Kolumne

Der Mut, sich selbst zum Deppen zu machen


Ehrlich gesagt, verstand ich die Bedeutung des Wortes Schmäh lange nicht. Noch dazu ergab die Suche im deutsch-slowakischen Wörterbuch Schande oder schänden – schimpfen, verunglimpfen. Nicht besser war es mit dem Duden, der das gesuchte Wort als Kunstgriff, (billiger) Trick, Schwindelei oder Unwahrheit erklärte. Trotzdem spürte ich, dass es etwas anderes, Subtileres sein musste, sonst würden die Wienerinnen und Wiener von sich nicht behaupten, dass sie einen besonderen Schmäh hätten. Klar, es ist etwas Lustiges, dachte ich, aber ein Witz ist es nicht. Eher Humor, etwas zum Lachen, etwas zum Schmunzeln.

Vor allem in meinen ersten Jahren in Österreich beobachtete ich die Menschen sehr genau und lernte sie zu lesen – auch ohne die Worte, die sie verwendeten, immer zu verstehen. In dieser Zeit machte ich Bekanntschaft mit einer jungen Frau, die fast ihre gesamte Freizeit mit Freunden in Kaffeehäusern verbracht hatte. Auf die Frage, was sie dort so viele Stunden am Tag tun, antwortete sie lachend: „Schmäh fieren.“ Okay, Schmäh führen. Sprüche klopfen. Da kam ich der Sache schon etwas näher – zumindest sprachlich – auch wenn ich immer noch nicht verstehen konnte, was an einem losen Geplänkel so lustig sein sollte.

Mit der Zeit, als meine Integration Fortschritte machte, erkannte ich das hochsensible Fluidum zwischen Flunkern, Schwindelei und charmantem Unfug und fand Freude daran. Die unverbindlich derbe und trotzdem liebenswerte Art der Kommunikation bewegt sich irgendwo zwischen dem Raunzen und der scheinbaren Leichtigkeit des Seins. Das ist schon bemerkenswert. Man kann alles geradeaus sagen, und trotzdem fühlt sich keiner beleidigt. Ausdrücke wie „Sechzehnerblech“, „Fetzenschädel“, „Schasaugerter“, „Eitrige“ oder „Oida“ sind so einzigartig, dass sie nur hier Geltung haben, weil sie nicht in andere Sprachen übersetzbar sind.

Etwas Ähnliches kann man auch im Tschechischen entdecken. Die Gespräche im berühmten Prager Bierlokal U Fleků strotzen vor tschechischen Schmäh, der beim besten Willen nicht wortwörtlich in andere Sprachen zu übertragen ist. Man muss sich mit anderen Worten und anderen Ausdrücken behelfen, und auch dann ist es nicht das Gleiche. Die Übersetzungen von Werken alter Meister der tschechischen Literatur wie Karel Čapek oder Jaroslav Hašek sind nur Versuche, sich dem Original zu nähern. Wer einmal „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ auf Tschechisch gelesen hat, wird mir Recht geben, dass der österreichische oder gar der deutsche Schwejk ganz anders spricht als der in der Originalversion. Der Schmäh macht ihn anders.

Mein leider schon verstorbener tschechischer Schriftstellerkollege und Freund Alex Koenigsmark beherrschte die Kunst des humoristischen Erzählens wie kein Zweiter. In Schreibkursen für junge Menschen, wie ich sie auch halten durfte (meine Spezialität waren die europäischen Identitäten), gab er sein Wissen weiter. „Passt auf“, sagte er, „es gibt Kritiker, die sich in ihrer Arbeit unheimlich schwer tun. Sie sind, gelinde gesagt, unwissende Tölpel und verwenden diese Eigenschaft als Wertmaß. Gut ist, was sie nicht verstehen, schlecht, was sie verstehen.“

Die Studenten kamen jedes Jahr im Sommer, hingen an seinen Lippen und ließen sich auch nicht von seinen Sprüchen (etwa: „Es ist leicht zu schreiben, wenn man kein Talent hat.“) von ihrem Weg abbringen. Sie liebten und verehrten ihn und waren traurig, als er nicht mehr kam. Mit Alex verstarb auch die Literarische Akademie in Luhačovice, die wir alle so sehr liebten. In ewiger Erinnerung blieb mir sein Spruch: „Der Mut, sich selbst zum Deppen zu machen, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um die eigene Würde zu behalten.“

Ein paar Jahre danach hatte ich ein Déjà-vu. Ich saß im Vorgarten eines Cafés in der Wiener Innenstadt, als mich eine bekannte Stimme ansprach. Es war Martin, einer unserer Absolventen der Literarischen Akademie.

„Du hier?“, wunderte ich mich.

„Du wirst es nicht glauben, aber seit Neuestem bin ich auch ein Wiener“, sagte der junge Mann schmunzelnd.

„Wieso das?“

Martin setzte sich und erzählte, dass er eine Ausbildung zum Klavierstimmer absolviert und danach eine österreichische Pianistin geheiratet hatte. Seitdem lebt er mit seiner Frau im fünften Bezirk.

„Bist du immer noch Tscheche oder schon Österreicher?“, fragte ich Martin anknüpfend an unsere Gespräche in Luhačovice.

„Ist das denn so wichtig, was ich bin?“, fragte er zurück. „Reicht es nicht, dass ich glücklich bin?“

Martin sprach laut. Es fiel mir auf, dass sich von den Nebentischen einige Gäste nach uns umgedreht hatten. Vor allem ein Herr, der gleich hinter Martin saß, sah jetzt direkt zu uns und hörte aufmerksam zu. Martin konnte ihn nicht sehen und fuhr deshalb in der gleichen Lautstärke fort.

„Was ist für dich ein typischer Österreicher?“, fragte er mich ein bisschen herausfordernd. „Ein Ziehharmonikaspieler in der Lederhose oder ein Herr im Lodenmantel und mit einem Gamsbart auf dem Hut?“

Die Diskussion kam mir komisch vor, weil wir tschechisch und slowakisch gesprochen hatten und die Worte Lodenmantel und Gamsbart in Tschechisch – lodenový plášť und kamzíčí štětka – sehr fremd klangen. „Ja, solche Österreicher gibt es auch, aber nicht nur“, gab ich lachend zu.

„Promiňte, verzeihen Sie“, sagte der Herr, der hinter Martin saß auf Tschechisch. „Sprechen Sie über typische Österreicher? Ich kenne einen.“

„Nur einen?“, fragte ich.

„Na ja, mehrere, aber der eine ist etwas Besonderes.“

„Verraten Sie uns, wer er ist?“, fragte Martin.

„Sicher“, sagte der Herr. „Der typischste Österreicher ist der Schauspieler Fritz Muliar, der leider vor ein paar Jahren verstorben ist. Vor allem in der Rolle des Schwejks.“

Martin drehte sich zu dem Mann hinter ihm um und belehrte ihn: „Josef Schwejk ist ein Tscheche, mein Herr. Eine Kunstfigur, geschaffen von einem tschechischen Autor und gespielt von einem österreichischen Schauspieler.“

„Ich mag es, wenn er deutsch spricht“, schwärmte der Mann und rückte seinen Sessel näher zu uns.

„Wie soll er sonst sprechen?“, fragte Martin. „Er ist doch Österreicher.“

„Sie haben eben gesagt, dass er ein Tscheche ist.“

„Der Schwejk ist ein Tscheche, der Schauspieler, der ihn darstellt, ist ein Österreicher“, betonte Martin.

„Er böhmakelt so schön“, ereiferte sich der alte Mann. „Keiner tut es so perfekt wie er. Sogar so gut, dass ich das tschechische Deutsch in dem Film verstehe. Das ist viel verständlicher als das Österreichische. So sollen alle Österreicher sprechen. Dann hätten wir keine Verständigungsschwierigkeiten mit ihnen.“

„Fritz Muliar böhmakelt, damit die Leute glauben, er sei ein Tscheche.“

„Und ist er es nicht?“

„Nein … irgendwie doch“, auf einmal war sich Martin seiner Sache nicht so sicher.

„Ist er oder ist er nicht?“, fragte der Herr bestimmt. „Es wäre schade, wenn er es nicht wäre.“

Der Herr hinter uns stand auf und reichte Martin die Hand. „Auf Wiedersehen, junger Mann“, sagte er. „Und glauben Sie mir, es ist egal, ob Muliar ein Österreicher oder ein Tscheche ist. Wenn er deutsch spricht und dabei böhmakelt, ist er unser Mann. Ich könnte ihn glatt abbusseln.“ Er ging, wir sahen ihm nach. Nach ein paar Schritten begann er, seinen Regenschirm in der Luft zu drehen, seine Schritte erinnerten an einen Tango.

„Verstehst du jetzt?“, fragte mich Martin und deutete auf den tänzelnden Herrn.

„Irgendwie schon“, sagte ich nachdenklich.

„Wozu noch Worte?“, sagte Martin, verabschiedete sich und ging. Sein Gang war fest und sicher.

Vielleicht sind die Tschechen doch ein Schwejkvolk und die Österreicher die mit dem Gamsbart, dachte ich. Oder doch nicht? ● ○