© Tanja Münichsdorfer
© Tanja Münichsdorfer

Gesellschaft • Künstlerische Teilhabe

St. Pölten, wie bitte?


Wie können Kultur und kreative Teilhabe eine städtische Gemeinschaft voranbringen? Die jüngste Landeshauptstadt Österreichs zeigt vor, wie ein kundiges und leidenschaftliches Publikum entstehen kann.

Genau 20 Jahre ist es her, dass ich als junge Kulturarbeiterin meine ersten Gespräche über eine neu zu schaffende Position der Kulturvermittlung und des Beziehungsmanagements für das Festspielhaus St. Pölten führte.

St. Pölten, wie bitte?

Es war die Zeit, als sich auch im deutschsprachigen Raum endlich große Orchester, Konzerthäuser und Theater einer neuen Art der Vermittlung öffneten; als der Film „Rhythm Is It!“ (über das Education-Programm von Sir Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern) den Community-Choreografen Royston Maldoom berühmt machte, und Kulturinstitutionen Personalstellen in den Bereichen Bildung, Vermittlung und Outreach schufen. An Musikhochschulen und Universitäten etablierten sich Studiengänge, die eine kontinuierliche wissenschaftliche Begleitung und Forschung zu Kulturvermittlung ermöglichten.

Es herrschte Aufbruchstimmung in der Kultur. Und in St. Pölten sowieso! Keine zwei Dekaden davor hatte die Bevölkerung 1986 per Volksabstimmung St. Pölten zur Landeshauptstadt gemacht.

2005 fand ich mich nun als Vermittlerin in einer unscheinbaren Stadt mit sogenanntem Kulturbezirk, aufgepflanzt zwischen neuem Regierungsviertel und alter Innenstadt, wieder.

Kulturbezirk, wie bitte?

Am ersten Arbeitstag erntete ich, vom Bahnhof kommend, auf meine Frage nach dem Weg dorthin nur Schulterzucken. Seither ist viel geschehen: St. Pölten entwickelte sich zu einem herausragenden Beispiel für die Verbindung von kulturellem Kapital und städtischer Entwicklung. In sehr kurzem Zeitraum wandelten sich die bestehenden Strukturen und entstand Neues. Der Weg dorthin allerdings war ein kleinteiliger; in vorsichtigen, konzentrischen Kreisen näherte man sich der Stadtbevölkerung an. Denn diese hatte auf die massiven Investitionen in repräsentative Hochkulturbauten nicht eben gewartet.

Das Festspielhaus blieb zunächst ein von außen beäugtes Ufo, in das, unterirdisch über Autobahn und Tiefgarage, hauptsächlich Wiener Publikum strömte; das Landestheater Niederösterreich musste sich erst aus den Strukturen eines Stadttheaterbetriebs herausschälen, um zu internationaler Exzellenz im Sprechtheater zu finden, Fachhochschule oder New Design University waren neu oder noch nicht gegründet, sozio- und subkulturelle Aktivitäten flogen unter dem Radar öffentlicher Kultursteuerung. Kulturvermittlung als Mittlerin zwischen gesellschaftlichen Bedürfnissen und individuellen Interessen wurde zum entscheidenden Instrument. Die Erwartungen waren hoch.

Schulkooperationen, Workshops, Festivals, Stammtische, Community-Chöre, Tanzklassen, eine Bühne für Bürgerinnen und Bürger sowie Kunst im öffentlichen Raum vermittelten Kunst an ein größeres Publikum. Zunächst aber waren Interesse und Wertschätzung für das Vorhandene angebracht: Verständnis und Anerkennung für gewachsene Strukturen erwiesen sich als Schlüssel zu Vertrauen und Akzeptanz – Bezüge wurden gefunden, Beziehungen geknüpft, die Stadtgesellschaft selbst wurde zur Akteurin. So schufen Künstlerinnen und Künstler, Vermittlerinnen und Vermittler gemeinsam mit Kommunen Projekte, die lokale Geschichten und kulturelle Identität reflektierten. Die Herangehensweise in St. Pölten basierte dabei auf dem Prinzip der gegenseitigen Stärkung. Sowohl langjährige als auch neue kulturelle Akteurinnen und Akteure arbeiteten gemeinsam weit über eine reine Publikumsentwicklung hinaus. Das zahlte auf ein Modell der Ermächtigung ein, das auf Zusammenarbeit und gemeinschaftlichem Engagement beruht, anstatt auf Marketingbemühungen oder einer einseitigen missionarischen Fürsorglichkeit. Und es förderte Zusammenhalt, Vielfalt und Dynamik der städtischen Kultur.

Dieses Jahr kooperieren bei der Tangente St. Pölten bestehende Einrichtungen wie das Festspielhaus, das Landestheater oder die Bühne im Hof mit den neuen, städtischen Kultureinrichtungen und der freien Szene. Als spartenübergreifendes, sozial inklusives und ökologisch orientiertes Festival mit gesellschaftskritischem Ansatz gibt es eine laute, vielstimmige und zutiefst urbane Antwort auf die Frage „St. Pölten, wie bitte?“.

Auch das ist ein Ergebnis aus den Erfahrungen langjähriger Vermittlungsarbeit. Ebenso, dass man sich zutraut, mit dem Kinderkunstlabor ein Ausstellungshaus zu errichten, das im Umgang mit seinem jungen Publikum völlig neuartige Zugänge verspricht.

Kann Kultur also ein Inkubator für Stadtentwicklung sein? Ja! Meine empirische Untersuchung im Zeitraum von 2009 bis 2015, basierend auf über 40 Interviews, Fokusgruppen und klassischer Publikumsforschung, bestätigte die Bedeutung kultureller Teilhabe und Mitgestaltung für das soziale Kapital und die Identität der Stadtbevölkerung. Diese Ergebnisse unterstreichen am Beispiel Festspielhaus St. Pölten die These, dass seit 1986 das kulturelle Investment St. Pölten in den Köpfen seiner Bevölkerung zur Hauptstadt – mehr als alle anderen Maßnahmen – machte. Zudem wurde in der Studie deutlich: Einem Kulturbetrieb, der sich ausschließlich auf traditionelle Tätigkeiten fokussiert, droht gesellschaftliche Irrelevanz. In einer Welt sich verändernder gesellschaftlicher Bedürfnisse und Nutzungsgewohnheiten sowie geopolitischer Unsicherheiten macht Beteiligung nicht nur die Stadtgesellschaft, sondern auch den Kulturbetrieb resilienter. Beteiligung stiftet Beziehungen, Beziehungen stiften Bezüge.

Die Frage nach dem Weg vom Bahnhof zum Kulturbezirk löst heute kein Schulterzucken mehr aus. Und das Publikum in St. Pölten ist mittlerweile – das sagt das Bauchgefühl bei jedem Kulturbesuch – leidenschaftlich, involviert und kompetent. Eine Erfahrung, die auch Künstlerinnen und Künstler immer wieder beeindruckt. ● ○