Bea von Schrader, Aufführung „Tasten, Tanz & Tagtool“, 2024, Kunsthaus GAS © Margret Kraus
Bea von Schrader, Aufführung „Tasten, Tanz & Tagtool“, 2024, Kunsthaus GAS © Margret Kraus

Kultur • Schrader

Aus dem Schlamm geboren


In Grünbach am Schneeberg schuf die Tänzerin und Choreografin Bea von Schrader einen einzigartigen Ort. morgen besuchte die beeindruckende Persönlichkeit in ihrem Kunsthaus, wo sie Tanz mit Malerei, Musik und vielem mehr verschwistert.

Man stelle sich vor, all das hier wäre abgerissen worden: der Veranstaltungssaal im Art-déco-Stil, die Vorhalle mit ihren großen, mehrteiligen Bogenfenstern, der Giebel, hinter dem sich kleine Zimmer verbergen. Das gesamte Ensemble, das 1924 als Arbeiterheim der 1.600-Seelen-­Gemeinde Grünbach am Schneeberg errichtet wurde.

Voll mit Müll

Es hat überlebt. Dank eines Moments, den Bea von Schrader bei einem Besuch von morgen an einem Septembervormittag ebendort schildert. Es war im Jahr 2008, als sie erstmals diese Bühne betrat. Nun steht sie hier und erzählt davon, wie sie die Location entdeckte. „Hier“ – sie weist mit einer kreisenden Geste in den Zuschauerraum – „war alles voll mit Müll. Aber ich schaute in den Saal, und mir war klar, dass man ihn nicht verfallen lassen kann.“ Heute heißt das damals verfallende Gebäude Kunsthaus Grünbach am Schneeberg, kurz Kunsthaus GAS.

Bea von Schrader, 1968 in Linz geboren, ist weit gereist: Tokyo, Australien, Amsterdam, San Francisco – an vielen Orten dieser Erde lebte, studierte und arbeitete sie, in unterschiedlichen performativen Genres wie Ausdruckstanz, Butoh, New Dance, und dem experimentellen Theater. Zudem absolvierte sie Ausbildungen in Violine, Gitarre und klassischem Gesang. Seit 2008 lebt und werkt sie im einstigen Arbeiterheim Grünbachs. Dieses baute die Tänzerin, die im Vorjahr den Kulturpreis des Landes Niederösterreich – genauer: den Würdigungspreis für darstellende Kunst – erhielt, als einen Raum des Dialogs zwischen den Disziplinen auf, gemeinsam mit vielen, vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern.

In Grünbach, das Anfang der 1920er-Jahre durch ein Steinkohle­bergewerk enorm wuchs, war das Gebäude einst ein Zentrum der Arbeiterkulturbewegung. Im Lauf der Jahrzehnte diente die Location als Kino- und Tanzsaal, als Versammlungsort und Vereinstreffpunkt, als Theater, Konzerthaus und Streikzentrale. Doch 1987 war Schluss damit. Dann geschah lange nichts – eben bis Bea von Schrader kam. Sie gründete den Verein Urhof 20 und betreibt das Haus bis heute mithilfe von öffentlichen Subventionen, privatem Sponsoring und Eintritten, sehr viel ehrenamtlicher Unterstützung sowie einer beispiellosen Hingabe. Ein Meilenstein war die Dachsanierung 2022.

Mir war klar, dass man den Saal nicht verfallen lassen kann

Grasende Kühe

Passiert man die Ortstafel von Grünbach, grüßt zunächst eine rustikale Villa mit Holzfassade; es folgen einstöckige Häuschen, einige davon sichtlich seit Längerem verlassen. Auf Wiesen grasen Kühe, auf einem Hang lugen Häuser zwischen Bäumen hervor. Die reinste Bilderbuchidylle. Ein wenig aus dem Rahmen fällt eine Mauer hinter einem Parkplatz, der sich auf der rechten Straßenseite auftut: Darauf prangt eine Wandmalerei, auf der sich Gesichter und Figuren ineinander schmiegen, tanzen und einen Vorgeschmack auf das geben, was gegenüber geschieht.

Durch eine Einfahrt und ein Café geht es in den großen Saal. In dessen hinterem Bereich steht eine Sofagarnitur, auf der Bea von Schrader bei dem Treffen zwei Stunden lang über ihr Projekt erzählt. Wenn sie von ihren Performances, Kollaborationen mit anderen Künstlerinnen und Künstlern, Musikerinnen und Musikern sowie dem Maler Dieter Puntigam berichtet, dann entstehen Bilder vor dem geistigen Auge. Häufig führt die Tänzerin und Choreografin das Geschehene direkt mit ihrem Körper vor: etwa wenn sie eine imaginäre Tür öffnet, als sie in ihrer Erzählung eine Gartenhütte verlässt.

© Margret Kraus
© Margret Kraus

Lebenskrisen

Seit sie das Haus wieder erweckte, gab es hier: Festivals für Performance, Medienkunst und zeitgenössischen Zirkus, zahllose Konzerte, Bälle, transmediale Recherchen, ein Projekt des Kunstkollektivs Klub Montage, eine interdisziplinäre Projektwoche, bei der neben Performances auch Videos, Klangskulpturen und Installationen entstanden, einen Kunstsalon als Hommage an die epochale Dichterin Gertrude Stein – und eine Reihe mit dem Titel „Tasten, Tanz & Tagtool“, häufig zeitgenössischen und modernen Komponistinnen und Komponisten wie Terry Riley, Joan Tower oder Werner Schulze gewidmet.

Diese Aufführungen entwickelt Bea von Schrader mit dem Pianisten Albert Mühlböck und Dieter Puntigam. Während Mühlböck am Klavier sitzt, arbeitet Puntigam mit dem sogenannten Tagtool – einem vom Kollektiv OMAI erdachten Gerät, das Malerei animiert und auf die Bühne projiziert. Bisweilen reagiert Bea von Schrader darauf direkt in ihrer Performance. Wobei zuvor nie feststeht, was Puntigam malen wird. Zuletzt stand ein Stück Luigi Nonos, „Sofferte onde serene“, im Mittelpunkt. „Albert Mühlböck erzählt mir die Hintergründe einer Komposition, so entdecken wir gemeinsam neue Aspekte daran“, schildert Bea von Schrader. „Luigi Nono schrieb das Stück in der Krise seines Lebens.“ Für ihre Choreografie ließ sie sich vom japanischen Butoh inspirieren. „Damit arbeite ich schon lange. Dieser Tanz ist ebenfalls verbunden mit der Krise.“ Tatsumi Hijikata, der den Butoh begründete, bezeichnete ihn einmal als „aus dem Schlamm geboren“.

Die Konfrontation mit dem Tod führte mich in die höchste Präsenz.

Kirchgang

Der Tanz als Begegnung mit dem Existenziellen, der Krise, dem, was an die Grenzen des Daseins führt: Dazu passt ein Schlüsselerlebnis, das die Pfarrerstochter norddeutscher Eltern als Volksschülerin hatte. In ihrer Freizeit war sie oft in der Kirche, „um die Weite des Raumes mit dem Körper zu erfahren und mit meinem Gesang die Akustik zu erproben und zu genießen“. Einmal kam sie, auf einem Bein, vor einem Gekreuzigten zu stehen – einem toten Menschen. „Die Konfrontation mit dem Tod hat mich in höchste Präsenz geführt – alles andere wurde nebensächlich“, erinnert sie sich an diesen Moment, „schwierige körperliche Haltungen konnte ich dadurch besser meistern.“ Etwa wenn sie dann daheim in ihrem Zimmer tanzte und „versuchte, körperliche Positionen zu halten oder lange auf einem Bein zu stehen“. Als Bea von Schrader von diesem Erlebnis erzählt, tut sie das buchstäblich mit Händen und Füßen, balanciert auf einem Bein, streckt einen Arm dem imaginären Jesus am Kreuz entgegen. Lebenskrisen, Unvorhergesehenes, Krankheiten in die Kunst einfließen zu lassen statt Umgehungsstrategien zu entwickeln: Das könnte eine der Maximen von Bea von Schraders Choreografien sein.

Künstlerische Wechselwirkungen: Performance, Saal des Kunsthaus GAS

© Claudia Winkler
© Claudia Winkler

Ohne Sicherheitsnetz

Einmal probte sie eine Performance, bei der sie sich an Tüchern hochzog – und quetschte sich die Rippen. „Genau das wurde dann zum Schlüssel für die choreografische Arbeit. Ich fand andere Möglichkeiten, meinen Körper im Tuch zu bewegen.“ Einmal befestigte sie an ihrem Körper Bänder und reichte diese ins Publikum: „Die Bänder stehen für die Verbundenheit innerhalb der Menschengruppe in diesem Raum. Ein Netzwerk, das als solches nicht wahrgenommen werden würde, aber durch diese Bänder die Wirkung der eigenen Handlung und Haltung vor Augen führt.“ An einem Punkt der Performance hing sie regelrecht am vorderen Bühnenrand. „Wenn eine Person an einem Band gezogen hätte, wäre ich hinuntergefallen“, sagt sie. Performance soll für sie ohne Sicherheitsnetz stattfinden. Ob man schon einmal Nacktschnecken beim Liebesleben beobachtet habe, fragt sie. Manche Arten produzieren dabei einen Schleimfaden, seilen sich an diesem ab und machen in luftiger Höhe weiter. Auch solche Dinge inspirieren sie.

Als einen ihrer frühen Einflüsse nennt sie die legendäre Isadora Duncan, eine Tanzpionierin der 1920er-Jahre. Diese sprach 1903 in einer Vorlesung über die „Tänzerin der Zukunft“, von der sie prophezeite: „Sie wird kommen als der freie Geist, der in dem Leibe des freien Weibes der Zukunft wohnen wird. […] Ihr Kennzeichen wird sein: der höchste Geist in dem freiesten Körper!“ Worte, die von Schrader prägten. Bei Duncan knüpft sie mit ihrer intensiven Auseinandersetzung mit musikalischer Komposition und visueller Kunst an, über die sie gern als „Konversation der Medien“ spricht. Dafür schuf sie sich in Grünbach einen „fantastischen Experimentier- und Schöpfungsraum“, wie sie es selbst ausdrückt. In einer kürzlich erschienenen Publikation über das Kunsthaus GAS schreibt die Autorin Magdalena Scheicher: „Diese Verknüpfung verschiedenster Sparten und die transmediale Kunstproduktion und Veranstaltungskonzeption generieren eine Art Labor der intensiven Forschung im freien Kunst- und Kultursektor.“ Für die Schauspielerin Mercedes Echerer ist der Kunstraum, wie sie ebendort notierte, eine „Keimzelle für eine visionäre Kraft der Kunstproduktionen“.

Mitglieder des Kunstkollektivs Klub Montage (David Pridal, Daphne von Schrader) bei einer Residency im Kunsthaus

© Je. Jesch
© Je. Jesch

Tierisches Publikum

Am Ende des morgen-Besuchs macht die Hausherrin eine kleine Führung durch den Gebäudekomplex, auch in den zauberhaften Garten, in dem Kastanien, Birnen und Klangkunstwerke verstreut sind – etwa eine Harfenskulptur des Künstlers Josef Baier. Als sie einmal bei einem Festival gespielt wurde, trotteten die Kühe vom Nachbargrundstück an den Zaun und lauschten der Musik. Tierisches Publikum anzuziehen: Auch das ist eine der Einzigartigkeiten dieses Ortes. ● ○