Standpunkte

Wie ändert sich die Perspektive auf europäische Kultur?


In jeder Ausgabe stellt morgen drei Menschen, die sich auskennen, eine Frage. Diesmal:

Was hat Tschaikowsky mit Putin zu tun?

Ich bin ein Mensch, der mehr Licht als Schatten sieht, doch im Moment sehe auch ich keine gute Perspektive für Europa und die Welt. Dieser abscheuliche Krieg ist eine Tragödie, besonders für die Menschen in der Ukraine, aber auch für uns alle, denn in der ganzen Welt werden Menschen unter den Folgen wie Hunger, Gas- und Ölknappheit leiden. Dabei wurde in Russland seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in einem Zeitfenster von rund 30 Jahren der Hauch eines europäisch-demokratischen Gedankens gelebt. 

Ich deklarierte mich vom ersten Tag an gegen den Krieg – mit dem Risiko, nie wieder nach Russland eingeladen zu werden. Sanktionen sind wichtig, wenn sie dabei helfen, Krieg und Leid zu beenden. Doch das heißt nicht, dass wir auch russische Kunst und Kultur verbannen sollten. In Polen wurde ich gebeten, keine russischen Komponisten in meine Programme zu nehmen. So etwas halte ich für sehr gefährlich. Wenn wir ein ganzes Land in einen Topf werfen, bedeutet das einen großen Verlust kultureller Vielfalt.

Warum dürfen wir keinen Schostakowitsch spielen, der ein großer Kritiker Stalins war? Und was hat Tschaikowsky mit Putin zu tun? Diese genialen Künstler haben aus ihren Herzen komponiert, nicht aus einer politischen Gesinnung. Natürlich braucht es Sensibilität. So lud ich zum Herbstgold-Festival ein ukrainisches Jugendorchester ein, mit dem wir keine russischen Komponisten spielen. Prinzipiell haben wir aber russische Musik im Programm. Die russische Kultur ist so reichhaltig. Und nur in der Vielfalt kann etwas Neues entstehen.

Was soll das überhaupt sein?

Aus meiner Sicht hat sich die Perspektive auf die europäische Kultur nicht verändert. Was soll das überhaupt sein? Es gibt so viele regionale Unterschiede: Schon wenn ich mit dem Zug zwei Stunden in die Slowakei fahre, sind die kulturellen Gegebenheiten andere. Ebenso ärgere ich mich, wenn von europäischen Werten die Rede ist: Wie werden die definiert?

Ich würde Religion – in Europa das Christentum – für das maßgeblich bildende kulturelle Element halten. Sie ist in unserer Geschichte überall sicht- und spürbar, von der Kunst bis zur Rechtsprechung. Für mich hat es noch am ehesten mit Kultur zu tun, wie wir auf politische Entwicklungen und Ereignisse wie Kriege reagieren und zum Beispiel mit Flüchtlingen und Vertriebenen umgehen. Auch diese Reaktion leitet sich aus der Religion ab. Ich glaube zum Beispiel, dass wir sofort Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen haben, weil sie dem christlichen Kulturkreis zuzuordnen sind, im Gegensatz zu Menschen aus Syrien oder dem Irak.

Ich erwarte nichts von „der europäischen Kultur“, aber viel von der europäischen Staatengemeinschaft. Dazu gehört an erster Stelle, dass wir endlich von Öl und Gas wegkommen. Außerdem sollten wir abrücken von der Angst, zu kurz zu kommen. In einem Staatenverbund können nicht die einen Superdeals mit Russland machen, während die anderen Öl aus dem Meer vor ihrer Haustür beziehen. Niemand von uns wird die Herausforderungen der nächsten Dekaden lösen, indem er einen Kreis um sich zieht und „Ich“ schreit. Wir müssen uns der Zukunft Schulter an Schulter stellen und Verantwortung übernehmen, für uns und die anderen.

Europäische Union ist kein Stahlprojekt

Im Team der Europäischen Kulturhauptstadt Novi Sad, in dem alle eigene Kriegserinnerungen haben, hat sich die Perspektive seit dem 24. Februar geändert. Eines der Themen unseres Programms ist „Festung des Friedens“ („Fortress of Peace“). Als wir das Programm geplant haben, war es scheinbar vor allem unser Thema – das Thema einer Stadt, die Ende des 20. Jahrhunderts zerbombt wurde. Doch wir sagten den Organisationen sowie den Künstlerinnen und Künstlern, mit denen wir zusammenarbeiten, dass es dabei nicht nur um unsere Geschichte und Identität geht. Leider mussten jetzt alle erkennen, dass das Thema ganz Europa betrifft.

Es gibt keine Garantie für Frieden, Demokratie und Freiheit. Jede Generation trägt die Verantwortung, dafür zu sorgen. In Europa gab es viele Kriege, aber unsere Geschichte ist auch eine Geschichte des Friedens. Besonders die EU ist ein Friedensprojekt – kein Stahlprojekt, kein Wirtschaftsprojekt, kein Projekt des feinen Lebensstils. All das ist als Resultat des Friedens und des Dialogs entstanden, und wir dürfen nicht vergessen, dass Europa sich in Friedenszeiten am stärksten entwickelt hat.

Unser Kulturhauptstadt-Slogan lautet „For New Bridges“, weil Kommunikation, Offenheit und Dialog so wichtig sind, um den Frieden zu erhalten. Und beim Brückenbauen können uns Kunst, Kultur und neue Ideen helfen. Ich bin zwar nicht sicher, ob Kunst und Kultur die Welt direkt verändern können, aber sie stellen unsere Glaubenssätze und Vorurteile infrage und ändern und erweitern so die Perspektiven in unseren Köpfen.