Beim Tanzen gehe es um „Zufriedenheit, Nachdenklichkeit, ein Gefühl für das Miteinander“. Es sei ein Weg zu sich selbst, aber anders als bei einer Therapie: „Dort lernt man Dinge wie Gehen oder Greifen – beim Tanz das Geben und Nehmen“, schließt Katalin Zanin. Ihr Sohn wird es beim Abschied ähnlich formulieren. Kämpfen müsse der Verein immer noch. Aber egal, welche Sorgen ihn gerade niederdrückten, „wenn ich in eine Tanzklasse komme, schlägt mir jedes Mal so viel Freude, so viel Talent entgegen, dass ich sofort alles andere vergesse.“ Auch das kann Tanz. ● ○