Standpunkte

Ist St. Pölten eine Kultur-Hauptstadt?


In jeder Ausgabe stellt morgen drei Menschen, die sich auskennen, eine Frage. Diesmal:

Ein bepflanztes Blumenbeet

Cornelia Travnicek

St. Pölten wurde zur Landeshauptstadt, als ich geboren wurde, und wir sind gleichsam erwachsen geworden. St. Pölten hat sich in dieser Zeit zur Kulturhauptstadt entwickelt. Als Kind habe ich dort Theatervorstellungen besucht, als Teenager mit angehenden Literaturambitionen nahm mich mein Vater zur Bühne im Hof mit, weil ich Michael Köhlmeier vorlesen hören wollte. Als ich 15 war, wurde das Cinema Paradiso eröffnet: Ein Programmkino zu haben, war ein kultureller Meilenstein.

Die meiste Zeit habe ich als HTL-Schülerin in St. Pölten verbracht. Für mich war damals der Schubert eine Institution, eine bis zum Umzug kleine, dunkle, vollgestopfte Buchhandlung. Mit dem Etcetera gibt es auch eine Literaturzeitschrift aus St. Pölten und seit 19 Jahren das Blätterwirbel-Festival, bei dem ich auch heuer wieder lesen werde. Jetzt, als Mutter, bin ich gespannt, wie sich St. Pölten mit dem Kinderkunstlabor entwickeln wird.

Was neben viel kuratierter und angeleiteter Kultur und großen Institutionen etwas fehlt, ist anarchisch motivierte Kunst und Kultur. Selbst Projekte wie die Wutbox, wo Leute Wutreden reinsprechen konnten, die zu literarischen Texten gemacht wurden, oder das Bürgertheater, bei dem Amateur:innen ein Theaterstück entwickelt haben, sind hier nicht Grassroots-, sondern öffentlich finanzierte Projekte. Kunst und Kultur in St. Pölten ist mehr ein bepflanztes Blumenbeet als eine wilde Blumenwiese.

Die Schriftstellerin und geborene St. Pöltnerin Cornelia Travnicek studierte Sinologie und Informatik. Zu ihren Auszeichnungen zählen der Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs sowie der Kulturpreis Niederösterreich. Sie arbeitet zudem in einem Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung.

© Paul Feuersänger
© Paul Feuersänger

Potenzial für ein eigenes Profil

Hans Stefan Moritsch

Das Klischee von St. Pölten als Provinzstadt, die nichts zu bieten hat, hat sich für mich, der in Wien wohnt und seit mehr als zehn Jahren in St. Pölten arbeitet, relativiert. Dennoch nehme ich aus meiner rein persönlichen Perspektive St. Pölten noch nicht als Kulturhauptstadt wahr. Beispielsweise gibt es punktuelle Aktivitäten rund um die Tangente, in die auch wir mit unseren Studierenden involviert sind. Aber es bräuchte noch mehr nachhaltige Angebote, damit die pendelnden Studierenden nicht den Zug um 18, sondern den um 23 Uhr nach Wien nehmen.

Es wäre absurd, das kulturelle Angebot von St. Pölten mit Wien zu vergleichen. Das nicht so Weltstädtische hier hat auch Qualitäten. Es lassen sich leichter Orte schaffen, in denen man experimentieren und Gemeinschaft entwickeln kann, zum Beispiel im Solektiv. Ich finde es sehr reizvoll, dieses alternative Kulturzentrum neben der Privatuniversität zu haben, das Studierenden und andere Besucher:innen offensteht. Wir haben dort schon viele Veranstaltungen, Symposien und Feiern gemacht.

Es wäre gut, für St. Pölten eine auch von außen erkennbare Identität herauszuarbeiten. Vielleicht als Alternativkulturhauptstadt? Ich glaube, es gäbe – auch in bewusster Abgrenzung zu Wien als Hochkulturhauptstadt – großes Potenzial, ein eigenes Profil zu entwickeln, das sich beispielsweise über zeitgenös­sische Gestaltung, Kollaboration und Forschung definiert.

Der Produktdesigner und Designforscher Hans Stefan Moritsch ist Professor an der New Design University in St. Pölten, wo er seit 2013 den Studiengang Design, Handwerk & Materielle Kultur leitet. 2022 gründete er das Institute for Design Education Austria.

© Leo Mühlfeld
© Leo Mühlfeld

Brüche liegen enger beieinander

Mona Marijke Jas

Als Person, die von außen dazu gekommen ist, frage ich mich, wozu St. Pölten das Label Kulturhauptstadt braucht. Die Stadt hat bereits viele Angebote und ist schon einen Schritt weiter. Das pulsierende Leben auf den Straßen und Plätzen bis in den Abend hinein und die vielseitigen und zahlreichen kulturellen Angebote waren ein Grund für meine Entscheidung, St. Pölten zu meiner persönlichen Kulturhauptstadt zu machen.

2024 wird das Angebot um großartige Projekte und Institutionen erweitert – etwa durch das Festival Tangente St. Pölten, die Ehemalige Synagoge oder das Kinderkunstlabor, ein einzigartiges Modellprojekt. Dessen Konzept hat mich auf Anhieb begeistert, da hier Felder zusammengedacht werden, die sonst eher in parallelen gesellschaftlichen Räumen nebeneinander entwickelt werden. Mit dem Kinderkunstlabor entsteht so eine demokratische Plattform für eine zukünftige Generation, die zeitgenössische Kunst zum Ausgangspunkt nimmt – demokratisch, weil von Anfang an die Perspektiven der Kinder mit einfließen.

In St. Pölten als Mittelstadt liegen Gegensätze und Brüche enger beieinander. Darin sehe ich eine große Chance für gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die dringend geboten sind. Das Kulturangebot wird durch Kunst, Offenheit und Kreativität mit dazu beitragen, dies zu ermöglichen und St. Pölten sowie seine Umgebung als Region der Zukunft und wichtigen Kulturstandort wahrzunehmen.

Die Kuratorin und Kunstvermittlerin Mona Marijke Jas ist künstlerische Leiterin des Kinderkunst­labors in St. Pölten. Die geborene Niederländerin ist seit 2015 Honorarprofessorin an der Weißensee Kunsthochschule Berlin und lehrt seit 2019 an der Universität Hildesheim im Bereich Kulturelle Bildung und Kunstvermittlung.

© Ina Aydogan
© Ina Aydogan