© Clemens Schmiedbauer
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„Uns fehlt nur ein Meer“

„Uns fehlt nur ein Meer“


St. Pölten ist die jüngste Landeshauptstadt Österreichs. Was hat sie kulturell zu bieten? Wo herrscht Aufholbedarf? Gibt es ein Alleinstellungsmerkmal? Und wie ist das Lebensgefühl? Ein Gespräch mit Renate Kienzl, der Erfinderin des Literaturfestivals Blätterwirbel, dem Autor Thomas Fröhlich sowie dem Kriminalschriftsteller Philipp Gravenbach.

Herr Fröhlich, Sie sind ein zugezogener St. Pöltner. Wird die Kulturszene der Stadt unterschätzt?

Thomas Fröhlich

:

Als Zuagrasta kann ich nur sagen: Ich kenne die Stadt seit 25 Jahren und lebe seit 20 Jahren hier. Bis jetzt habe ich es nicht bereut. St. Pölten ist lange fürchterlich unterschätzt worden – nicht nur kulturell, sondern überhaupt. Ich finde sehr sympathisch, dass es eben kein Freiluftmuseum ist. Wenn man nach Krems kommt, geht es einem ein bisschen wie in Florenz oder Venedig. Man sagt: Wow, schön. Das passiert einem in St. Pölten sicher nicht.

Philipp Gravenbach

:

Einspruch! Ich bekomme viel Besuch aus Deutschland. Die Leute sind alle ziemlich beeindruckt. Als St. Pöltner sind wir so an den barocken Kern gewöhnt, dass wir ihn gar nicht mehr wahrnehmen.

Fröhlich

:

Stimmt schon. Aber der wirklich schöne Teil der Stadt spielt sich auf sehr kleinem Raum ab.

Renate Kienzl

:

Genau das macht es für mich im Vergleich zu Wien aus. In St. Pölten kann man alles fußläufig erreichen. Natürlich wird niemand aus diesem Grund herfahren. Vielleicht aber wegen des Seengebiets im Norden der Stadt oder auch wegen des Sonnenparks.

Welche Gründe gibt es denn, St. Pölten zu besuchen?

Fröhlich

:

Es ist eine lebendige Stadt. Darauf wollte ich eingangs hinaus. Es gibt Städte, die sich auf Kunst von damals verlassen. St. Pölten lebt im Jetzt.

Kienzl

:

St. Pölten sucht ein Alleinstellungsmerkmal. Wir haben es noch nicht gefunden. Zum Teil kämpfen wir noch immer gegen den Ruf, dass bei uns um 18 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden. Und dass es früher immer gestunken hat, wird in Gesprächen auch noch oft erwähnt. Aber es tut sich was. Vor allem draußen. St. Pölten ist mit seinen Plätzen fast eine mediterrane Stadt.

Gravenbach

:

Vollkommen richtig. Uns fehlt nur ein Meer. Eine Qualität ist, dass du in St. Pölten sehr schnell komplett im Gemüse bist. Wenn wir jetzt aufstehen und gemütlich losgehen, stehen wir in zehn, zwölf Minuten mitten im Kaiserwald, im Hammerpark, im Südpark oder an der Traisen.

Welches Kulturpublikum erreicht man in St. Pölten, wie weit reicht das Einzugsgebiet?

Kienzl

:

Wenn man in die Tiefgarage des Festspielhauses runterschaut, sieht man Autokennzeichen von überall her. Das Einzugsgebiet reicht mindestens bis Linz und Wien. Auch aus dem Waldviertel kommen viele. Anders ist es bei den Tonkünstler-Konzerten. Da ist ganz viel Stammpublikum von vor Ort. Die Tonkünstler haben ein Wahnsinnsniveau. Sie sollten sich nur mehr der Moderne annähern, wenn ich das mal so vorsichtig sagen darf. Angekommen in der Moderne sind wir mit dem Landestheater.

Fröhlich

:

Ich finde das Festspielhaus toll. Aber noch besser gefällt mir in St. Pölten der Off-Bereich. Die Theatergruppe Perpetuum zum Beispiel arbeitet auf einem unglaublich hohen Niveau. In einzelnen Bereichen gibt es immer wieder Sachen, die viel Publikum von außerhalb anziehen. Vor zehn, 15 Jahren war St. Pölten die Metal-Hauptstadt Österreichs. Das hatte eine enorme Breitenwirkung. Es kamen Leute aus ganz Österreich, und die lokalen Bands haben auf den Top­festivals in Deutschland gespielt.

Kienzl

:

Wenn wir über Musik reden, ist das Frequency Festival vom Publikum her natürlich der Bringer schlechthin. Das zieht junge Leute aus ganz Österreich an. Eine tolle Geschichte!

Fröhlich

:

Die Anrainer sehen das anders, zum Teil sicher zurecht. Warum man unbedingt Bierdosen in die Traisen hauen muss, entzieht sich meiner Kenntnis.

Kienzl

:

Die Veranstalter versuchen ja, das Publikum zu erziehen. Gleich nach dem Festivalende wird alles tadellos zusammengeräumt. Es gibt sehr viele Freiwillige, die jeden Glassplitter mitnehmen. Aber natürlich ist es in der Umgebung drei Tage lang lauter als sonst.

Gravenbach

:

Die Anrainer sollen sich nicht so aufpudeln. Man ruft auch nicht zu Silvester um 22.05 Uhr die Polizei, weil bei den Nachbarn die Musik zu laut ist. Wir waren alle einmal jung und haben Blödsinn gemacht. So viele Jahre hat man nicht, um Festivals wirklich zu genießen. Das geht nur als Junger. Durch das Frequency Festival ist St. Pölten überregional bekannt. Es ist auch ein beachtlicher Wirtschaftsfaktor. Da hat sich die Stadt was getraut, das finde ich schön. Ich würde mir wünschen, dass man öfter mal etwas Neues ausprobiert.

Herr Gravenbach, Sie haben lange im Ausland gelebt und sind seit ein paar Jahren wieder hier. Welche Perspektive haben Sie dadurch auf Ihre Heimatstadt?

Gravenbach

:

Ich bin ein wiedergekehrter Weggegangener. Zwei Jahre war ich in Frankreich, danach in Wien und am Schluss sechs Jahre in Berlin. Vor allem von Berlin könnte man sich etwas abschauen. Die Bezirksverwaltungsbehörden waren dort sehr offen, was kulturelle Versuche und Veranstaltungsexperimente angeht. Inzwischen hat sich das leider auch geändert. Es hat aber viel vom Flair der Stadt ausgemacht, als ich dort war.

Fröhlich

:

Diese „Let’s try!“-Mentalität fiel mir aber auch an St. Pölten sehr positiv auf, als ich herkam. Ich habe in Wien beim Ersten Wiener Lesetheater mitgemacht. Hier begann ich dann ohne Vorbildung einfach aus Spaß, selbst Veranstaltungen zu organisieren. Das war fröhlicher Dilettantismus. Es gab damals den Kulturamtsleiter Thomas Karl. Der war super. Man schlug ihm irgendwas vor, er sagte: „Mach’s.“ In Wien war alles mit unglaublichen Hürden verbunden. In St. Pölten war vieles relativ leicht möglich. Das kam meiner damaligen Punk-Philosophie sehr entgegen.

Gravenbach

:

Die Schwester von Thomas Karl war übrigens meine Deutschlehrerin. Sie ist schuld daran, dass ich jetzt Romane schreibe. Man merkt, St. Pölten ist eine kleine Stadt.

Kienzl

:

Auch die Idee zum Festival Blätterwirbel entstand ziemlich spontan. Ein paar Leute saßen zusammen und sagten: Wir machen jetzt ein Literaturfestival. Es hat sofort funktioniert. Inzwischen sind wir im 17. Jahr. Und es wird von Jahr zu Jahr schöner und größer, aus dem Kind ist echt was geworden. Mich freut auch, dass es ohne Spannungen zwischen den Kooperationspartnern Stadt und Land gut funktioniert. Wir bespielen ja das Stadtmuseum, das Landestheater, das Cinema Paradiso und viele kleine Orte.

In welchen Bereichen hat St. Pölten noch viel aufzuholen?

Kienzl

:

Es könnte im sozialen Bereich noch mehr punkten. Das wäre mir ein Anliegen, und ich hätte auch gehofft, dass das im Rahmen der Tangente mehr aufgeht. Ich würde hier wahnsinnig gerne offene Werkstätten sehen. Ich habe Paphos auf Zypern besucht, als es 2017 Kulturhauptstadt war. Die haben dort nachhaltig was für die Bevölkerung getan. Da ging es viel um Handwerkskunst – kein Klumpert, bitte, sondern hochwertigen Schmuck, Goldschmiede, Lederverarbeitung. Das fehlt mir in St. Pölten. In den Randgruppen, die kaum aufscheinen, wenn man über die großen Kulturhäuser spricht, gibt es irrsinniges Potenzial, das brachliegt. Viele, die zu uns kamen, können es sich gar nicht leisten, Kunst zu machen. Oder sie schaffen es nicht aus der eigenen Blase heraus. Man könnte auch Pop-up-Küchen machen: Einmal kocht ein Syrer, einmal ein Perser.

Gravenbach

:

Wir müssen in Österreich nur zwei, drei Generationen zurückgehen – schon kommen alle von irgendwo her. Ich habe mal ein Konzept gemacht namens „Am Anfang war das Wort“, für die Arbeit mit Jugendlichen, die nicht von hier kommen und nicht einmal Deutsch beherrschen müssen. Ein Autor hat mit einer Gruppe einen Text erarbeitet, dann eine zweite Gruppe mit einem Musiker ein Musikstück gemacht, eine dritte Gruppe was gemalt. Die letzte Gruppe hat aufgeschrieben, was sie bei den entstandenen Sachen empfindet. Am Ende wurde das alles aufgeführt.

Fröhlich

:

Das Konzept finde ich super. Trotzdem mache ich jetzt den Advocatus Diaboli. Früher waren das Kulturen, die noch einigermaßen kompatibel waren. Inzwischen haben wir es auch mit solchen zu tun, wo ich in der Hinsicht größte Zweifel habe.

Gravenbach

:

Wenn ich das so sagen darf: Arschlöscher gibt es überall. Es wird vielleicht schwieriger, da stimme ich zu. Aber es muss mehr Arbeit direkt am Menschen getan werden und es braucht dafür die richtigen Angebote. Kunst ist eine Form von universeller Sprache, die fast jeder versteht.

Herr Fröhlich, Sie haben neulich eine Kolumne veröffentlicht, die zu einem anderen Schluss kommt. Sie schreiben provokant: „Kunst ist fad.“ Bezogen ist das auf die Tangente. Was gefällt Ihnen an der nicht?

Fröhlich

:

Die Tangente ist für mich eine gut subventionierte Spielwiese von woken Bobos für woke Bobos. Aber ich werde trotzdem hingehen und lasse mich gern eines Besseren belehren

Kienzl

:

Ich mache bei der Tangente ein Blätterwirbel Spezial. Aber nicht nur deshalb freue ich mich darauf. Da kommen Sachen und Kunstformen auf uns zu, die vielleicht unsere Sicht auf die Welt ein bissl öffnen. Es schadet nicht, wenn wir für gewisse Themen sensibler werden. Vielleicht schafft das Programm es, dass wir mehr verstehen, warum so ein Chaos in der Welt herrscht. Ich sehe ein paar sehr gute Ansätze.

Fröhlich

:

Mich stört, dass alles, was von Diversität bis genderfluid zuerst in Berlin und Wien durchdekliniert worden ist, jetzt auch in St. Pölten durchgenommen werden muss. Und zwar mit dem Holzhammer. Ich möchte von Kultur verführt werden.

Es muss mehr Arbeit direkt am Menschen getan werden

Wenn Sie freie Hand hätten: Was würden Sie in St. Pölten kulturell sofort umsetzen?

Kienzl

:

Mir fehlt ein Jazzkeller, wo gejammt wird. Ein richtiges Jazzlokal, wie es Wien hat oder Krems früher gehabt hat.

Gravenbach

:

Man könnte den Leerstand besser nützen. Es gibt unglaublich schöne Räume und Locations. Natürlich ist das sehr von den Eigentümern abhängig. Es bräuchte Unterstützung von der Stadt. Man lässt Leute etwas ausprobieren, gibt ihnen einen Raum, und das Stadtmarketing könnte die Betriebskosten übernehmen. Die Eigentümer bekommen die Publicity, und die Hütte kostet sie die nächsten paar Monate nichts. Schön wäre auch ein klassischer Debattierclub. Das gute alte Austauschen von Argumenten ist leider ziemlich verloren gegangen.

Fröhlich

:

Ich habe vor, im Sommer einen Waldgang zu machen, bei dem jeder nach dem Motto „Let’s agree to disagree“ ohne Denkverbote mit jedem reden soll. Der Ort wird die Vacano-Promenade sein. Emile Mario Vacano kennt heute kein Mensch mehr, aber er war im 19. Jahrhundert einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller und hat eine Zeit lang in St. Pölten gelebt. Er hatte eine wilde Biografie, war auch Zirkusartist und ein bissl ein Oscar-Wilde-Typ. Von Schauerromanen bis zu Biografien hat er alles Mögliche geschrieben. Und er hatte Kontakt zu Leopold von Sacher-Masoch, Peter Rosegger und Lola Montez.

Gravenbach

:

Klingt extrem spannend. Warum machen wir nicht einen St. Pöltner Literaturpreis, der Vacanos Namen trägt? Und wir sollten auch ein Stück über ihn schreiben.

Fröhlich

:

Da bin ich dabei. Ein paar Leute sitzen beisammen und sagen: „Des mach ma.“ Für mich ist das typisch St. Pölten. ● ○