Statements

Karaoke und Königskerzen


Was erwartet das Publikum bei der Tangente? morgen erfuhr mehr über tanzende Hände und kosmische Bühnen, Community-Arbeit und eine Industriellengattin in Trance.

Begüm Erciyas, Choreografin und Tänzerin
„Mein Projekt ‚Hands Made‘ ist eine etwa 45-minütige Performance ohne PerformerInnen, in der die Hände der ZuschauerInnen zu Protagonistinnen werden. In St. Pölten wird sie in der ehemaligen Glanzstofffabrik präsentiert. Die Teilnehmenden sehen die Glanzstofffabrik nur vor und nach der Performance. AssistentInnen bringen sie zu ihren Plätzen in einem verdunkelten Tunnel, wo sie in einer langen Reihe nebeneinandersitzen, ohne ihre NachbarInnen zu sehen oder zu kennen. Vor je zwei Teilnehmenden gibt es eine kleine Plattform im Licht, gleich einer Bühne, auf die sie je eine Hand legen. Ein Soundtrack aus Text, Klang und Stille leitet die Teilnehmenden durch eine Dramaturgie, die Verbindungen knüpft zwischen der Wahrnehmung der eigenen Hand und dem Live-Geschehen zwischen den Händen, welches sinnbildlich für eine gesellschaftliche Transformation steht. Während der Sound bestimmte Handpositionen und Empfindungen suggeriert – insbesondere den Sinn der Berührung zwischen zwei Händen –, sind die Teilnehmenden frei darin, den Soundtrack mit der Bewegung ihrer Hände auf der Plattform zu interpretieren. Sie erfahren darin sowohl ein Gefühl der Spannung als auch der Intimität den NachbarInnen gegenüber sowie der Entfremdung der eigenen Hand. Die sinnliche Erfahrung führt zu Spekulationen über die Vergangenheit und Zukunft der Hand und der Handarbeit, der Industrialisierung und deren Folgen.

Ich sehe den Moment der Industrialisierung als einen der Fragmentierung in mehreren Sinnen – der Fragmentierung des Körpers, der Spaltung in Handarbeit und Denkarbeit, der Entfremdung vom eigenen Tun, der gesellschaftlichen Fragmentierung. Vor diesem Hintergrund ist die Frage der Rolle der Berührung interessant.“

Begüm Erciyas’ Performance „Hands Made“ läuft am 28. und 29. Juni in der Turbinenhalle am Glanzstoffgelände.

Begüm Erciyas © Bea Borgers
Begüm Erciyas © Bea Borgers

Markus Selg, Multimediakünstler und Filmemacher

„‚Wasteland‘ ist ein Environment, der Versuch einer Vereinfachung (der Untertitel ist: ‚The Great Simplification‘). Eine reale Bühne im Freien, auf einer Brache hinter der ehemaligen Glanzstofffabrik, bestehend aus einer ruinenartigen Struktur und kleineren Eingriffen in die Landschaft. Diese wurden schon im Februar vorgenommen und können nun von der Natur wieder überwachsen werden. Die landschaftlichen Eingriffe sind nach dem Verlauf der Sonne ausgerichtet. Die Landschaft selbst wird zur Partitur eines Rituals. Die Jahreszeiten und der Kreislauf der Natur erzählen ihre eigene Geschichte. Ein Echoraum, der zwischen Requiem und Schöpfungsmythos oszilliert. Auf dieser kosmischen Bühne ist die Hauptakteurin die Natur mit ihren Elementen: Sonne, Wasser, Wind, Erde, Pflanzen, Tiere und Insekten. Eine tragende Rolle in ‚Wasteland‘ spielen zum Beispiel die Königskerze und Rehe. Die von uns eingesetzten dramaturgischen Mittel sind Nebel, Text und Sound, mit einer Soundscape der Künstlerin Debit. ‚Wasteland‘ stellt ein komplexes, dynamisches System dar, in dem alles miteinander verbunden ist. Das Publikum ist ebenso Teil davon. Es ist beteiligt, ohne dass etwas erwartet wird. Jede:r ist Protagonist:in in der eigenen Erzählung. Es gibt mögliche Orte für Handlungen und Gemeinschaft wie eine Feuerstelle oder ein Totem. Weder Theater noch Performance können als treffende Begriffe gelten. ‚Wasteland‘ ist vielleicht eine Art ‚Open World Game‘: eine Erfahrung, welche die Grenze zwischen Inszenierung und Realität verschwimmen lässt. Wie viel Gestaltung brauchen wir, um uns als Teil einer Inszenierung zu fühlen? Warten wir auf eine Vorführung oder finden wir eine Erzählung in der uns umgebenden Welt?

Die Installation „Wasteland. The Great Simplification“ von Susanne Kennedy, Markus Selg und Debit ist von 27. bis 30. Juni sowie von 4. bis 7. Juli in der ehemaligen Spinnerei am Glanzstoffgelände zugänglich.

Markus Selg © Markus Selg
Markus Selg © Markus Selg

Magdalena Chowaniec, Kuratorin und Vermittlerin

„Gemeinsam mit Muhammet Ali Baş bin ich mit der Kuratierung und Vermittlung der Stadtprojekte des Festivals betraut. Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht die Verbindung zur Stadt St. Pölten. Die Bewohner:innen wurden durch partizipative Formate zur Teilnahme am Festival eingeladen. Ich selbst komme aus Polen und entwickle als sozial engagierte Choreografin seit Jahren in Österreich Kunstprojekte, die die Beteiligung diverser Gruppen an Kunst und Kultur stärken. Kunst und vor allem Tanz sehe ich als Vehikel, um das individuelle Potenzial, das in jedermann steckt, zu entdecken, und um verborgenen Narrativen Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit zu geben sowie die Communitys zu stärken. In enger Zusammenarbeit mit Ali und Institutionen aus dem Sozialbereich wurden für St. Pölten verschiedene Projekte entwickelt, an welchen Menschen unterschiedlichen Alters und diverser sozialer wie kultureller Herkünfte sowie Künstler:innen, Sozialarbeiter:innen, Aktivist:innen und Expert:innen teilnehmen können. Neben großen Projekten wie ‚Sisters United. Gegen Gewalt an Frauen*‘ oder dem Summer Camp ‚Art of Community‘ finden im Vermittlungsraum im Festivalzentrum unter anderem Tanz-, Musik- und Kreativworkshops, gemeinsames Kochen, Karaoke- und Kinoabende und ein Aktivismus-Café statt, stets begleitet von Kinderbetreuung. Unser Ziel ist, nachhaltige Beziehungen und Netzwerke aufzubauen, die über das Festival und seinen Zeitraum hinauswachsen.
Durch diverse Angebote und Aktivitäten, die auf die Bedürfnisse unserer Communitys eingehen, entstehen neue Räume. Dort lernen wir von- und übereinander, knüpfen Freundschaften und lösen im Diskurs viele Konflikte. Diese konsumfreien Räume, in denen Kunst und Soziales koexistieren können, benötigen viel Zeit, Pflege und Aufmerksamkeit. Deshalb sollten sie in jedes Stadtbild als regelmäßig subventionierte Orte eingeschrieben werden.“

Die von Magdalena Chowaniec und Muhammet Ali Baş initiierte Aktion „Art of Community. Die Neue Freundschaften Summerschool“ findet von 28. Juni bis 6. Juli in der Villa am Glanzstoffgelände statt; zahlreiche weitere Projekte unter: tangente-st-poelten.at.

Magdalena Chowaniec © Erli Gruenzweil
Magdalena Chowaniec © Erli Gruenzweil

Elisabeth von Samsonow, Philosophin und Künstlerin

„Meine Arbeit findet sich im Projekt ‚The Way of the Water‘: Es ist die kinetische Skulptur ‚Stream Diver Thea Voith (die in den Strom Eintauchende)‘. Sie ist im Mühlbach platziert, einem im Mittelalter angelegten Kanal, dessen Wasser erst Mühlen antrieb und der jetzt durch ein E-Werk der EVN läuft. Im Hammerwerk, wo die Skulptur steht, befindet sich seit 1910 eine Turbine des St. Pöltner Voith-Werks. Es wurde 1910 von Walther Voith gegründet und war lange Marktführer im Wasserkraftwerkbau. Neben der Glanzstofffabrik war die Voith der größte industrielle Betrieb in St. Pölten. Meine Skulptur ist sechs Meter hoch, aus Aluminium, Edelstahl und einem Rock aus Acrylglasstäben. Am unteren Ende sieht man auf drei rotierenden Flügeln Diagramme zur Physik des Wassers beim Eintritt in eine Turbine. Mittels einer Antriebsschraube wird aus dem Mühlbach Energie gewonnen, die die verschiedenen Teile der Skulptur in Rotation und Gegenrotation versetzt. Bekrönt ist die Skulptur mit dem Abguss eines angeblichen Porträtkopfs von Thea Voith in Trance. Thea Voith war gebürtige Amerikanerin und die Gattin des Firmengründers. Es heißt, sie sei ein Medium gewesen. An sie wurde das nach dem Zweiten Weltkrieg von den Russen konfiszierte Voith-Werk restituiert. Thea Voith übte also für St. Pölten eine bedeutende politische, ökonomische wie soziale Funktion aus – und wurde anschließend vergessen.
‚Stream Diver‘ thematisiert die Parallele von Wasserstrom und Bewusstseinsstrom, ist Spielzeug für das arbeitende Wasser, autonome energieproduzierende Maschine und zugleich Gedenkstätte. Als allegorische Figur verweist sie auf die Löschung weiblicher Subjektivität aus dem kollektiven Gedächtnis und die Möglichkeit des Reset.“

Elisabeth von Samsonows Skulptur ist Teil der Ausstellung „The Way of the Water. Ein Kunstparcours in Zusammenarbeit mit der Traisen und dem Mühlbach“ im öffentlichen Raum.

Elisabeth von Samsonow © Maresa Jung
Elisabeth von Samsonow © Maresa Jung