Hermann Nitsch
Philipp Schuster Photography
Hermann Nitsch

Hermann Nitsch

Strahlkraftwerk


Wenn es die Kunst in die TV-Nachrichten schafft, dann ist entweder etwas Großartiges geschehen – oder etwas Schlimmes. Der Grund für die flächendeckende mediale Kunstpräsenz am 19. April war leider Letzteres: Tags zuvor war Hermann Nitsch, Wiener Aktionist mit Wohn- und Arbeitssitz im Weinviertler Schloss Prinzendorf, im Alter von 83 Jahren verstorben. Seither sind Nachrufe und Essays über den Künstler mit internationaler Strahlkraft erschienen, dessen Kunstbegriff, über Jahrzehnte entwickelt in seinem Orgien-Mysterien-Theater, alle Sinne umfasste. Das Sechs- Tage-Spiel in Prinzendorf Ende Juli 2022 durfte Nitsch nicht mehr miterleben. 

Für das morgen-Special versuchten wir, unserem Heftthema entsprechend, weniger bekannte Perspektiven auf Nitsch einzunehmen. So schildert eine jüngere Generation ihre Sicht auf sein Werk – und ein Essay der Kunstkritikerin Almuth Spiegler geht der Frage nach, welche Rolle Frauen in seinem Leben und seinem Schaffen hatten: neue Blickwinkel auf die Kunst eines alten Meisters. 

Statements

„Ein Meister geht“


Wie sieht eine jüngere Generation Hermann Nitsch und sein Werk? morgen befragte zwei Kunstschaffende, eine Galeristin und eine Literaturwissenschaftlerin zu ihm. Sie erzählten uns über die Ironie, dass Nitschs neue New Yorker Galerie im Meatpacking District liegt, was das Gemälde einer Künstlerin mit seinen Medikamenten zu tun hat und was das Österreichische an ihm war.

Lisa Kandlhofer

Eines meiner eindrucksvollsten Kunsterlebnisse war die Arbeit von Hermann Nitsch bei den Bayreuther Festspielen 2021. Da wurden zur Musik von Richard Wagners Walküre tausend Liter Farbe verschüttet, von ganz hell über Rot bis Schwarz. Manche Leute störten die Spritzgeräusche, aber ich habe mich in einem meditativen Zustand ganz auf die Malaktion eingelassen. Das war die synästhetische Verbindung von Musik und Farbe, von der der Künstler oft gesprochen hat.Als Galeristin erfuhr ich, dass viele internationale Künstlerinnen und Künstler einer jüngeren Generation Nitsch bewundern, weil er so radikal war. Er beeinflusste die Performancekunst, indem er mit allen Sinnen arbeitete. Zum Beispiel ist die amerikanisch-bolivianische Künstlerin Donna Huanca ein großer Nitsch-Fan. Sie initiierte eine Ausstellung seiner Werke in Texas. Wir arbeiten jetzt mit der New Yorker Pace Gallery zusammen, die Anfang nächsten Jahres eine Ausstellung zeigt. Es ist schon ironisch, dass die Galerie im Meatpacking District liegt.Als der britische Kurator Ed Fornieles 2019 die Gruppenschau „Cursed Images“ bei uns zeigte, wollte er unbedingt auch Werke von Nitsch dabeihaben. Der Künstler kam dann sogar zu einem Talk und war sichtlich erfreut, dass jüngere Leute so sehr an seiner Arbeit interessiert sind.

In Farbwelt eintauchen.

In der Folge habe ich Nitsch besser kennengelernt und ihn oft in seinem Atelier in Prinzendorf besucht. Manchmal saß ich nur zwei Stunden im Hintergrund und sah ihm beim Arbeiten zu. Es war schön, seine letzte Werkphase mitzuerleben, die hohe Konzentration und die Freude an den riesigen neuen Bildern. Nitsch war ein feinfühliger, unglaublich intelligenter Mensch. Wir hatten viele Gespräche, aber auch Momente der Stille, wo ich in seine Farbwelt eintauchen konnte. Danach gab es ein Glas Wein.

Lisa Kandlhofer ist Galeristin in Wien.

Kalina Kupczyńska

Vor rund 20 Jahren arbeitete ich an meiner Doktorarbeit über die Manifeste der Wiener Aktionisten. Mich hat fasziniert, wie Hermann Nitsch, Günter Brus, Otto Muehl und Rudolf Schwarzkogler mit Worten auszudrücken versuchten, was sie eigentlich nur mit ihren Körpern und nonverbalen Mitteln performten. Die Texte entsprangen einem Widerspruch, einem Ringen mit der Sprache. Ich hatte damals ein Stipendium in Wien und bin zu einem Pfingstfest nach Prinzendorf gefahren. Es war beeindruckend, wie sich Nitsch als Meister stilisierte, umgeben von seinen Schüler*innen, mit seinem Schloss und den Weinfeldern rundherum. Ich musste an Richard Wagners Gesamtkunstwerk denken. Später nahm ich Kontakt mit Nitschs Assistenten auf, weil ich auch mitwirken wollte. So kam ich 2004 eine Woche vor der 120. Aktion zu den Proben. Wir haben alle gemeinsam in einem großen Zelt geschlafen, dadurch entstand ein Gefühl von Gemeinschaft. Geprobt wurde natürlich „im Trockenen“. Wir mussten uns komplizierte Abläufe mit vielen Stationen merken. Das Üben dieser rein technischen Abläufe und das Warten auf die Aktion bauten eine Spannung auf. Das Ereignis war dann schon fast wie eine Offenbarung. Ich hing selbst am Kreuz. Durch die geballten, stundenlangen Eindrücke von Musik, vom Geruch von Blumen und Fleisch, vom Geschmack von Blut konnte ich nicht mehr denken. Ich kann mich noch an dieses mir ganz neue Gefühl erinnern, es war schrecklich und faszinierend zugleich. Dadurch habe ich Nitsch und den Aktionismus erst wirklich verstanden. Wir zivilisierten Menschen sind abgeschnitten von solch archaischen Erfahrungen. Das Orgien-Mysterien-Theater ist eine ganz besondere, einmalige Form des Theaters, für mich auch sehr österreichisch. 

Das ist sehr österreichisch.

Als Nitsch gestorben ist, war ich sehr niedergeschlagen. „Ein Meister geht“, war mein Gedanke. Nitsch hatte eine große Ausstrahlung und er konnte auch sehr herzlich sein. Ich werde ihn vermissen.

Kalina Kupczyńska ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistik-Institut der Universität Łódź.

Monika Kus-Picco

Seit einigen Jahren male ich nicht mehr mit konventioneller Farbe, sondern verwende Medikamente als Material. Persönliche Erfahrungen wie die Alzheimererkrankung meiner Mutter, die durch Benzodiazepine ausgelöst wurde, führten mich dazu. Ich zermörsere Tabletten und verwende den Inhalt von Kapseln sowie Lösungsmittel aus dem Medizinbedarf. Es ist Learning by Doing. Einerseits sind die Stoffe selbst farbig, andererseits reagieren sie miteinander. Hermann Nitsch ist gleich hinter meinen neuen Arbeiten gestanden. „Endlich kommst du zum konkreten Material!“, hat er mir gratuliert. Nach meinem Studium bei Adolf Frohner und Herbert Brandl besuchte ich 2006 einen Kurs bei Nitsch an der Sommerakademie Halbenrain. Als Lehrer war er sehr nett und geduldig, Nitsch hätte nie jemandes Arbeit vernichtet. Von ihm lernte ich diese Art bewegter, aktionistischer Malerei, ohne lange Überlegung, wie das Gemälde werden soll. Das kommt mir heute bei meinen medizinischen Bildern zugute. Wenn ich eine Zeitreise machen könnte, wäre ich gerne in den 1960er-Jahren als Beobachterin dabei. Wir redeten wahnsinnig viel über diese Zeit, über die Happenings und die Freiheit damals. Als Künstler verband uns diese intensive Beschäftigung mit dem Menschen, auch mit seinen Abgründen und dem Tod. Ich verlor meinen Vater durch einen Unfall, Nitsch seine Frau Beate. Er kannte dieses Loch der Verzweiflung, in das man hineinfällt, wenn jemand verunglückt.

Loch der Verzweiflung.

Ich machte ein Bild für einen Mitschüler meiner Tochter, der mit zwölf Jahren an Leukämie gestorben ist. Dafür verwendete ich Chemotherapeutika. Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder erkannte den Porträtcharakter dieses Bildes. Nitsch übergab mir vor drei Jahren seine Medikamente. Vor Kurzem ist daraus das Bild „For Hermann Nitsch“ entstanden.

Monika Kus-Picco lebt und arbeitet als Künstlerin in Niederösterreich.

Christian Eisenberger

Ich war nie bei einer von Hermann Nitschs Aktionen in Prinzendorf dabei, aber gereizt hätte es mich schon. Mit dem Schlachten habe ich kein Problem, das ist eine Erfahrung aus meiner Kindheit am Bauernhof. Damals wurde auch das ganze Schwein verarbeitet, wurden die Eingeweide herausgeholt und so weiter. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Kunst mit der Sterblichkeit auseinandersetzt. Ich bin der Radikalität, der Zerfleischung der 1960er-Jahre, nicht abgeneigt. Damals war der Zweite Weltkrieg erst 20 Jahre her, da gab es eine andere Sensibilität dafür. In Österreich arbeiteten sich die Künstler am Katholizismus ab.Das bei Nitsch so wichtige Ritual ist ja schon in der Natur angelegt, etwa im Körper durch Herzschlag und Atem oder in den jahreszeitlichen Wiederholungen. Die christliche Religion hat sehr viel von heidnischen Bräuchen übernommen oder gestohlen, zum Beispiel auch den Brauch des Fastens. Im Jahr 2007 verbrachte ich die Zeit vor Ostern in der Andrä-Kirche in Graz. Ursprünglich wurde ich eingeladen, ein Fastentuch zu gestalten. Stattdessen habe ich 40 Tage vor Ort gelebt, gefastet und geschwiegen. Mein einziger Kontakt mit Menschen bestand in einer gemeinsamen abendlichen Tasse Tee. Ich kann aber auch das Bedürfnis nach Exzess, nach dem Dionysischen, sehr gut verstehen, schon allein deswegen, weil das Künstlerdasein ein sehr einsames ist. 

Verstehe Bedürfnis nach Exzess.

Bei Nitschs Malerei sehe ich den freien Ausdruck im Vordergrund. Das Bild zu schütten, sodass es einfach da ist, bedeutet einen inneren Aufbruch ohne Behübschungsmaßnahme. Ich sehe darin das Zeigen der Wunde, während die Reliktbilder mit dem Verbandsmaterial die Reparatur verkörpern. Nitsch war schon großartig in seiner Konsequenz und in der Umsetzung seiner Projekte. Er musste so viel Kritik und Widerstände überwinden. Man kann schon sehr froh sein, dass es einen Künstler wie ihn gab.

Der Künstler Christian Eisenberger lebt und arbeitet in Wien.

Mehr als eine Akteurin: Rita Nitsch beim Sechs-Tage-Spiel, 1998
Archiv Cibulka / Frey
Mehr als eine Akteurin: Rita Nitsch beim Sechs-Tage-Spiel, 1998

Frauenrollen

Mit Stöckelschuhen Türen eintreten


Welche Rolle nahmen Frauen in Hermann Nitschs sinnlichem Werk ein? Der Einfluss von Partnerinnen und Akteurinnen ist nicht zu unterschätzen – auch wenn in der Kunst des alten Meisters Geschlechterrollen keineswegs im Fokus standen.

„Der Nitsch und seine Freunde“ heißt ein beliebtes Buch aus den Nitsch-Apokryphen. „Der Nitsch und seine Frauen“ wäre wohl ein ähnliches, nein, sicher ein schwereres Kaliber. Ob es je geschrieben wird? Ob es überhaupt je geschrieben werden sollte? Ob es in einer Gesellschaft richtig verstanden würde, die sich gerade auf vielen Ebenen in eine Prüderie und ins familiär Konservative zurückentwickelt, gegen das gerade die Wiener Aktionisten in der Nachkriegszeit revoltiert haben? In der es schon wieder seltsam wirkt, wenn man im Freibad oben ohne liegt? Und dann splitternackte Menschen an Kreuzen? Vielleicht wird das arrivierte Werk von Nitsch, von Grund auf ja ein Befreiungswerk, nach seinem Tod noch einmal relevanter und radikaler, als wir es uns vorstellen konnten. Wir werden sehen. 

Nitsch hätte übrigens wohl weniger gegen so ein Frauen-Buch gehabt, als man gemeinhin glauben könnte. Bereitwillig gab er Wissenschaftlerinnen etwa Auskunft über seine frühen Beziehungen, über seine Ehrerbietung seinen drei Ehefrauen oder langjährigen Partnerinnen gegenüber. Gelangte jemand in Not, half Nitsch immer aus, er war ein großer und großzügiger Freund der Menschen (und Tiere). Und viele seiner Frauen waren großzügig ihm gegenüber. Eine Gedächtnistafel an der Mauer des Zentrums seines Lebenswerks gemahnt daran: „Schloss Prinzendorf wurde 1971 von meiner verstorbenen Frau Beate Nitsch für das O. M. Theater erworben. Ihr unermüdlicher Einsatz und ihr Glaube an meine Arbeit verpflichten mich, diese zu verwirklichen.“ Die Münchner Psychologin starb bei einem Verkehrsunfall. Mit seiner 55. Aktion, „Requiem für meine Frau Beate“ in Bologna, gewann erstmals die Musik in seinem Werk die Bedeutung, die sie bis zuletzt haben sollte. Beates Tod setzte ihm schwer zu. Er wusste auch, alleine konnte er den immensen Aufwand, den die Organisation der bis zu sechs Tage umfassenden Aktionen erforderte, nicht schaffen. Zuletzt war es Rita Nitsch, die schließlich seit 1985 alle Hände voll zu tun hatte, eine alles andere als „passive Akteurin“, eigentlich müssten sie als Künstlerpaar im Sinne von Christo und Jeanne-Claude gelten. 

„Strebe Gleichklang an“

Trotzdem: Zuletzt nervte Nitsch sichtlich der zeitgeistige feministische Fokus, der in den vergangenen Jahren immer schärfer auf sein Leben und Werk gerichtet wurde. Verständlich, schien doch hinter diesem der existenzialistische, philosophische Grundgedanke seines seit Jahrzehnten in seinen Nuancen verfeinerten Orgien-Mysterien-Theaters in den Hintergrund zu rücken. Spielten in ihm doch gerade die Geschlechterrollen auffällig wenig Rolle. Man muss sich nur die Verwendung von Akteuren und Akteurinnen darin ansehen – ob ein Mann oder eine Frau nackt auf einer Bahre lag oder ans Kreuz gebunden wurde, ob ein Er oder eine Sie diese Christus-Rolle einnahm, war bewusst nicht ausschlaggebend. Auch wer im Gedärme und Blut wühlt. Manchmal hing es aber auch, vor allem bei der Wahl seiner Mal-Assistentinnen und -Assistenten, eher von den schieren körperlichen Anforderungen, von der Kraft ab, die man aufbringen muss beim Schütten und beim Schleppen der Farbtöpfe und des anderen Materials. Ansonsten sind im Orgien-Mysterien-Theater die Menschen in ihrer Nacktheit oder in ihrer Bekleidung mit einem weißen, rituellen Malhemd bewusst alle gleich: „Ich möchte beide Prinzipien in meiner Arbeit verherrlichen, ich strebe absoluten Gleichklang an“, sagte er dazu. Das Sein, das Nitsch in seinen Aktionen feiern lässt, hat kein Geschlecht. Was zumindest an die anfänglichen Visionen vieler Reformbewegungen seit dem 19. Jahrhundert anschließt, die nach zwei Weltkriegen in den Utopien der 68er-Generation ihre Fortsetzung fanden. Wir wissen, in welche Abgründe das führen, welche kriminellen Auswüchse das annehmen konnte, wie bei Nitschs frühem Aktionisten-Kollegen Otto Muehl.

In Hanel Koeck lernte ich eine schöne, großartige, großzügige Frau kennen.

War Hermann Nitsch also ein verkannter Feminist? Den Bogen in die Kunstgeschichte zurück zu schlagen, um diese Frage zu beantworten, ist jedenfalls interessant. Wurde in jüngster Zeit doch ausgerechnet auch Gustav Klimt als Feminist entdeckt, in der Biografie von Alfred Weidinger etwa – Klimt, der in seinen Zeichnungen den Frauen eine eigene Sexualität zugestand, die ihnen in der damaligen Zeit schlicht abgesprochen wurde, der sich selbst immer mit starken Frauen wie Emilie Flöge umgab, der mit seinen Schwestern und seiner Mutter auf engstem Raum zusammenlebte. Nicht die einzigen Parallelen zu Hermann Nitsch, den man in Bezug auf seinen Einfluss und seine internationale Strahlkraft schließlich als wichtigsten österreichischen Künstler seit 1918, dem Jahr als Klimt und Schiele starben, bezeichnen kann.Nitsch lebte, bis er 25 Jahre alt war, nicht nur bei seiner Mutter, die ihn alleine aufzog, nachdem sein Vater aus dem Krieg nicht zurückgekommen war, sondern er schlief sogar in einem Bett mit ihr. Nahtlos wechselte er dann ins nächste Bett zu seiner ersten Frau Eva Krannich, die den jungen Künstler ebenfalls mit ihrem Brotberuf versorgen musste. Das war übrigens einer von mehreren Gründen dafür, dass viele Partnerinnen der in der Nachkriegszeit schließlich heftig angefeindeten Wiener Aktionisten derart im Hintergrund blieben, auch bei den frühen Aktionen: Sie hätten damit den Verlust ihrer Arbeitsstellen und so das alleinige Familieneinkommen riskiert. 

Ihr unermüdlicher Einsatz und ihr Glaube an meine Arbeit verpflichten mich, diese zu verwirklichen.

Tradierte Doppelrolle 

Wie bei Klimt muss man eben auch bei Nitsch (und seinen Kollegen) ihren Zugang zu Frauen und den Geschlechterrollen aus ihrer Zeit heraus betrachten. Frauen hatten in dieser in Österreich vorfeministischen Zeit nichts zu reden, Anna Brus, die Frau von Aktionist Günter Brus und in ihrem Engagement bei vielen Aktionen eine Ausnahme ihrer Zeit, erinnert sich daran, dass sie erst in ihrem Exil in Berlin in den späten 1960er-Jahren überhaupt Frauen begegnete, die eine eigene Meinung öffentlich zu äußern wagten. Es sollte bis in die 2000er-Jahre dauern, bis einmal jemand nachfragte, wer denn all die (nackten) Frauen auf den Fotos und in den Filmen der Wiener Aktionisten waren – bis etwa die Performancekünstlerin Carola Dertnig, die darin eine Pionierinnenrolle einnimmt, mit Recherchen begann. Erstmals fielen Namen, wurden Biografien bekannt. Etwa die der großartigen Hanel Koeck, die nicht nur eine selten aktive und einzigartig zentrale (Frauen-)Rolle in der extremsten aller frühen Nitsch-Aktionen einnahm, sondern auch als Co-Autorin agierte: „In Hanel Koeck lernte ich eine schöne, großartige, grosszügige Frau kennen, die meine Arbeit verstand und sie unterstützte. (…) Diese Aktion wurde sehr durch ihre Persönlichkeit geprägt. Einige Teile der Aktion (das In-den-Mund-Stecken des künstlichen Penis, sie schob mir mehrmals den blutigen Penis in den Mund) waren von ihr. Ich nahm diese Stellen in die Partitur auf.“ In der Filmaufnahme davon hinterlässt Koeck einen sichtlich erschöpften Nitsch, dem ein durchaus vielleicht auch erleichterter Seufzer entschlüpft. Für ihn war es dennoch „die vielleicht bis zu diesem Zeitpunkt am besten verwirklichte Aktion“.Auch an der „Geburtsstunde“ des Wiener Aktionismus stand übrigens eine (bisher noch namenlose) Frau – in ihrer tradierten Doppelrolle als Gebärende und verführerische Muse: Die Einmauerungsaktion „Blutorgel“ von Otto Muehl, Hermann Nitsch und Adolf Frohner im Perinetkeller 1962 beendete eine eigens dafür in Abendkleid und Stöckelschuhen von Muehl bestellte junge Dame. Sie trat die vermauerte Türe zu dieser „uterinen Brutanstalt“ ein, in der die drei jungen Herren zuvor an ihrem Mythos gewerkt hatten. Es sind eben diese Mythen, antike und christliche, mit denen Nitsch immer arbeitete, die er zu diesem faszinierenden archaisch-anarchistischen Gesamtkunstwerk aller Sinne verflocht. In dem am Ende Frauen wie Männer gleichberechtigt agieren. Nach der Pfeife eines alten Meisters, natürlich. ● ○