Pulle

„Das ganze Panorama“


Thomas Pulle leitet seit fast 20 Jahren das Stadtmuseum St. Pölten. Vor der Eröffnung der beiden diesjährigen großen Ausstellungen des Hauses sprach er mit morgen über die vielen St. Pöltens, einen übersehenen Erker und den Umgang mit Monumentalskulpturen aus der NS-Zeit.

Herr Pulle, Sie befassen sich seit Jahrzehnten mit St. Pölten. Was ist das Besondere dieser Stadt?

Thomas Pulle

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Die Geschichte der vergangenen 170 Jahre: Die Stadt wuchs bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts kaum. Durch die Eisenbahn kam man ab 1858 von hier aus in die weite Welt. Ab den 1880er-Jahren gab es eine kleine Gründerzeit, von der bis heute die Prachtbauten entlang der Promenade zeugen. Vor dem Ersten Weltkrieg versuchte St. Pölten dann, das Korsett einer Provinzstadt zu sprengen: Schon 1900 errichtete der Jugendstilarchitekt Joseph Maria Olbrich ein hochmodernes Stadthaus. Nach 1918 muss sich die Stadt neu erfinden und wandelt sich zu einer sozialdemokratisch geprägten: Man stellt Arbeitslosen Grundstücke zur Verfügung, gibt ihnen Baupläne. So entstehen modulartige Siedlungen. In einer Zeit, in der nichts da ist, können sich Leute was schaffen – ein faszinierender Ansatz! Interessant ist also dieser permanente Wandel, der Wille, sich ständig neu zu erfinden. Auch später mit der Landeshauptstadt, die nicht unumstritten war. Die Stadt bekam tolle Kulturbauten wie das Festspielhaus. Nun, bei der Tangente St. Pölten, ist ein interessantes und internationales Programm zu sehen. Es gibt nicht ein einziges St. Pölten, sondern viele. Die Summe dieser Puzzlesteine ergibt ein spannendes Bild.

Wenn Sie durch die Stadt gehen, sehen Sie diese dann durch die Brille ihrer Geschichte?

In den 1990er-Jahren stellte ich hier im Haus die Österreichische Kunsttopografie zur Stadt fertig, ein Kompendium bedeutender Kunstwerke und Gebäude. Daher war es unausweichlich, mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen. Das ist noch immer so: Ich schaue besonders auf die Kleinigkeiten, die viele Leute nicht sehen.

Was fiel Ihnen zuletzt auf?

Ein Haus an der Ecke Franziskanergasse/Brunngasse. Dort gibt es im Dachbereich einen Erker mit Jugendstildekor, der von Olbrich beeinflusst ist. So etwas sieht man aber erst, wenn man den Blick hebt.

Ein wichtiger Bestand des Stadtmuseums ist die Archäologie, mit Funden wie einem Bronzeschatz. Was kann das Publikum daraus über die Stadt lernen?

Die Archäologie ist Basis für vieles. Über lange Epochen haben wir keine schriftlichen Aufzeichnungen. Da müssen die Objekte für sich sprechen. Seit der Jungsteinzeit gab es im Bereich der Stadt mit ihren Vororten eine fast permanente Besiedelung. Unsere ältesten Funde gehen auf das fünfte Jahrtausend zurück. Ganz frühe Objekte sind beispielsweise Schmuckstücke: Sie bestehen nicht aus Gold, sondern sind Muschelfragmente und versteinerte Austern, die man ans Gewand nähte. Die Leute funktionierten also Dinge aus der Umgebung um. Man braucht keine schriftlichen Aufzeichnungen, um zu erkennen: Offenbar ist es ein Grundbedürfnis des Menschen, sich zu schmücken. Oder: Bei den Grabungen am Domplatz fand man Skelette. Durch eine Untersuchung von deren Knochen entdeckte man, dass die Syphilis schon nachweisbar war, bevor Kolumbus in Amerika war. Das widerspricht der bis dahin gültigen Lehrmeinung, der zufolge diese eingeschleppt wurde – eine Entdeckung, die international Aufsehen erregte.

Die Sammlung enthält darüber hinaus auch sozial- und zeithistorische Dokumente. Wie entscheiden Sie, welche Objekte das Museum aufnimmt?

Ein Bezug zur Stadtgeschichte muss da sein. Viele Dinge, die früher nicht gesammelt wurden, erscheinen heute interessant. Seit einigen Jahren versuchen wir, den industriegeschichtlichen Teil stärker abzudecken, etwa mit Fotos und Dokumenten. St. Pölten war ein Zentrum der Textilwirtschaft.

Sammeln Sie auch Gegenstände der Gegenwart?

Wenn es sich aufdrängt. Als das Café Wolf zusperrte, kauften wir die Einrichtung fürs Museum und integrierten sie hier. So versuchen wir, Geschichte zu erhalten

Wie gehen Sie mit den dunklen Seiten der Sammlung um, beispielsweise dem Nachlass des NS-Bildhauers Wilhelm Frass?

Das ist sehr schwierig. Diese Kunst wurde geschaffen, um ein menschenverachtendes System zu verherrlichen. Frass’ Nachlass war schon vor uns, die wir heute hier arbeiten, im Haus. Er wird Teil der Ausstellung „Blick in den Schatten. St. Pölten und der Nationalsozialismus“ sein. Dabei versuchen wir, propagandistischen Werken wie den seinen den Nimbus zu nehmen – mit Hilfe kluger Ausstellungsgestaltung und Grafik. In der Dauerausstellung zeigen wir sie nicht.

Im Depot nehmen gerade diese monumentalen Skulpturen viel Platz ein, oder?

Das schon, doch wir müssen sie bewahren, um die wissenschaftliche Auseinandersetzung damit zu ermöglichen.

Für die erwähnte Ausstellung über den Nationalsozialismus luden Sie die Bevölkerung in sogenannte Erzählcafés. Wie lief das?

Als wir vor mehr als einem Jahr das Ausstellungsprojekt präsentierten, waren wir überrascht vom großen Interesse: An einem Samstagnachmittag kamen 80, 90 Personen! Daher wollten wir es erweitern und luden Leute ein, ihre Geschichten – über ihre Familien oder die Stadt allgemein – zu erzählen. Das führte dazu, dass einige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen für die Ausstellung interviewt wurden. Sie erlebten die NS-Zeit und ihr Ende aus der Perspektive von Kindern. Wir zeigen zudem private Tagebücher. Das Stadtmuseum besitzt eine Zwangsarbeiterinnenkartei mit über 600 Fotos und Namen, die uns sehr viel erzählt. Darüber hinaus sind Geschichten des Widerstands überliefert, aber auch die der Täterinnen und Täter. Wenn wir all das einbeziehen, können wir das Leben im Nationalsozialismus in St. Pölten aus vielen Perspektiven beleuchten, das ganze Panorama. ● ○

Ausstellungen Stadtmuseum St. Pölten
„Von Steinen und Beinen“ über die Ausgrabungen am Domplatz, bis 2. November 2025; „Blick in den Schatten. St. Pölten und der Nationalsozialismus“, 14. Juni 2024 bis 15. Mai 2025.
Stadtmuseum
St. Pölten
Prandtauerstraße 2
3100 St. Pölten