Kolumne

Mein Russisch ist nicht weltberühmt


Der Anruf kam am Abend. „Wir haben eine junge ukrainische Mutter mit ihrer neunjährigen Tochter im Pfarrheim zugeteilt bekommen und keiner kann mit ihr sprechen. Könntest du uns helfen?“ 

Ich ging sofort hin. Auf mein Läuten öffnete mir eine zierliche, blonde Frau. Sie wirkte müde und gestresst. Das Markanteste in ihrem Gesicht waren die dunklen Augenringe. Hinter ihr stand ein Mädchen mit wunderschönen langen braunen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. Die Kleine sah ängstlich um sich. 

Ich sagte meinen Namen und bemühte mich, in meinem Schulrussisch zu erklären, dass ich jetzt ihre Dolmetscherin bin. 

„Mein Name ist Inga, meine Tochter heißt Mikaela“, stellte auch sie sich vor. Dann beugte sie sich zu mir und sagte eindringlich: „Könnten Sie uns helfen, von hier wegzukommen?“ Das Verwunderliche an der Situation war, dass wir mangels anderer Möglichkeiten die Sprache des Aggressors, der die Ukraine überfiel, als Fortbewegungsmittel verwenden mussten. 

Mein Russischunterricht liegt Jahrzehnte zurück und ist wahrscheinlich nur dank meiner slawischen Muttersprache in meinem Gehirn noch irgendwo ganz hinten eingebettet. Wir, die Kinder des realen Sozialismus, lernten die Sprache des großen Bruders mehr oder weniger freiwillig. Ab der dritten Klasse Volksschule ging es los und sie begleitete uns bis an die Universität. Während meines weiteren Lebens fand ich sehr wenige Möglichkeiten, die Sprache zu sprechen. Ich suchte sie nicht einmal, weil ich seit meiner Jugend mehr an den Texten der Beatles oder Rolling Stones als an den Reden, die vom Roten Platz auf uns herunterprasselten, interessiert war.

Aber jetzt, da mein Langzeitgedächtnis herausgefordert war, mobilisierte ich alle Kräfte, um das Unrecht, dass gerade um sich greift, erträglicher zu machen. 

Inga schilderte ihre lange Zugreise von Charkiw über München und dann zurück nach Österreich. In der Arena Nova in Wiener Neustadt wurden die Flüchtlinge aus der Ukraine registriert, ärztlich untersucht und auf Corona getestet. Danach ging es mit dem Bus nach St. Pölten. Beim Lilienhof, dem Caritas-Zentrum für Asylwerber und Asylwerberinnen, stiegen die meisten Flüchtlinge aus (es waren hauptsächlich Mütter mit Kindern), Inga und Mikaela blieben als Letzte im Bus. 

Das Zimmer in unserem Pfarrhof sah nicht besonders einladend aus. Zwei ausrangierte Sofas, ein Billardtisch, Tischfußball, jede Menge Gerümpel. Kein Wunder, dass sie da nicht bleiben wollten. „Wir möchten mit den anderen Landsleuten zusammen sein“, betonte Inga noch einmal, ohne auf den Zustand des Zimmers einzugehen. 

Ich telefonierte mit der Caritas und anderen Hilfsorganisationen, aber ein anderes Quartier für die zwei war nicht aufzutreiben. So entschieden wir alle zusammen, das Zimmer neu einzurichten. Innerhalb eines Tages war ein ordentliches Doppelbett da, sauberes Bettzeug, Handtücher, ein paar Schränke, Regale, ein Schreibtisch und ein Stuhl. Die Solidarität im Dorf war groß. Durch private Sammlungen bekamen wir genug Kleidung für die beiden, Schulsachen für Mikaela, Haushaltsgeräte und sogar etwas Geld für den Start.

Inga ist 35 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern. Ihren Sohn, der gerade 18 geworden war, und ihren Mann musste sie in der Ukraine zurücklassen. Aber noch mehr als das tat ihr weh, dass sie ihre Mutter nicht mitnehmen konnte. Die Mama, um die sich deren 19-jähriger Sohn, Ingas Halbbruder, kümmerte, hatte eine Woche vor Kriegsbeginn einen Schlaganfall erlitten und war seitdem halbseitig gelähmt. Für sie wäre die lange Reise sehr beschwerlich gewesen. Aber es war gerade sie, die ihre Tochter ermunterte, aus dem vom Krieg gerüttelten Land zu fliehen. 

Die junge Frau erzählte von ihrem Haus mitten in der Stadt, von einem kleinen Garten, in dem ein Apfel- und ein Birnbaum standen, von Nachbarn und Nachbarinnen, die seit Ingas und Mikaelas Flucht ihre Pflanzen gossen (ihr Mann und ihr Sohn waren in die Westukraine geflohen), von ihrem Beruf als Chefköchin in einem schönen Restaurant, aber auch von Bomben, die die Häuser rundherum in Schutt und Asche legten, ihr von der Oma geerbtes Häuschen aber verschonten, von Tagen und Nächten im Keller, von Versorgungsengpässen und von ihrem Sohn, dessen Haar am vierten Tag des Krieges vor Schock plötzlich ergraut ist. „Wir hatten ein schönes Leben in Charkiw“, fügte sie am Ende ihrer Erzählung an. „Wir hatten Auto, Computer, Tablet, fuhren jedes Jahr in den Urlaub, mein Sohn machte eine Lehre und stand kurz vor dem Abschluss, Mikaela ging in die Musikschule. Seit einem halben Jahr spielte sie Saxofon. Mein ganzes Leben ist in der Ukraine geblieben.“ 

Mikaela beteiligte sich selten an unseren Gesprächen. Sie saß immer nur da und hörte zu. Wie groß der Schaden war, den der Krieg und die Flucht bei ihr verursachten, war von ihrem Gesicht nicht abzulesen. Auch in der Schule schwieg sie, schämte sich, etwas zu sagen, weil sie Angst vor Fehlern hatte, und davor, dass andere Kinder sie auslachen könnten. Ich ermunterte sie immer wieder und sagte, dass das Fehlermachen zum Leben gehört und wie wichtig es ist, sich auszuprobieren.

Nachdem klar war, dass die beiden länger bei uns bleiben würden, begann der Bürokratiemarathon: Gemeinde, Polizei, AMS, Schulamt. Die meisten Ämter mussten wir mehrmals besuchen, weil sie Zusatzdokumente und Übersetzungen verlangten. An Ausdrücken wie „Aufenthaltsgenehmigung“ oder „Arbeitsbewilligung“ scheiterte mein Russisch kläglich. Da mussten wir uns einer Übersetzungs-App bedienen, die bestens funktionierte. 

„Wenn der Krieg vorbei ist, fahre ich sofort zurück, um meine Mamotschka zu sehen“, sagte Inga ziemlich bald nach unserem Kennenlernen. Leider ist es ihr nicht mehr gegönnt. Etwa vier Wochen nachdem sie mit Mikaela das Land verlassen hatte, erlitt die Mutter einen zweiten Schlaganfall. Im stark umkämpften Kriegsgebiet im Norden von Charkiw hatte sie ohne ärztliche Hilfe keine Überlebenschance. Sie starb noch in derselben Nacht. Sie wurde 67 Jahre alt.

„Was soll ich jetzt machen?“, fragte mich Inga. „Soll ich zurückfahren oder bleiben? Welche Perspektive habe ich in einem Land, dessen Sprache ich nicht beherrsche? Welche Perspektive hat meine Tochter hier?“ 

„Denke an die Nachbarn, die die ganze Zeit deine Blumen gießen“, erinnerte ich sie. „Darin liegt die Hoffnung.“

Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Die beiden erholen sich langsam von den Strapazen der Flucht und des plötzlichen Umgetopftwerdens. Mikaela fand in der Volksschule neue Freundinnen, zwei Mal in der Woche besucht sie die Musikschule. Das Saxofon bekam sie als Leihgabe. Die Videos von den Proben werden dem Papa per Whatsapp-Nachricht in die Ukraine geschickt. Inga besucht einen Deutschkurs. Das Arbeitsamt hat ihr eine Stelle vermittelt, die sie im September antreten wird. 

Inzwischen sind wir uns näher gekommen. Inga und Mikaela besuchen uns in unserem Haus, vor allem dann, wenn auch unsere Kinder und Enkelkinder zu Besuch sind. Dann lassen sich alle Eis oder frischgebackenen Kuchen schmecken und spielen gemeinsam „Memory“ oder „Das verrückte Labyrinth“. 

Alle lachen, nur das kleine, ukrainische Mädchen bleibt meistens ernst. Erst in der letzten Zeit bemerke ich, dass sie manchmal schmunzelt, wenn ich etwas auf Russisch erzähle, in der Erinnerung nach längst verschollenen Vokabeln krame und dabei mit Händen wild gestikuliere. Wie gesagt, mein Russisch ist nicht weltberühmt. Wenn es aber hilft, einem Kind das Lächeln zurückzugeben, dann, glaube ich, ist es perfekt. ● ○