© Philipp Horak
© Philipp Horak

Regierungsviertel

Nah am Wasser


Fast 30 Jahre ist das Regierungsviertel, in Rekordzeit aufgebaut, nun in Amt und Würden. Dass es keine abgeschottete Arbeitsenklave ist, verdankt es dem Kulturbezirk. morgen besuchte den Ort zwischen Traisen und Innenstadt und befragte jene, die tagtäglich hier arbeiten, essen und chillen.

Es war ein Kraftakt mit gigantischem Ehrgeiz und enormem Tempo. St. Pölten wollte Landeshauptstadt werden und hatte den Zug zum Tor. Das Resultat der Volksbefragung im März 1986 war eindeutig, und am 10. Juli wurde St. Pölten zur niederösterreichischen Landeshauptstadt. Fehlte nur noch die bauliche Infrastruktur für Politik und Verwaltung. Man gründete die Niederösterreichische Landhaus Planungsgesellschaft NÖPLAN. Fünf Jahre nach Baubeginn 1992 eröffnete das Regierungsviertel.

„Wir begannen bei null“, erinnert sich der damalige Vorstandsvorsitzende Norbert Steiner. 1987 prüfte man Standorte, 1988 wurde ein rund 21 Hektar großes Areal am westlichen Ufer der Traisen als Planungsgebiet ausgewählt. „Wir lösten dafür nach langen Verhandlungen eine riesige Kleingartenanlage auf“, so Steiner. Das Grundstück zwischen Innenstadt und Traisen ließ sich gut entwickeln. 1989 lobte man einen internationalen Architekturwettbewerb aus. Trotz des Eisernen Vorhangs nahmen rund 60 tschecho­slowakische Büros daran teil. Von den insgesamt 166 Architektinnen und Architekten setzte sich der Wiener Ernst Hoffmann durch.

20.246 Quadratmeter Fläche, 35.000 Quadratmeter Straßen und Plätze, ein Bruttorauminhalt von 798.347 Kubikmetern: Laut Steiner war das Quartier damals die größte Hochbaustelle in Österreich. „Unser Ziel war es, einen attraktiven Standort für Politik, Kultur und Arbeitsplätze zu schaffen“, sagt er. Es war die Zeit großer Projekte, man betonierte und asphaltierte, als gäbe es kein Morgen. Das Regierungsviertel ist Städtebau aus einem Guss. Eine klare Hauptachse führt von Norden nach Süden, vom Traisen- zum Landhausplatz, parallel zum Ufer, mit einem vertikalen Hochpunkt: dem Klangturm. Viele bezeichnen es als „Stadt in der Stadt“. Ein wesentlicher Bestandteil einer solchen – das Wohnen – fehlt aber. Ein Jahr nach der Eröffnung war die gesamte Beamtenschaft übersiedelt.

Und wie sieht es heute hier aus? Zeit für einen Lokalaugenschein.

Direttissima

Stolz ragt der Klangturm in den Himmel. 15 mal 15 Meter Grundfläche, 1.000 Quadratmeter Glas und 650 Tonnen Stahl, extrem transparent und filigran, die Konstruktion minimiert, die Programmatik gewagt avantgardistisch, das vertikale Wahrzeichen des Regierungsviertels. Parallel zum Landhausboulevard, der zentralen Flaniermeile, führt die Neue Herrengasse in der Direttissima bis zum Klangturm.

In unserem Museum gibt es rund 800 Lebendtiere.

Billa-Stau

Den Farben Blau und Gelb begegnet man oft. „Land. Dienst. Zukunft“ steht auf einem Plakat in diesen Farben vor dem Billa am glasgedeckten Landhausboulevard. Fünfgeschoßige Büroriegel mit verglasten Sockelzonen, darüber weiß verputzte Fassaden mit querliegenden Fensterbändern: eine angenehm verhaltene Postmoderne in moderatem Maßstab, die sich gut gehalten hat. Das Restaurant Pablo baut um, mittags staut es sich vor dem Billa. Trafik, Post und das rustikale Landhausstüberl bieten ihre Dienste an.

Auch die Bank dominieren die Farben Blau und Gelb, die auch die Rückseiten von 537 Wappen aller Gemeinden Niederösterreichs tragen. Sie sind in einer Installation vor dem Landhaus aufgefädelt, dem Lieblingsobjekt von Elisabeth Grimm, die Führungen durch das Regierungsviertel organisiert. Häufigste Frage: „Ist die Landeshauptfrau da?“ Treffpunkt ist stets vor dem Landhaus, einem kreissegmentförmigen Bau aus Stahl und Glas mit horizontalen Sonnenschutzlamellen, dessen flussseitiger Bogen wie ein Bug auf eine Spitze zuläuft, die auf runden Stützen über einem Wasserbecken schwebt.

Sensation Klangturm

Noch bevor das Landhaus eröffnet wurde, gab es gegenüber, im Klangturm, bereits 1996 die erste multimediale Performance. „In unserer bilderdurchfluteten Gegenwart, in Zeiten akustischer Umweltverschmutzung, unkonzentrierter und oberflächlicher Pass-over-Kultur kann das Projekt, einen Klangturm als Wahrzeichen zu errichten, als Sensation bezeichnet werden“, schrieb damals der Künstler und Ausstellungskurator Gottfried Hattinger. Anfangs kuratierte die Komponistin, E-Violinistin und Vokalistin Mia Zabelka das Programm für drei Hörebenen mit riesigen Klangkugeln. 2014 verstummte der Klangturm – wobei ihn demnächst, beim Festival StadtLandFluss, Soundinstallationen des Instituts für Medienarchäologie reanimieren sollen. Ansonsten ist er Antennenmast – und seine Aussichtsterrasse in 47 Metern Höhe das Highlight jeder Führung. Schulklassen und weitere Gäste tummeln sich vor dem Lift. „Von hier aus hat man den besten Blick über die Landeshauptstadt, das Voralpenland und den Ötscher“, sagt Elisabeth Grimm. Ein Problem an dem Ort, wo im Erdgeschoß frei zugänglich Folder aufliegen und Monitore für Promotion­videos stehen, sei allerdings der Vandalismus: „Ein Bildschirm ist in fünf Minuten zerschlagen.“

Rund 3.000 Beamtinnen und Beamte, 20 Köche, Gärtner, Schlosser, Elektriker, Tischler, Haustechniker, Kindergartenpädagoginnen – alles in allem an die hundert Personen, dazu viele Reinigungskräfte, halten das Regierungsviertel am Laufen. Von Anfang an hing das Damoklesschwert eines nach Dienstschluss entvölkerten Quartiers über ihm. Doch im Westen lagert sich der Kulturbezirk an.

Architekt Hans Hollein plante das Museum Niederösterreich in postmoderner Opulenz. Vor dem Eingang ein Wellendach auf schrägen Stützen, eine Tonne aus Stahl und Glas für die Naturkunde, Sheddächer mit Oberlicht für die Kunst. 2010 baute das Wiener Büro Rataplan einen schlichten, kantigen, corten­stahlummantelten neuen Eingangsbereich mit Lokal und schanigartentauglicher Terrasse mit Wasserbecken an. Auf die Kunst – die ab 2019 einen neuen Ort in der Landesgalerie in Krems fand – folgte im Herbst 2017 das Haus der Geschichte Niederösterreichs; es teilt sich 4.900 Quadratmeter Ausstellungsfläche mit dem Haus für Natur. „Wir sind ein Erlebnismuseum für die ganze Familie“, sagt der operative Geschäftsführer Matthias Pacher. „Der offene Raum hat viel Licht.“ Zwischen 90.000 und 110.000 Interessierte aller Altersgruppen kommen pro Jahr in das Museum Niederösterreich.

Furchterregend

Vor dem künstlichen Gletscher, der von einem präparierten, röhrenden Hirsch und anderem artverwandten Alpengetier besiedelt ist, verbietet ein Schild das Klettern darauf. Dazwischen wuseln kleine, rote Bergameisen, ganz unten im großen Donaubecken schwimmt träge ein furchterregend großer Stör. „Wir sind ein EU-zertifizierter Zoo“, so Pacher. „In unserem Museum gibt es rund 800 Lebendtiere, wir haben permanent zwei Tierpflegerinnen und einen -pfleger angestellt.“ Das moderat bepreiste, regional bekochte Museumscafé ist gut besucht. Dahinter breitet sich der Museumsgarten aus – frei zugänglich, ein wunderbar kontemplativer Ort mit Schildkrötenteich, in dem an die 300 heimische Pflanzenarten wachsen und viel Kunst zu finden ist. Aylin Pittner von der Abteilung Kunst und Kultur, die hier in ihrer Mittagspause wie so oft ihre Hunde äußerln führt, liebt diesen Garten ebenso wie ihre zwei verspielten französischen Bulldoggen Jecki und Bella.

Apfelgeruch

Die Landesbibliothek und das Landesarchiv nach den Plänen von Paul Katzberger sowie das fulminante Festspielhaus komplettieren den Kulturbezirk. „Oper & Ballett“ steht auf dem weißen Lkw vor dem Bühneneingang. Es ist ein großes Haus, ein großes Stück Architektur und heute eine der ersten Adressen für zeitgenössischen Tanz von internationalem Format in Österreich. Knapp über 1.000 Personen fasst der große Saal mit den Sitzen, die gestreift sind wie am Strand von Rimini. Die ansteigenden Reihen zeichnen sich am Äußeren des Gebäudes ab – in dem matt verglasten Volumen, das vorwitzig aus dem ansonsten kantigen Baukörper ragt. Klaus Kada entwarf dieses außergewöhnliche Haus. „Kada meinte, dass die Menschen auf einem weißen Teppich am besten aussehen“, erzählt die künstlerische Leiterin Bettina Masuch. Deshalb liegen nun in den Gängen und Foyers weiße Teppiche – fürs Catering eine enorme Herausforderung, einmal im Monat muss chemisch gereinigt werden. Es riecht an diesem Tag stark nach grünen Äpfeln.

Was wir machen, soll Wärme ausstrahlen.

„Wir sind kein Haus für die Elite. Wir wollen auch Menschen ansprechen, die sich von dieser eher kühlen Architektur aus Glas und Beton vielleicht nicht abgeholt fühlen“, sagt Masuch. „Was wir machen, soll Wärme ausstrahlen.“ An die 70 Eigenveranstaltungen gibt es pro Jahr, das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich spielt hier oft, Stars aus Jazz und Weltmusik treten auf, auch die zwei Studios und der kleine Saal werden ganzjährig genutzt. Einmal pro Woche proben hier die 70 Mitglieder des Weltchors sowie diverse Tanz-Communitys für jedes Alter.

Innen herrscht umtriebige Geschäftigkeit. Techniker Andreas Dröscher arbeitet hier seit 2001. „Unser Bühnenportal ist zehn Meter hoch und 18 Meter breit. Das ist das zweitgrößte in Öster­reich, nach dem Großen Festspielhaus in Salzburg.“ Das Festspielhaus St. Pölten ist ein internationales Gastspielhaus, hier präsentieren die Topstars des zeitgenössischen Tanzes ihre neuen Kreationen als Österreich­premieren. In den vergangenen Jahren wurde dafür die Technik rundum erneuert. Eine der größten Herausforderung war ein Wasserbecken für das Wasserballett in „Dido und Aeneas“ von Sasha Waltz 2006. „Das dauerte nur wenige Minuten“, erinnert sich Dröscher. „Aber die hatten es in sich.“

Urbane Landschaft

Wie ist das Regierungsviertel an die Stadt angebunden? Martin Grüneis, der stellvertretende Leiter der Abteilung Kunst und Kultur, sagt: „Früher existierten Stadt und Regierungsviertel neben­einander, nun rücken sie näher zusammen.“ Einen Steinwurf vom Kulturbezirk entfernt, entsteht nun nach den Entwürfen des Wiener Architekturbüros Schenker Salvi Weber das Kinderkunstlabor. Und die Ehemalige Synagoge feierte kürzlich ihre Neueröffnung. „Damit entsteht zwischen Stadt und Kulturbezirk eine Verbindungsachse an Kulturbauten.“ Und auch einen anderen Konnex gibt es zur Stadt: „Ab 17 Uhr kommen junge Leute, die das Areal sportlich nutzen“, erzählt Grüneis.

Dass hier dereinst Teenager mit ihren Skateboards über weitläufige Betonflächen und Treppen flitzen und die urbane Landschaft als Parkour­gelände nutzen würden: Das erwarteten die Regierungsviertel-Macher 1992 wohl nicht. ● ○