Kolumne

Mehr als 100 Nationen


Zwei Drittel meines Lebens lebe ich in nun in Österreich, davon viele Jahrzehnte in St. Pölten. Als ich damals in der Stadt ankam – mein frisch angetrauter Ehemann holte mich dem Geist der Zeit entsprechend mit einem rostigen Hippiebus in sein Leben –, war ich eine blonde, langhaarige, sehr dünne Frau, die ein Geheimnis in sich trug. Mir ist es nämlich gelungen, unter meinem geblümten Flower-Power-Kleid einen winzig kleinen Menschen über die strengbewachte Ostblock-Grenze ins Land zu schmuggeln.

Trotz der slawischen Verstärkung in der Familie war ich in der Stadt eine der wenigen Ausländerinnen, eine Fremde, eine Rarität. Keine Slowaken weit und breit, kein Mensch, mit dem ich frei und von Herzen in meiner Muttersprache plaudern hätte können. Ein kleiner Hoffnungsschimmer waren für mich zwei, seit Langem eingesessene Tschechinnen, die den Prozess des Umtopfens von einer Erde in die andere schon hinter sich hatten. Mit der einen war ich befreundet, die andere kannte ich nur vom Sehen.

Fast immer, wenn ich neue Menschen kennenlernte, fielen früher oder später zwei Fragen: „Woher kommen Sie?“ und „Gefällt es Ihnen bei uns?“ Ich ärgerte mich über meinen verräterischen Akzent und arbeitete in Deutsch- und Phonetikkursen daran, ihn so bald wie möglich loszuwerden. Es ging aber nicht. Ich war einfach anders. Ich sprach anders. Was hätte ich nur dafür gegeben, eine von vielen zu sein, endlich dazuzugehören.

Mit dem zweiten Kind veränderte sich die Lage grundlegend. Auf einmal hatte ich keine Zeit mehr fürs Nachdenken über meine fremde Herkunft, die mich an den Rand der Gesellschaft drängte, denn andere, wichtigere Themen standen auf dem Plan: meine Familie, meine Kinder, Nestbau, Beruf. Und nicht zuletzt die große Herausforderung – die neue Sprache.

Fleißig lernte ich Vokabeln, büffelte Präpositionen mit dem Genitiv, Dativ und Akkusativ, rang mit den Tücken des Perfekts und Imperfekts, besuchte Kurse und die Universität, bis ich schließlich sagen konnte, ich kann es. Nicht perfekt, wer kann das schon? Aber jedenfalls so gut, dass ich alles beinah fehlerfrei sagen und verstehen konnte. Dass ich einmal Bücher in der geliehenen Sprache schreiben würde, stand damals noch in den Sternen.

Und da passierte ein Wunder. Die Grenzen in Europa fielen, von allen Seiten strömten Slowaken, Tschechen, Polen, Ungarn, die nach neuen Arbeitsmöglichkeiten und ihrem Glück suchten, zu uns. (Fällt es Ihnen auf? Ich sage jetzt auch schon „zu uns“.) Und ich, die damalige Fremde, war bereit, sie in die Geheimnisse der neuen Sprache einzuweihen und aus dem Labyrinth der fremden Wörter und undurchschaubarer Grammatik zu führen.

Der, die, das. Wer weiß das? In der Klasse sitzen Krankenschwestern, Pflegerinnen, Au-pair-Mädchen, Bauarbeiter, Verkäufer, Kellner, Köche, Straßenmusiker. Wir büffeln das, was ich Jahre zuvor gebüffelt habe. Nur stehe ich diesmal auf der anderen Seite des Lehrertisches, blicke in verängstigte Augen, in denen Fragezeichen stehen.

Der, die, das. Wer weiß denn das? Wer weiß, was als Nächstes kommt? Und es passiert schon wieder etwas, womit keiner gerechnet hat: Unzählige Menschen aus Afrika und Asien durchqueren Meere, durchbrechen Zäune, verstecken sich in überfüllten Lkws und fliehen vor Kriegen und Hunger nach Europa. Die Zusammensetzung der Deutschkursteilnehmer ist anders als zu meinen Zeiten. Welche Ethnien, welche Religionen zusammen die Schulbank drücken, bestimmen selten die Menschen selbst, sondern die Diktatoren und Tyrannen, die sich in ihren Hochsicherheitsburgen gerade neue Gräueltaten ausdenken.

Der, die, das. Geht sich das aus?, fragen die einen. Der, die, das. Schaffen wir das?, fragen die anderen. Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten. Die Gefahr rückt immer näher.

Die Deutschkurse in unserer Stadt laufen weiter. Eine Köchin aus der Ukraine, ein Kranführer aus Afghanistan, eine Erntehelferin aus Brasilien, ein Chemiker aus Marokko, ein Arzt aus Syrien, drei Hebammen aus Vietnam. Bald stehen die Prüfungen an. Und was dann?

Die Bevölkerungsstruktur in St. Pölten hat sich in den letzten 50 Jahren stark verändert. Neben den deutschsprachigen Einheimischen leben hier mehr als 100 Nationen, 20,8 Prozent der Bevölkerung weisen einen Migrationshintergrund auf.1 (Dabei zählen nur diejenigen, die einen anderen Geburtsort als Österreich haben. Die hier geborenen Nachfahren wurden nicht erfasst.) Hier wird zu Gott, Allah und anderen Allmächtigen gebetet (alle in Österreich anerkannten Religionen sind in St. Pölten vertreten) und in unzähligen Muttersprachen und Dialekten gesprochen. Die vielfältigen Ethnien kann man gar nicht zählen. Wir sind multikulturell. Wir führen einen Dialog zwischen den Kulturen, feiern alljährlich das Fest der Begegnung.

Meine Unterrichtstätigkeit liegt schon lange zurück, ich widme mich jetzt anderen Aufgaben. Meine ehemaligen Schülerinnen und Schüler treffe ich aber immer wieder in der Stadt. „Hallo, wie geht es dir?“, ruft Gino, der Italiener, der hier eine Familie gegründet hat und als Kellner in einer Autobahnraststätte arbeitet. Cemile aus der Türkei heiratete einen Landsmann, bekam Kinder, arbeitet als Reinigungskraft. Sandra, die Brasilianerin, bewirtschaftet den Hof ihres verstorbenen Mannes außerhalb der Stadt. Inga, die Ukrainerin, zeigt mir stolz ihr Zeugnis aus dem Deutschkurs. „B1 war sehr schwer“, sagt sie, „aber ich habe es geschafft.“ Ich freue mich mit ihr, denn seit sie mit ihrer Tochter in unserem Pfarrheim lebt, gehört sie zu uns. Wenn ich manchmal ins Krankenhaus zu Untersuchungen muss, begegne ich auch dort fast immer einer oder mehreren von „meinen“ Krankenschwestern. Wir freuen uns über ein unerwartetes Wiedersehen, trinken Kaffee, wenn es die Zeit zulässt, erzählen uns unsere Lebensgeschichten. Nicht selten kommt zwischendurch die Frage: Wie funktioniert das eigentlich mit dem Dativ und Akkusativ? Warum heißt es einmal „an der Wand“, das andere Mal „an die Wand“? Wir lachen, erinnern uns und fühlen uns dabei wohl.

Für die meisten Menschen ist das eigene Land, dort, wo – wie es so schön heißt – ihre Wiege stand, die Heimat. Die Stadt, in der sie aufgewachsen sind, die Straße, in der man das Fahrradfahren gelernt hat, wo jeder jeden kennt, wo die Nachbarn grüßen und einem Zucker oder Milch borgen, die Parkbank, auf der man den ersten Kuss bekommen hat. Die anderen, die Geflohenen und Entwurzelten, suchen die Heimat in Begegnungen. Manchen gelingt es sogar. . ● ○

1 Quelle: Büro für Diversität St. Pölten