© Maurice Ramirez
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Statements

Ein echter Aufreger


Wie Sidi Larbi Cherkaoui den Choreografen Marc Brew dazu ermutigte, seine traumatische Geschichte auf der Bühne zu erzählen, womit er Karl Regensburger, den Intendanten des Impulstanz-Festivals, umhaute und aus welchem Gefühl heraus er – Bettina Masuch, der künstlerischen Leiterin des Festspielhauses St. Pölten, zufolge – sein Talent entwickelte, das Hybride der Identitäten und der Nationalitäten zusammenzuführen: Das erzählen die drei auf den folgenden Seiten.

„Er fing meine Persönlichkeit ein“

Marc Brew ist Choreograf aus Schottland und Pionier im Bereich Mixed Abilities im Tanz.

Ich sah 2007 das Stück „Zero Degrees“ von Sidi Larbi Cherkaoui und Akram Khan in London. Damals tanzte ich bei der Candoco Dance Company, der führenden Kompanie für behinderte Tänzerinnen und Tänzer in Großbritannien. Das Stück hat mich sehr beeindruckt. Ich fühlte mich Cherkaouis tänzerischem Vokabular nahe und dachte, dass wir viel voneinander lernen könnten.

Als mich Bruno Heynderickx, der Direktor des Hessischen Staatsballetts, 2021 fragte, was ich gerne machen würde, antwortete ich: „Mein Traum ist es, mit Sidi Larbi Cherkaoui zusammenzuarbeiten.“ Also nahm er Kontakt zu ihm auf, und Larbi war fasziniert von der Idee. Wir trafen uns zunächst auf Zoom und tauschten Geschichten über unser Leben, unsere Familien, das Aufwachsen als Homo­sexuelle und viele andere Dinge aus. Bei einem späteren Anruf fragte er mich, ob wir über meinen Unfall mit 20 und die Zeit danach sprechen könnten. Während ich erzählte, nahm er mich mit seinem Handy auf. Mit diesem Interview begann unser Arbeitsprozess. Als erste kreative Aufgabe gab er mir vor: „Ich möchte, dass du von diesem Video lernst, wie du dich bewegst, wie du dich verhältst, wie du sprichst, welche Gesten du machst.“

Als wir uns dann persönlich trafen, war Larbi sehr neugierig herauszufinden, wie mein Körper funktioniert. Er schlug mir Bewegungen vor, um neue Dinge auszuprobieren. Dabei legte er sich zu mir auf den Boden, denn er ist fasziniert von Anatomie. Gleichzeitig vergewisserte er sich immer, dass es mir gut geht. So fühlte ich mich aufgehoben. Ursprünglich dachte ich, wir würden ein Duo wie mit Akram Khan machen. Aber als wir die Arbeit weiterentwickelten, meinte Larbi schließlich, dass sein Mitwirken die Kraft meiner Geschichte verwässern würde. Sie habe ihren eigenen Raum verdient. Das war sehr schön und großzügig von ihm.

Ich hätte nie gedacht, dass wir ein Stück über meinen Autounfall machen würden und konnte mir nicht vorstellen, dass sich die Leute für diese Geschichte interessieren würden. Doch im Leben vieler Menschen passieren unerwartete Veränderungen, mit denen sie fertig werden müssen. Mein Stück „an Accident / a Life“ lebt von der Erzählung, dem Text und den Visuals. Zuerst wollten wir einen Film machen, deshalb war vom ersten Tag an eine Kamera dabei. Mit Larbi als Mastermind ist ein vielschichtiges Theatererlebnis entstanden. Er fing meine ganze Persönlichkeit ein und zeigte, dass der menschliche Geist schwierige Zeiten überstehen kann. Das Stück beginnt mit dem Crash, aber es geht nicht nur um das Trauma, sondern auch um Widerstandsfähigkeit, Lachen und Humor. Ich konnte die Geschichten von Joanne, Simon und Toby erzählen, die bei dem Unfall gestorben sind. Das Stück hält die Erinnerung an diese wunderbaren Menschen wach. ● ○

„Das hat man bis dahin noch nicht gesehen“

Karl Regensburger gründete 1984 mit dem Tänzer Ismael Ivo das Impulstanz-Festival in Wien, das er bis heute leitet.

Ich habe Sidi Larbi Cherkaoui 1998 im Volkstheater als jungen Tänzer bei der Produktion „A Little Something On Bach“ von Alain Platel kennengelernt. Da stand er in riesigen Skischuhen auf einer Hütte in fünf Metern Höhe und legte einen Tanz hin, der mich wirklich umgehauen hat. Das war eine Art Vorwegnahme der Zirkuskunst, die sich erst später im zeitgenössischen Tanz verbreitet hat. Aber bei Cherkaoui war es weniger Akrobatik, das ist einfach so fantastisch mitgeschwungen – ein echter Aufreger! Er war ein derartiges Bewegungstalent, das hatte man bis zu dem Zeitpunkt noch nicht gesehen.

Als sehr selbstständiger Künstler löste er sich rasch von Platel und begann mit eigenen Choreografien. Bei Impulstanz war Cherkaoui unter anderem mit der großartigen Produktion „D’avant“ vertreten. Darin sang er mit Damien Jalet, Luc Dunberry und Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola mittelalterliche Lieder und sprach dabei viele Themen an. Es geistert immer wieder in unseren Köpfen herum, ob wir das nicht noch einmal in der Originalbesetzung bringen könnten. Larbi ist beruflich enorm eingespannt. Er leitet das Ballet du Grand Théâtre de Genève und ist auch ins Filmgeschäft involviert. Nach seinem Film „Anna Karenina“ waren sie in Hollywood von seiner Art der Personenführung derart hingerissen, dass sie sogar vom „Larbi­cismo“ gesprochen haben.

Er ist ein unglaublich friedfertiger Mensch, mit großem Verständnis für Dinge, die man schwer akzeptieren kann – und ein Vorbild. Mit welcher Ruhe er Schwierigkeiten nimmt, und wie er diskutiert, auch bei Meinungen, die völlig konträr zu seinen eigenen sind! Es liegt in seiner Natur, Leute zusammenzubringen. Ich glaube, er war als Sohn eines Marokkaners in Belgien sehr früh mit gewissen Ressentiments konfrontiert und hat wahrscheinlich schon in der Schule gelernt, mit Konflikten umzugehen. Als Autodidakt verfügt er vielleicht über einen freieren Zugang, ist von der Technik her nicht so in ein Korsett gezwängt.

Im Juli war bei Impulstanz die Neuproduktion „3S“ zu sehen. Während der Covid-Pandemie konnte Cherkaoui nicht mit einer größeren Anzahl von Tänzern arbeiten, daher hat er erstmals Eins-zu-eins-Stücke choreografiert. In den drei Soli ging es um die Ausbeutung der Natur, um Krieg und Gewalt, um Suizid. Das war schon starker Tobak, von ihm sehr unerwartet. Ich erlebte Cherkaoui plötzlich als jemanden, der sich große Sorgen um unsere Zukunft macht.

Für Ende kommenden Jahres planen wir eine Koproduktion mit dem Johann-Strauss-Jahr. Der Titel lautet „Imperial Ball“. Das Stück mit Orchester und 25 Tänzerinnen und Tänzern dreht sich um die sozialen Funktionen des Balls. Der kann ja auch ein Instrument sein, um andere zu kontrollieren, gleichzeitig liegt im Walzer eine gewisse Freiheit. Cherkaoui möchte das in Verbindung zur japanischen Kultur bringen, wo er Parallelen sieht. ● ○

„Er feiert die Unterschiede"

Bettina Masuch ist künstlerische Leiterin des Festspielhauses St. Pölten, das Sidi Larbi Cherkaoui seit Langem verbunden ist.

Ich kenne Sidi Larbi Cherkaoui seit seinen Anfängen und habe seinen Werdegang mit großer Begeisterung verfolgt. Er kreierte in den Jahren 2000 bis 2004 in der aufregenden neuen Kompanie Les Ballets C de la B von Alain Platel seine ersten Stücke. Dort wurde zeitgenössischer Tanz bereits mit den großen gesellschaftlichen Themen zusammengebracht. Auch später als Choreograf hat Larbi nie der Welt den Rücken zugedreht, sondern sich ihr empathisch zugewandt.

Familiär hatte er keinen privilegierten Start ins Leben. In Interviews sagte er, er hätte sich nirgends so richtig zu Hause gefühlt. Ich glaube, aus diesem Gefühl heraus entwickelte er dieses Talent, das Hybride der Identitäten und der Nationalitäten zusammenzuführen. Als Choreograf arbeitete er mit unterschiedlichen Tänzerinnen und Tänzern. Dabei kommen Tanzsprachen aus dem klassischen Ballett, Urban Styles wie Hip-Hop, Flamenco oder Tango zum Einsatz, aber auch die Bewegungskunst der Shaolin-Mönche. Seine Stücke lassen die Künstlerinnen und Künstler stets in ihren kulturellen Eigenheiten bestehen. Sie müssen sich nicht einer Ästhetik unterordnen. Cherkaoui macht diesen Brückenschlag zu anderen Kulturen mit einer großen Wertschätzung. Er ist neugierig auf die Unterschiede, die er feiert. Aber gleichzeitig sucht er auch das, was uns jenseits der Oberfläche als Menschen miteinander verbindet.

Ich finde sehr interessant, wie Sidi Larbi Cherkaoui sich mit kultureller Identität auseinandersetzt, weil dieser Begriff im Moment so oft instrumentalisiert und als Kampfbegriff zur Abschottung benützt wird. In „Vlaemsch (chez moi)“ beschäftigte sich Cherkaoui 2022 mit der flämischen Herkunft seiner Mutter. Das Stück ist eine Hommage an Flandern, seine Rituale, Vorlieben und Besonderheiten. Gleichzeitig vermittelt er, dass diese Traditionen eben nur einen kulturellen Reichtum darstellen, wenn man sie mit anderen teilt. Seine Kunst zieht keine Mauern hoch, sondern öffnet Türen. Durch seine eigene Biografie ist Larbi für bestimmte Themen wie Migration oder Heimatlosigkeit sensibilisiert. Kommenden Jänner wird er sich im Festspielhaus St. Pölten in dem Stück „Ihsane“ den marokkanischen Wurzeln seines Vaters widmen.

Cherkaoui kooperiert immer wieder mit bildenden Künstlern wie Marina Abramović oder Antony Gormley. Er bewahrt seine künstlerische Handschrift, auch wenn er mit Popstars wie Madonna und Beyoncé arbeitet. Die persönliche Verbundenheit mit langjährigen Partnern wie dem Festspielhaus St. Pölten ist ihm wichtig. Unser Publikum liebt ihn. ● ○