© Teresa Wagenhofer
© Teresa Wagenhofer

Tarun Kade

Die Stadt als Weltlabor


Die Tangente St. Pölten schreibt sich in ihre Stadt ein. Ihr kuratorischer Leiter Tarun Kade führte morgen noch vor der Eröffnung an Orte, an denen sich ihr Geschehen kondensiert. Sie liegen im Zentrum der Stadt, aber auch dort, wo sich sonst selten jemand aufhält. Der Weg führt von der barocken Innenstadt an die Peripherie mit ihren alten Fabriken und zeigt, wie Kunst die Welt neu denken kann.

Als ich mit Tarun Kade im zukünftigen Festivalzentrum der Tangente St. Pölten stehe, fallen mir zwei Dinge auf. Sie werden sich durch den Rest unseres gemeinsamen Nachmittags ziehen. Erstens: Überall ist noch Baustelle. Eine Baustelle, an der unter Hochdruck gearbeitet wird. Zweitens: Die Tangente ist bemüht, sich in bestehende Strukturen der Stadt einzufügen und trotzdem Neues für sie zu schaffen.

Biennale Urbana

Es ist Anfang März, das Wetter ist, untypisch für die Jahreszeit, warm und ich habe den kuratorischen Leiter der Tangente getroffen, um mit ihm einige zentrale Orte der Tangente St. Pölten – Festival für Gegenwartskultur, so der vollständige Titel, zu besuchen.
Und mehr darüber zu erfahren, was an diesen Orten stattfinden wird, wie sich das Festival in die Stadt einschreibt.

Erste Station: das Festivalzen­trum in der Linzer Straße. Dafür entwickelte das Architekturkollektiv Biennale Urbana ein Konzept, das es gerade umsetzt. Eingebettet in eine Struktur von mehreren Höfen, in der bereits andere Kulturinitiativen zu Hause sind, soll hier das Herz des Festivals schlagen: „Bei einem Festival kommen diverse Leute zusammen“, erklärt Kade. „Da ist zum einen die lokale Bevölkerung, die hier lebt und arbeitet. Dann sind da die Künstler:innen, die von außerhalb kommen. Und schließlich gibt es Publikum, das ebenfalls von außerhalb kommt. Diese verschiedenen Gruppierungen sollen sich hier treffen können.“

Neuer Ort

Vor der Tangente wurde der Raum für Veranstaltungen, als Bühne und zeitweise sogar als Kindergarten genutzt. Jetzt wurde eine Tafel zum Tisch, eine weiße Schaumstoffmatte unlängst zur Leinwand für eine Präsentation. Wenn der Umbau abgeschlossen ist, sollen hier nicht nur Diskussionen, Vorträge, Konferenzen und informelles Beisammensitzen stattfinden. Es soll auch ein Essensangebot geben sowie Schlafmöglichkeiten. Die Räume sollen belebt werden. Während der Tangente, aber idealerweise auch danach: „Das ist schon ein Anspruch ans Festivalzentrum, dass es zukünftig bleiben wird als Ort. Wir können aber nur Nutzmöglichkeiten aufzeigen. Dann sieht man, was sich daraus ergibt“, sagt Kade.

Community-Arbeit

Vom Festivalzentrum flanieren wir Richtung Domplatz, unsere nächste Station. Auf dem Weg liegen einige Räume, die für die Tangente Bedeutung haben. Etwa der Vermittlungsraum gleich ums Eck vom Festivalzentrum, wo die Stadtprojekte ihren zentralen Ort haben („Sie waren zentral für den Aufbau der Tangente, weil sie schon seit zwei Jahren eine direkte Verknüpfung mit der Stadt und ihren Communitys herstellen – auch mit jenen, die eben kein klassisches Kulturpublikum sind.“). Oder das Stadtmuseum („Hier beschäftigt sich unsere Kooperationsveranstaltung ‚Blick in den Schatten‘ mit der Geschichte des Nationalsozialismus.“). Oder auch ein Gebäude, auf dem „Kinderkunstlabor“ steht („Das war eine temporäre Spielstätte. Das eigentliche Kinderkunstlabor ist noch in Bau und wird während der Tangente eröffnet.“). Die Tangente zieht sich durch die Stadt, schon bevor sie offiziell angefangen hat. „Ich habe das Gefühl, nach anderthalb Jahren des Redens tut sich jetzt was. Es sind Leute da und es passiert etwas.“ Und fast könnte man meinen, die Farbe der Tangente-Corporate-Identity – etwas zwischen Neongrün und -gelb – sei die der Stadt selbst.

Als wir schließlich am Domplatz ankommen, ist vor allem frappierend, wie ruhig dieser Ort ist. Nur zwei Straßen entfernt vom Trubel des barocken Stadtzen­trums wirkt er fast ausgestorben. „Das ändert sich, wenn Markttag ist“, erzählt Kade. „Und während des Festivals werden hier große Konzerte stattfinden – unter anderem ‚Pop am Dom‘ mit Fever Ray und Arlo Parks. Da wird sich der Platz füllen.“ Hier lugt die Gegenwartskultur im Namen der Tangente hervor.

Fantastisch wäre, wenn das Festival einen neuen Blick auf die Stadt ermöglicht.

Denn Kade sieht keine strikte Trennung zwischen sogenannter E- und U-Kultur: „Unsere Lebensrealität trennt die Bereiche Hochkultur und Popkultur nicht. In unserem Festival wünsche ich mir, dass man hin- und herspringen und vom einen ins andere stolpern kann. Die Themen, die im Zentrum unseres Festivals stehen, werden multiperspektivisch in puncto Genre, Form und künstlerischer Herangehensweise umkreist. Auch das Publikum soll aus verschiedensten Richtungen hineinkommen können.“

Bad für Florian

Was zur Frage führt, wen die Tangente denn eigentlich ansprechen wolle? Nicht nur das Kulturpublikum, sagt Kade, sondern auch „Leute, die zu Kunst erst mal gar keinen Bezug haben“. Deshalb gehe man mit vielen Arbeiten in den Außenraum: „Zum Beispiel hier auf dem Domplatz, wo bereits eine Skulptur von Christian Philipp Müller steht und eine zweite Arbeit von Mariana Castillo Deball folgt.“ Man solle auf die Tangente stoßen, „auch wenn man sich kein Ticket kauft“. Müllers Werk „Ein Bad für Florian“ auf dem Domplatz ist jedenfalls unübersehbar. Mehrere rostrote Polyeder recken sich da kreisförmig angeordnet in den Himmel, in der Mitte eine kleine Holzstatue, der Florian.

Wir treten den Weg zu unserer letzten Station an. Sie liegt am Rande der Stadt, im ehemaligen Industriegebiet. Bei all den diversen Zugängen, die die Tangente bieten möchte: Wonach wählt der kuratorische Leiter aus, welche Kunst ihn anspricht? Er überlegt kurz. „Wenn eine subjektive Herangehensweise deutlich wird in einer künstlerischen Arbeit, dann finde ich das in der Regel interessant“, stellt er fest. „Dieses sehr Subjektive kann einen empowernden Moment haben, weil es sich von einer Konvention abheben kann. Eine künstlerische Arbeit kann so in der Lage sein, einen Denkraum oder vielleicht sogar einen Handlungsraum zu öffnen, der Normen hinterfragt und eine andere Per­spektive aufscheinen lässt. Kunst kann Vorschläge machen, Versuche, die Welt anders zu denken. Man kann sie laborhaft anders gestalten.“ Dass diese Laborversuche auch nachhaltig Wirkung zeigen, sei die Herausforderung.

Performance „Wasteland“

Ein bisschen soll die ganze Stadt während der Tangente Teil dieses Labors werden, so der Eindruck. Für Kade ist St. Pölten „in einem Prozess der Transformation begriffen – von der Arbeiter:innen­stadt zur Kulturstadt“. Das eröffne viele neue Möglichkeiten. Gleichzeitig dürfe man aber nicht darauf vergessen, was die Stadt ausmache: „Es ist wichtig, auf diesem vielversprechenden Weg die eigene Geschichte mitzunehmen und sie nicht zu verleugnen.“ Aus diesem Grund sei für das Festival auch „die Glanzstoff“ eine zentrale Spielstätte. „Die Glanzstoff“: ein Begriff, der lange fast Synonym für St. Pölten war. Die ehemalige Viskosefabrik ist unser letztes Ziel.

„Die Glanzstoff ist ein wesentlicher Teil der Geschichte dieser Stadt. Sie ist sowohl historisch als auch architektonisch eine Ikone dieser Stadt“, erklärt Kade. „Schon im Rahmen der Bewerbung für die Kulturhauptstadt tauchte die Frage auf, wie dieser Ort neu genutzt werden könne. Wir entschieden uns jetzt für einen spezifischen Fokus mit einzelnen Arbeiten um ein Wochenende im Juni.“ Kern dieses Wochenendes ist die Performance „Wasteland“ von Susanne Kennedy, Markus Selg und der Musikproduzentin Debit (siehe dazu auch Seite 30). Dabei wird die Brache hinter der Fabrikanlage zu einem hybriden Raum. Teils roh belassen und erweitert um Objekte wie ein gestrandetes Schiff, die sich bereits jetzt, im März, dort befinden. „Teil dieser Arbeit ist, dass die Objekte über längere Zeit in engen Kontakt mit dem Ort getreten sind. Es wurden auch verschiedene Samen gepflanzt. Über den Frühling hinweg wird die Natur beginnen, sich dieses Kunstwerk einzuverleiben. Und das wird Ende Juni hier gezeigt.“ Eine Installation, die das Publikum wie eine Ausstellung betritt. Auf der Brache scheint Kade nochmal aufzublühen. Man spürt seine Freude auf das, was hier bald zu sehen sein wird. „Ich glaube, dass wir da einen Glücksgriff haben.“ Ob er damit „Wasteland“, die Glanzstoff oder gar die gesamte Tangente meint, bleibt offen. Vermutlich alle drei.

Frischer Blick

Zum Schluss noch ein Abstecher zur Traisen. Hier und am Mühlbach lädt das Festival zum Kunstparcours „The Way of the Water“, einem der größeren Projekte. Auch hier muss ich noch meine Vorstellung spielen lassen, wenn Kade davon erzählt.

Wann wird das Festival für Tarun Kade ein Erfolg sein? „Wenn Menschen von außerhalb, aus der Stadt und Künstler:innen hier eine inspirierende Zeit verbracht haben.“ Aber Erfolg könne auch in der tiefschürfenden Auseinandersetzung mit diversen Themen liegen, sagt er. Fantastisch wäre, „wenn das Festival einen frischen Blick auf Dinge ermöglicht – auf die Stadt, auf die Themen, darauf, welche Möglichkeiten jede:r Einzelne von uns hat, gestaltend ins Leben einzugreifen. Aber natürlich hoffe ich auch, dass Massen an Zuschauer:innen kommen und das Festival sowie die Stadt fluten.“ Dann lacht er. Zuversicht ist angesichts des dichten wie multiperspektivischen Programms durchaus angebracht. ● ○

Kunst kann Versuche machen, die Welt anders zu denken.