Gesellschaft • Džanić

Ein einziges Plastiksackerl


Anfang der Neunziger erreichten bosnische Kriegsflüchtlinge St. Pölten. Die Fotografin Jasmina Džanić war eine von ihnen und damals acht Jahre alt. Zunächst wohnten sie und ihre Familie am ehemaligen Fabriksgelände Sonnenpark.
Die Geschichte einer Rettung und vieler Traumata.

Im St. Pöltner Sonnenpark nieselt es an diesem Frühlingstag, ein kalter Wind weht – als müsste das Wetter den optimistisch-heiteren Namen konterkarieren. Und auch sonst ist der Ort weniger idyllisch, als dieser Name vermuten lässt. Von Häusern blättert die Farbe ab; man sieht ihnen an, dass sich seit Jahrzehnten niemand um sie gekümmert hat. Einige sichtlich neuere Murals auf den Fassaden der Baracken verraten, dass hier die Subkultur Einzug gehalten hat – vor allem im Sommer, bestenfalls und mit adäquater Finanzierung irgendwann auch ganzjährig; aktuell ist der Sonnenpark zudem wichtiger Spielort der Tangente St. Pölten. Vor rund 25 Jahren bezog hier der Kulturverein Lames Quartier, der mittlerweile mit dem Verein Sonnenpark zum „Solektiv“ fusionierte.

Gedenktafel

Vor einem der Häuser steht seit 2022 eine Gedenktafel, „in Erinnerung an jene Menschen, die im Sommer 1992 aus dem Krieg in Bosnien flüchten mussten und hier ihre neue Heimat gefunden haben“, so die Beschriftung. Darüber ist ein Foto zu sehen; es zeigt ein Dachgeschoß mit zwei Hochbetten, verloren wirkenden Möbeln, über das sich das blau-weiße Straßenschild mit der Adresse des Sonnenparks schiebt. Die Collage stammt von der St. Pöltner Fotografin Jasmina Džanić. „Mir war es wichtig, daran zu erinnern, dass hier Flüchtlinge waren“, sagt sie. „Viele Menschen fahren hier Tag für Tag vorbei und wissen nichts davon.“ Sie steht im Regen, der gerade immer stärker wird, und lächelt, wie sie während des Spaziergangs durch den Sonnenpark fast immer lächelt, auch wenn sie grausame Dinge erzählt und ihre Stimme manchmal zittert.

Multireligiös

1992, wenige Wochen vor Jasmina Džanićs achtem Geburtstag: Die Familie verfolgt die Nachrichten, der Krieg tobt in Kroatien. „Mama, kommt das auch zu uns?“, fragt das Kind. „Nein, das ist ganz weit weg. Dort, wo wir immer Urlaub machen.“ Im Nachhinein erinnern sich ihre Eltern daran, wie sie die Gefahr ausblendeten, nicht wahrhaben konnten. Die Familie lebt in Bijeljina, einer historisch multiethnischen und multireligiösen Stadt im Nordosten des heutigen Bosnien und Herzegowina. Die Mutter fragt sich, ob die vielen Kinder, die ihre Tochter zur Geburtstagsparty einladen will, überhaupt Platz finden in der Wohnung. Aber Jasmina will unbedingt, dass alle kommen, die Kinder aus der Klasse und die, mit denen sie im Hof spielt. Sie sind muslimisch, serbisch-orthodox und römisch-katholisch, haben kroatische, serbische und bosnische Wurzeln.

Nach dem Tod von Josip Broz Tito im Jahr 1980 beginnen im damaligen Jugoslawien die Zerfallsprozesse und Autonomiebestrebungen. Zu ersten Kämpfen kommt es im Juni 1991 in Slowenien zwischen der jugoslawischen Armee und slowenischen Streitkräften, etwas später in Kroatien sowie in Bosnien und Herzegowina.

Sie feiern dann doch alle gemeinsam. Eine Woche später kommt der Krieg auch in Bijelj­ina an. Und mit ihm ein erstes Bild der Gewalt. Jasmina Džanić erzählt von einer alptraumhaften Szene: Von ihrem Wohnzimmer aus blickt sie auf einen Park, hinter jedem Baum steht ein Mann mit Maschinengewehr. „Jemand muss im Untergrund agitiert und sie mit Waffen ausgerüstet haben. Meine Eltern waren schockiert. Das waren ihre Nachbarn, friedliche Menschen, Freunde. Plötzlich kommt so jemand und will dein eigenes Kind ermorden.“

Es gibt keinen Strom mehr, kein fließendes Wasser, kaum Essen. Sie erinnert sich an das Flüstern der Eltern. An die Mahnung, im Zimmer nur geduckt zu spielen, damit die Männer aus dem Park nicht durch das Fenster auf sie schießen können. Die Erwachsenen besprechen sich leise in der Nachbarswohnung. Plötzlich laufen die Mütter ins Zimmer und ziehen die Kinder in den Flur, der nur ein kleines Oberlicht hat. Jasmina spürt, dass ihre Mutter zittert.

Immerhin. Wir waren dankbar, in Sicherheit zu sein.

Berstendes Glas

Dann halten sich die Erwachsenen selbst nicht an ihr Verbot, stehen rauchend am Fenster und blicken auf den Park. Glas zerbirst, drei Kopfschüsse treffen die Nachbarin, sie fällt zu Boden. Plötzlich stürmen die Männer ihre Wohnung und schreien: „Wohnen hier Moslems?“ Aber die Hausgemeinschaft hält zusammen, niemand verrät Jasmina und ihre Familie, die einzige muslimische im Wohnblock. Alle Erwachsenen treffen sich in einem Hinterzimmer und beraten. Wie reagiert man, was tut man, wenn das Grauen so plötzlich hereinbricht? Wieder und wieder kommen die Männer. Einer von ihnen zielt mit einem Maschinengewehr auf Jasmina. „Wohnen hier Moslems?“ Und: „Wie heißt du?“ Vor lauter Angst nennt sie ihren Namen und erschrickt: Jeder weiß, dass Jasmina ein muslimischer Name ist. Ein Nachbar springt ein und lenkt den Mann ab: „Können Sie uns helfen, wir haben hier eine Leiche, es stinkt, wir wissen nicht, wohin mit ihr.“

Hilferuf

Der Mann mit dem Maschinen­gewehr lässt Jasmina. Wenn sie heute, hier im Sonnenpark, davon erzählt, klingt es, als sei es gerade erst passiert. Genauso wie ihre Ankunft in St. Pölten. „Der Bus blieb stehen und wir sind ausgestiegen. Meine Eltern und ich hatten ein einziges Plastiksackerl dabei. Die Häuser sahen damals schon so aus wie heute. Alles war verwuchert, das Gras stand mir bis zur Hüfte.“

Am 23. Juni 1992 titelte eine St. Pöltner Regionalzeitung: „Hilferuf an alle St. Pöltner: Nehmt Kriegsflüchtlinge auf!“ Wenig später kamen 50.000 Bosnierinnen und Bosnier in Österreich an. 250 von ihnen brachte man im Sonnenpark am Spratzerner Kirchenweg 83 unter. Das zentral gelegene Areal gehört der Stadt und diente vorher als Betriebsgelände einer Mühle. Mehr als zwei Jahre lang leben die Geflüchteten hier. Essen liefert das Krankenhaus. Die Bewohnerinnen und Bewohner teilen sich eine Toilette und eine Dusche. Sie haben keine Möglichkeit, zu arbeiten und Geld zu verdienen, gelten als „De-facto-Flüchtlinge“ mit befristetem Aufenthaltsrecht und ohne Arbeitserlaubnis. Erst später werden sie „integrierte Vertriebene“ und dürfen bleiben.

„Es gab damals keine Übersetzer, überhaupt nur das Allernötigste. Immerhin. Wir waren dankbar, in Sicherheit zu sein. Aber Rücksicht wurde damals kaum genommen, und das Flüchtlingslager war nicht kindgerecht“, erzählt Džanić. „Zum Glück gab es die Familie Koch, die übergangsweise auf dem Areal lebte, während ihr Haus gebaut wurde. Sie ließen uns im Sommer ganz selbstverständlich in ihren Pool hüpfen.“

Kleine Gesten

Es gibt Jasmina Džanićs Geschichte, und es gibt die Reaktionen darauf. Zum Beispiel während der Präsentation ihrer Arbeiten im St. Pöltner Cinema Paradiso im Juni 2022. Ein Gast kritisiert sie: „Warum denn dieses grässliche Wort – Flüchtlingslager? Muss das sein?“ Sie antwortet: „Weil es das war, ein Lager. Wir wurden ausgelagert. Ich will nichts schönreden.“

Es hat sie viel Mut gekostet, mit ihren Bildern und ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie will sich nicht mehr als Mensch zweiter Klasse fühlen, der gefälligst dankbar zu sein hat und den Mund halten soll. Nach der anfänglichen Hilfe erlebte Džanić auch Beschimpfungen, Beleidigungen, Hass: „Das Wort ‚Tschusch‘ hörten wir oft.“

Niklas Perzi arbeitet als Historiker am Institut für die Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten. Er recherchierte viel über die Bosnien-Geflüchteten in der Stadt und sagt: „Insgesamt ist die Aufnahme der bosnischen Geflüchteten eine Erfolgsgeschichte, fast alle sind geblieben und heute gut in Österreich integriert.“ Aber er erklärt auch: „Die Flucht 1992 fand parallel zur sogenannten Ostöffnung statt. Diese hatte bereits große Migrationsbewegungen ausgelöst. Beim Anti-Ausländer-Volksbegehren 1993 wurde das alles in einen Topf geworfen. Dementsprechend war die Stimmung in Teilen der Bevölkerung nicht die beste. Insgesamt sprechen die Zahlen und die wiederholten Aufrufe zur Aufnahme jedoch für die Hilfsbereitschaft der österreichischen Bevölkerung. St. Pölten war schon immer eine Migrationsstadt und wurde Anfang des 20. Jahrhunderts überhaupt erst durch Einwanderung groß.“

St. Pölten ist erst durch Einwanderung groß geworden.

Jasmina Džanić erinnert sich an ihren ersten Schultag in St. Pölten, ausgerüstet mit einem Plastiksackerl und einem Bleistift. Die Lehrerin schimpft: „Bei uns in Österreich schreibt man mit Füllfederhalter.“ Sätze, die nachhaltig verletzen. Auch sonst hilft ihr die Lehrerin nicht. Džanić erinnert sich daran, in der Klasse isoliert gewesen zu sein – aber auch an ein Mädchen, das als einziges Kind mit ihr spricht. Deren Eltern hatten ihr gesagt, sie solle doch auf das Flüchtlingsmädchen zugehen. Kurz nach Weihnachten schenkt sie ihr eine gebrauchte Schreibunterlage. Kleine Gesten, die trösten.

Mittlerweile hat sich Džanić, nach einem Studium für angewandte Fotografie an der FH St. Pölten, in ihrer Profession etabliert. Zahlreiche weitere Fotoarbeiten zeigte sie, parallel zur Errichtung der Gedenktafel im Sonnenpark, in ihrer Ausstellung „Novi Dom – Bosnische Flüchtlinge in St. Pölten 1992–2022“ im Stadtmuseum St. Pölten. Die Eröffnung war bestens besucht, das Medienecho enorm. Das Interesse am bisher zu wenig Erzählten scheint groß. ● ○