© Teresa Wagenhofer
© Teresa Wagenhofer

Tangente

Neuvermessung


Wie kann ein Kulturfestival in einer Mittelstadt mit nicht ganz 60.000 Einwohnerinnen und Einwohnern aussehen? Die Tangente St. Pölten beantwortet diese Frage mit einer aufregenden Mischung aus Starproduktionen (wie der bejubelten Oper „Justice“ am Eröffnungstag, dem 30. April), partizipativen Projekten wie einer Summerschool sowie viel Kunst, Theater und Performance im öffentlichen Raum. Die Tangente vermisst die Stadt neu und geht an unvermutete Orte: in leerstehende Villen oder die legendäre Glanzstofffabrik. Tarun Kade, der kuratorische Leiter der Tangente, führte morgen an besondere Plätze; einige Kunstschaffende erzählten uns von ihren Plänen für das Festival, das noch bis 6. Oktober 2024 läuft. Es wird wohl darüberhinaus nachhallen. Mehr dazu: tangente-st-poelten.at

Statements

Karaoke und Königskerzen


Was erwartet das Publikum bei der Tangente? morgen erfuhr mehr über tanzende Hände und kosmische Bühnen, Community-Arbeit und eine Industriellengattin in Trance.

Begüm Erciyas, Choreografin und Tänzerin
„Mein Projekt ‚Hands Made‘ ist eine etwa 45-minütige Performance ohne PerformerInnen, in der die Hände der ZuschauerInnen zu Protagonistinnen werden. In St. Pölten wird sie in der ehemaligen Glanzstofffabrik präsentiert. Die Teilnehmenden sehen die Glanzstofffabrik nur vor und nach der Performance. AssistentInnen bringen sie zu ihren Plätzen in einem verdunkelten Tunnel, wo sie in einer langen Reihe nebeneinandersitzen, ohne ihre NachbarInnen zu sehen oder zu kennen. Vor je zwei Teilnehmenden gibt es eine kleine Plattform im Licht, gleich einer Bühne, auf die sie je eine Hand legen. Ein Soundtrack aus Text, Klang und Stille leitet die Teilnehmenden durch eine Dramaturgie, die Verbindungen knüpft zwischen der Wahrnehmung der eigenen Hand und dem Live-Geschehen zwischen den Händen, welches sinnbildlich für eine gesellschaftliche Transformation steht. Während der Sound bestimmte Handpositionen und Empfindungen suggeriert – insbesondere den Sinn der Berührung zwischen zwei Händen –, sind die Teilnehmenden frei darin, den Soundtrack mit der Bewegung ihrer Hände auf der Plattform zu interpretieren. Sie erfahren darin sowohl ein Gefühl der Spannung als auch der Intimität den NachbarInnen gegenüber sowie der Entfremdung der eigenen Hand. Die sinnliche Erfahrung führt zu Spekulationen über die Vergangenheit und Zukunft der Hand und der Handarbeit, der Industrialisierung und deren Folgen.

Ich sehe den Moment der Industrialisierung als einen der Fragmentierung in mehreren Sinnen – der Fragmentierung des Körpers, der Spaltung in Handarbeit und Denkarbeit, der Entfremdung vom eigenen Tun, der gesellschaftlichen Fragmentierung. Vor diesem Hintergrund ist die Frage der Rolle der Berührung interessant.“

Begüm Erciyas’ Performance „Hands Made“ läuft am 28. und 29. Juni in der Turbinenhalle am Glanzstoffgelände.

Begüm Erciyas © Bea Borgers
Begüm Erciyas © Bea Borgers

Markus Selg, Multimediakünstler und Filmemacher

„‚Wasteland‘ ist ein Environment, der Versuch einer Vereinfachung (der Untertitel ist: ‚The Great Simplification‘). Eine reale Bühne im Freien, auf einer Brache hinter der ehemaligen Glanzstofffabrik, bestehend aus einer ruinenartigen Struktur und kleineren Eingriffen in die Landschaft. Diese wurden schon im Februar vorgenommen und können nun von der Natur wieder überwachsen werden. Die landschaftlichen Eingriffe sind nach dem Verlauf der Sonne ausgerichtet. Die Landschaft selbst wird zur Partitur eines Rituals. Die Jahreszeiten und der Kreislauf der Natur erzählen ihre eigene Geschichte. Ein Echoraum, der zwischen Requiem und Schöpfungsmythos oszilliert. Auf dieser kosmischen Bühne ist die Hauptakteurin die Natur mit ihren Elementen: Sonne, Wasser, Wind, Erde, Pflanzen, Tiere und Insekten. Eine tragende Rolle in ‚Wasteland‘ spielen zum Beispiel die Königskerze und Rehe. Die von uns eingesetzten dramaturgischen Mittel sind Nebel, Text und Sound, mit einer Soundscape der Künstlerin Debit. ‚Wasteland‘ stellt ein komplexes, dynamisches System dar, in dem alles miteinander verbunden ist. Das Publikum ist ebenso Teil davon. Es ist beteiligt, ohne dass etwas erwartet wird. Jede:r ist Protagonist:in in der eigenen Erzählung. Es gibt mögliche Orte für Handlungen und Gemeinschaft wie eine Feuerstelle oder ein Totem. Weder Theater noch Performance können als treffende Begriffe gelten. ‚Wasteland‘ ist vielleicht eine Art ‚Open World Game‘: eine Erfahrung, welche die Grenze zwischen Inszenierung und Realität verschwimmen lässt. Wie viel Gestaltung brauchen wir, um uns als Teil einer Inszenierung zu fühlen? Warten wir auf eine Vorführung oder finden wir eine Erzählung in der uns umgebenden Welt?

Die Installation „Wasteland. The Great Simplification“ von Susanne Kennedy, Markus Selg und Debit ist von 27. bis 30. Juni sowie von 4. bis 7. Juli in der ehemaligen Spinnerei am Glanzstoffgelände zugänglich.

Markus Selg © Markus Selg
Markus Selg © Markus Selg

Magdalena Chowaniec, Kuratorin und Vermittlerin

„Gemeinsam mit Muhammet Ali Baş bin ich mit der Kuratierung und Vermittlung der Stadtprojekte des Festivals betraut. Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht die Verbindung zur Stadt St. Pölten. Die Bewohner:innen wurden durch partizipative Formate zur Teilnahme am Festival eingeladen. Ich selbst komme aus Polen und entwickle als sozial engagierte Choreografin seit Jahren in Österreich Kunstprojekte, die die Beteiligung diverser Gruppen an Kunst und Kultur stärken. Kunst und vor allem Tanz sehe ich als Vehikel, um das individuelle Potenzial, das in jedermann steckt, zu entdecken, und um verborgenen Narrativen Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit zu geben sowie die Communitys zu stärken. In enger Zusammenarbeit mit Ali und Institutionen aus dem Sozialbereich wurden für St. Pölten verschiedene Projekte entwickelt, an welchen Menschen unterschiedlichen Alters und diverser sozialer wie kultureller Herkünfte sowie Künstler:innen, Sozialarbeiter:innen, Aktivist:innen und Expert:innen teilnehmen können. Neben großen Projekten wie ‚Sisters United. Gegen Gewalt an Frauen*‘ oder dem Summer Camp ‚Art of Community‘ finden im Vermittlungsraum im Festivalzentrum unter anderem Tanz-, Musik- und Kreativworkshops, gemeinsames Kochen, Karaoke- und Kinoabende und ein Aktivismus-Café statt, stets begleitet von Kinderbetreuung. Unser Ziel ist, nachhaltige Beziehungen und Netzwerke aufzubauen, die über das Festival und seinen Zeitraum hinauswachsen.
Durch diverse Angebote und Aktivitäten, die auf die Bedürfnisse unserer Communitys eingehen, entstehen neue Räume. Dort lernen wir von- und übereinander, knüpfen Freundschaften und lösen im Diskurs viele Konflikte. Diese konsumfreien Räume, in denen Kunst und Soziales koexistieren können, benötigen viel Zeit, Pflege und Aufmerksamkeit. Deshalb sollten sie in jedes Stadtbild als regelmäßig subventionierte Orte eingeschrieben werden.“

Die von Magdalena Chowaniec und Muhammet Ali Baş initiierte Aktion „Art of Community. Die Neue Freundschaften Summerschool“ findet von 28. Juni bis 6. Juli in der Villa am Glanzstoffgelände statt; zahlreiche weitere Projekte unter: tangente-st-poelten.at.

Magdalena Chowaniec © Erli Gruenzweil
Magdalena Chowaniec © Erli Gruenzweil

Elisabeth von Samsonow, Philosophin und Künstlerin

„Meine Arbeit findet sich im Projekt ‚The Way of the Water‘: Es ist die kinetische Skulptur ‚Stream Diver Thea Voith (die in den Strom Eintauchende)‘. Sie ist im Mühlbach platziert, einem im Mittelalter angelegten Kanal, dessen Wasser erst Mühlen antrieb und der jetzt durch ein E-Werk der EVN läuft. Im Hammerwerk, wo die Skulptur steht, befindet sich seit 1910 eine Turbine des St. Pöltner Voith-Werks. Es wurde 1910 von Walther Voith gegründet und war lange Marktführer im Wasserkraftwerkbau. Neben der Glanzstofffabrik war die Voith der größte industrielle Betrieb in St. Pölten. Meine Skulptur ist sechs Meter hoch, aus Aluminium, Edelstahl und einem Rock aus Acrylglasstäben. Am unteren Ende sieht man auf drei rotierenden Flügeln Diagramme zur Physik des Wassers beim Eintritt in eine Turbine. Mittels einer Antriebsschraube wird aus dem Mühlbach Energie gewonnen, die die verschiedenen Teile der Skulptur in Rotation und Gegenrotation versetzt. Bekrönt ist die Skulptur mit dem Abguss eines angeblichen Porträtkopfs von Thea Voith in Trance. Thea Voith war gebürtige Amerikanerin und die Gattin des Firmengründers. Es heißt, sie sei ein Medium gewesen. An sie wurde das nach dem Zweiten Weltkrieg von den Russen konfiszierte Voith-Werk restituiert. Thea Voith übte also für St. Pölten eine bedeutende politische, ökonomische wie soziale Funktion aus – und wurde anschließend vergessen.
‚Stream Diver‘ thematisiert die Parallele von Wasserstrom und Bewusstseinsstrom, ist Spielzeug für das arbeitende Wasser, autonome energieproduzierende Maschine und zugleich Gedenkstätte. Als allegorische Figur verweist sie auf die Löschung weiblicher Subjektivität aus dem kollektiven Gedächtnis und die Möglichkeit des Reset.“

Elisabeth von Samsonows Skulptur ist Teil der Ausstellung „The Way of the Water. Ein Kunstparcours in Zusammenarbeit mit der Traisen und dem Mühlbach“ im öffentlichen Raum.

Elisabeth von Samsonow © Maresa Jung
Elisabeth von Samsonow © Maresa Jung

© Teresa Wagenhofer
© Teresa Wagenhofer

Tarun Kade

Die Stadt als Weltlabor


Die Tangente St. Pölten schreibt sich in ihre Stadt ein. Ihr kuratorischer Leiter Tarun Kade führte morgen noch vor der Eröffnung an Orte, an denen sich ihr Geschehen kondensiert. Sie liegen im Zentrum der Stadt, aber auch dort, wo sich sonst selten jemand aufhält. Der Weg führt von der barocken Innenstadt an die Peripherie mit ihren alten Fabriken und zeigt, wie Kunst die Welt neu denken kann.

Als ich mit Tarun Kade im zukünftigen Festivalzentrum der Tangente St. Pölten stehe, fallen mir zwei Dinge auf. Sie werden sich durch den Rest unseres gemeinsamen Nachmittags ziehen. Erstens: Überall ist noch Baustelle. Eine Baustelle, an der unter Hochdruck gearbeitet wird. Zweitens: Die Tangente ist bemüht, sich in bestehende Strukturen der Stadt einzufügen und trotzdem Neues für sie zu schaffen.

Biennale Urbana

Es ist Anfang März, das Wetter ist, untypisch für die Jahreszeit, warm und ich habe den kuratorischen Leiter der Tangente getroffen, um mit ihm einige zentrale Orte der Tangente St. Pölten – Festival für Gegenwartskultur, so der vollständige Titel, zu besuchen.
Und mehr darüber zu erfahren, was an diesen Orten stattfinden wird, wie sich das Festival in die Stadt einschreibt.

Erste Station: das Festivalzen­trum in der Linzer Straße. Dafür entwickelte das Architekturkollektiv Biennale Urbana ein Konzept, das es gerade umsetzt. Eingebettet in eine Struktur von mehreren Höfen, in der bereits andere Kulturinitiativen zu Hause sind, soll hier das Herz des Festivals schlagen: „Bei einem Festival kommen diverse Leute zusammen“, erklärt Kade. „Da ist zum einen die lokale Bevölkerung, die hier lebt und arbeitet. Dann sind da die Künstler:innen, die von außerhalb kommen. Und schließlich gibt es Publikum, das ebenfalls von außerhalb kommt. Diese verschiedenen Gruppierungen sollen sich hier treffen können.“

Neuer Ort

Vor der Tangente wurde der Raum für Veranstaltungen, als Bühne und zeitweise sogar als Kindergarten genutzt. Jetzt wurde eine Tafel zum Tisch, eine weiße Schaumstoffmatte unlängst zur Leinwand für eine Präsentation. Wenn der Umbau abgeschlossen ist, sollen hier nicht nur Diskussionen, Vorträge, Konferenzen und informelles Beisammensitzen stattfinden. Es soll auch ein Essensangebot geben sowie Schlafmöglichkeiten. Die Räume sollen belebt werden. Während der Tangente, aber idealerweise auch danach: „Das ist schon ein Anspruch ans Festivalzentrum, dass es zukünftig bleiben wird als Ort. Wir können aber nur Nutzmöglichkeiten aufzeigen. Dann sieht man, was sich daraus ergibt“, sagt Kade.

Community-Arbeit

Vom Festivalzentrum flanieren wir Richtung Domplatz, unsere nächste Station. Auf dem Weg liegen einige Räume, die für die Tangente Bedeutung haben. Etwa der Vermittlungsraum gleich ums Eck vom Festivalzentrum, wo die Stadtprojekte ihren zentralen Ort haben („Sie waren zentral für den Aufbau der Tangente, weil sie schon seit zwei Jahren eine direkte Verknüpfung mit der Stadt und ihren Communitys herstellen – auch mit jenen, die eben kein klassisches Kulturpublikum sind.“). Oder das Stadtmuseum („Hier beschäftigt sich unsere Kooperationsveranstaltung ‚Blick in den Schatten‘ mit der Geschichte des Nationalsozialismus.“). Oder auch ein Gebäude, auf dem „Kinderkunstlabor“ steht („Das war eine temporäre Spielstätte. Das eigentliche Kinderkunstlabor ist noch in Bau und wird während der Tangente eröffnet.“). Die Tangente zieht sich durch die Stadt, schon bevor sie offiziell angefangen hat. „Ich habe das Gefühl, nach anderthalb Jahren des Redens tut sich jetzt was. Es sind Leute da und es passiert etwas.“ Und fast könnte man meinen, die Farbe der Tangente-Corporate-Identity – etwas zwischen Neongrün und -gelb – sei die der Stadt selbst.

Als wir schließlich am Domplatz ankommen, ist vor allem frappierend, wie ruhig dieser Ort ist. Nur zwei Straßen entfernt vom Trubel des barocken Stadtzen­trums wirkt er fast ausgestorben. „Das ändert sich, wenn Markttag ist“, erzählt Kade. „Und während des Festivals werden hier große Konzerte stattfinden – unter anderem ‚Pop am Dom‘ mit Fever Ray und Arlo Parks. Da wird sich der Platz füllen.“ Hier lugt die Gegenwartskultur im Namen der Tangente hervor.

Fantastisch wäre, wenn das Festival einen neuen Blick auf die Stadt ermöglicht.

Denn Kade sieht keine strikte Trennung zwischen sogenannter E- und U-Kultur: „Unsere Lebensrealität trennt die Bereiche Hochkultur und Popkultur nicht. In unserem Festival wünsche ich mir, dass man hin- und herspringen und vom einen ins andere stolpern kann. Die Themen, die im Zentrum unseres Festivals stehen, werden multiperspektivisch in puncto Genre, Form und künstlerischer Herangehensweise umkreist. Auch das Publikum soll aus verschiedensten Richtungen hineinkommen können.“

Bad für Florian

Was zur Frage führt, wen die Tangente denn eigentlich ansprechen wolle? Nicht nur das Kulturpublikum, sagt Kade, sondern auch „Leute, die zu Kunst erst mal gar keinen Bezug haben“. Deshalb gehe man mit vielen Arbeiten in den Außenraum: „Zum Beispiel hier auf dem Domplatz, wo bereits eine Skulptur von Christian Philipp Müller steht und eine zweite Arbeit von Mariana Castillo Deball folgt.“ Man solle auf die Tangente stoßen, „auch wenn man sich kein Ticket kauft“. Müllers Werk „Ein Bad für Florian“ auf dem Domplatz ist jedenfalls unübersehbar. Mehrere rostrote Polyeder recken sich da kreisförmig angeordnet in den Himmel, in der Mitte eine kleine Holzstatue, der Florian.

Wir treten den Weg zu unserer letzten Station an. Sie liegt am Rande der Stadt, im ehemaligen Industriegebiet. Bei all den diversen Zugängen, die die Tangente bieten möchte: Wonach wählt der kuratorische Leiter aus, welche Kunst ihn anspricht? Er überlegt kurz. „Wenn eine subjektive Herangehensweise deutlich wird in einer künstlerischen Arbeit, dann finde ich das in der Regel interessant“, stellt er fest. „Dieses sehr Subjektive kann einen empowernden Moment haben, weil es sich von einer Konvention abheben kann. Eine künstlerische Arbeit kann so in der Lage sein, einen Denkraum oder vielleicht sogar einen Handlungsraum zu öffnen, der Normen hinterfragt und eine andere Per­spektive aufscheinen lässt. Kunst kann Vorschläge machen, Versuche, die Welt anders zu denken. Man kann sie laborhaft anders gestalten.“ Dass diese Laborversuche auch nachhaltig Wirkung zeigen, sei die Herausforderung.

Performance „Wasteland“

Ein bisschen soll die ganze Stadt während der Tangente Teil dieses Labors werden, so der Eindruck. Für Kade ist St. Pölten „in einem Prozess der Transformation begriffen – von der Arbeiter:innen­stadt zur Kulturstadt“. Das eröffne viele neue Möglichkeiten. Gleichzeitig dürfe man aber nicht darauf vergessen, was die Stadt ausmache: „Es ist wichtig, auf diesem vielversprechenden Weg die eigene Geschichte mitzunehmen und sie nicht zu verleugnen.“ Aus diesem Grund sei für das Festival auch „die Glanzstoff“ eine zentrale Spielstätte. „Die Glanzstoff“: ein Begriff, der lange fast Synonym für St. Pölten war. Die ehemalige Viskosefabrik ist unser letztes Ziel.

„Die Glanzstoff ist ein wesentlicher Teil der Geschichte dieser Stadt. Sie ist sowohl historisch als auch architektonisch eine Ikone dieser Stadt“, erklärt Kade. „Schon im Rahmen der Bewerbung für die Kulturhauptstadt tauchte die Frage auf, wie dieser Ort neu genutzt werden könne. Wir entschieden uns jetzt für einen spezifischen Fokus mit einzelnen Arbeiten um ein Wochenende im Juni.“ Kern dieses Wochenendes ist die Performance „Wasteland“ von Susanne Kennedy, Markus Selg und der Musikproduzentin Debit (siehe dazu auch Seite 30). Dabei wird die Brache hinter der Fabrikanlage zu einem hybriden Raum. Teils roh belassen und erweitert um Objekte wie ein gestrandetes Schiff, die sich bereits jetzt, im März, dort befinden. „Teil dieser Arbeit ist, dass die Objekte über längere Zeit in engen Kontakt mit dem Ort getreten sind. Es wurden auch verschiedene Samen gepflanzt. Über den Frühling hinweg wird die Natur beginnen, sich dieses Kunstwerk einzuverleiben. Und das wird Ende Juni hier gezeigt.“ Eine Installation, die das Publikum wie eine Ausstellung betritt. Auf der Brache scheint Kade nochmal aufzublühen. Man spürt seine Freude auf das, was hier bald zu sehen sein wird. „Ich glaube, dass wir da einen Glücksgriff haben.“ Ob er damit „Wasteland“, die Glanzstoff oder gar die gesamte Tangente meint, bleibt offen. Vermutlich alle drei.

Frischer Blick

Zum Schluss noch ein Abstecher zur Traisen. Hier und am Mühlbach lädt das Festival zum Kunstparcours „The Way of the Water“, einem der größeren Projekte. Auch hier muss ich noch meine Vorstellung spielen lassen, wenn Kade davon erzählt.

Wann wird das Festival für Tarun Kade ein Erfolg sein? „Wenn Menschen von außerhalb, aus der Stadt und Künstler:innen hier eine inspirierende Zeit verbracht haben.“ Aber Erfolg könne auch in der tiefschürfenden Auseinandersetzung mit diversen Themen liegen, sagt er. Fantastisch wäre, „wenn das Festival einen frischen Blick auf Dinge ermöglicht – auf die Stadt, auf die Themen, darauf, welche Möglichkeiten jede:r Einzelne von uns hat, gestaltend ins Leben einzugreifen. Aber natürlich hoffe ich auch, dass Massen an Zuschauer:innen kommen und das Festival sowie die Stadt fluten.“ Dann lacht er. Zuversicht ist angesichts des dichten wie multiperspektivischen Programms durchaus angebracht. ● ○

Kunst kann Versuche machen, die Welt anders zu denken.