Statements

„Ein Meister geht“


Wie sieht eine jüngere Generation Hermann Nitsch und sein Werk? morgen befragte zwei Kunstschaffende, eine Galeristin und eine Literaturwissenschaftlerin zu ihm. Sie erzählten uns über die Ironie, dass Nitschs neue New Yorker Galerie im Meatpacking District liegt, was das Gemälde einer Künstlerin mit seinen Medikamenten zu tun hat und was das Österreichische an ihm war.

Lisa Kandlhofer

Eines meiner eindrucksvollsten Kunsterlebnisse war die Arbeit von Hermann Nitsch bei den Bayreuther Festspielen 2021. Da wurden zur Musik von Richard Wagners Walküre tausend Liter Farbe verschüttet, von ganz hell über Rot bis Schwarz. Manche Leute störten die Spritzgeräusche, aber ich habe mich in einem meditativen Zustand ganz auf die Malaktion eingelassen. Das war die synästhetische Verbindung von Musik und Farbe, von der der Künstler oft gesprochen hat.Als Galeristin erfuhr ich, dass viele internationale Künstlerinnen und Künstler einer jüngeren Generation Nitsch bewundern, weil er so radikal war. Er beeinflusste die Performancekunst, indem er mit allen Sinnen arbeitete. Zum Beispiel ist die amerikanisch-bolivianische Künstlerin Donna Huanca ein großer Nitsch-Fan. Sie initiierte eine Ausstellung seiner Werke in Texas. Wir arbeiten jetzt mit der New Yorker Pace Gallery zusammen, die Anfang nächsten Jahres eine Ausstellung zeigt. Es ist schon ironisch, dass die Galerie im Meatpacking District liegt.Als der britische Kurator Ed Fornieles 2019 die Gruppenschau „Cursed Images“ bei uns zeigte, wollte er unbedingt auch Werke von Nitsch dabeihaben. Der Künstler kam dann sogar zu einem Talk und war sichtlich erfreut, dass jüngere Leute so sehr an seiner Arbeit interessiert sind.

In Farbwelt eintauchen.

In der Folge habe ich Nitsch besser kennengelernt und ihn oft in seinem Atelier in Prinzendorf besucht. Manchmal saß ich nur zwei Stunden im Hintergrund und sah ihm beim Arbeiten zu. Es war schön, seine letzte Werkphase mitzuerleben, die hohe Konzentration und die Freude an den riesigen neuen Bildern. Nitsch war ein feinfühliger, unglaublich intelligenter Mensch. Wir hatten viele Gespräche, aber auch Momente der Stille, wo ich in seine Farbwelt eintauchen konnte. Danach gab es ein Glas Wein.

Lisa Kandlhofer ist Galeristin in Wien.

Kalina Kupczyńska

Vor rund 20 Jahren arbeitete ich an meiner Doktorarbeit über die Manifeste der Wiener Aktionisten. Mich hat fasziniert, wie Hermann Nitsch, Günter Brus, Otto Muehl und Rudolf Schwarzkogler mit Worten auszudrücken versuchten, was sie eigentlich nur mit ihren Körpern und nonverbalen Mitteln performten. Die Texte entsprangen einem Widerspruch, einem Ringen mit der Sprache. Ich hatte damals ein Stipendium in Wien und bin zu einem Pfingstfest nach Prinzendorf gefahren. Es war beeindruckend, wie sich Nitsch als Meister stilisierte, umgeben von seinen Schüler*innen, mit seinem Schloss und den Weinfeldern rundherum. Ich musste an Richard Wagners Gesamtkunstwerk denken. Später nahm ich Kontakt mit Nitschs Assistenten auf, weil ich auch mitwirken wollte. So kam ich 2004 eine Woche vor der 120. Aktion zu den Proben. Wir haben alle gemeinsam in einem großen Zelt geschlafen, dadurch entstand ein Gefühl von Gemeinschaft. Geprobt wurde natürlich „im Trockenen“. Wir mussten uns komplizierte Abläufe mit vielen Stationen merken. Das Üben dieser rein technischen Abläufe und das Warten auf die Aktion bauten eine Spannung auf. Das Ereignis war dann schon fast wie eine Offenbarung. Ich hing selbst am Kreuz. Durch die geballten, stundenlangen Eindrücke von Musik, vom Geruch von Blumen und Fleisch, vom Geschmack von Blut konnte ich nicht mehr denken. Ich kann mich noch an dieses mir ganz neue Gefühl erinnern, es war schrecklich und faszinierend zugleich. Dadurch habe ich Nitsch und den Aktionismus erst wirklich verstanden. Wir zivilisierten Menschen sind abgeschnitten von solch archaischen Erfahrungen. Das Orgien-Mysterien-Theater ist eine ganz besondere, einmalige Form des Theaters, für mich auch sehr österreichisch. 

Das ist sehr österreichisch.

Als Nitsch gestorben ist, war ich sehr niedergeschlagen. „Ein Meister geht“, war mein Gedanke. Nitsch hatte eine große Ausstrahlung und er konnte auch sehr herzlich sein. Ich werde ihn vermissen.

Kalina Kupczyńska ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistik-Institut der Universität Łódź.

Monika Kus-Picco

Seit einigen Jahren male ich nicht mehr mit konventioneller Farbe, sondern verwende Medikamente als Material. Persönliche Erfahrungen wie die Alzheimererkrankung meiner Mutter, die durch Benzodiazepine ausgelöst wurde, führten mich dazu. Ich zermörsere Tabletten und verwende den Inhalt von Kapseln sowie Lösungsmittel aus dem Medizinbedarf. Es ist Learning by Doing. Einerseits sind die Stoffe selbst farbig, andererseits reagieren sie miteinander. Hermann Nitsch ist gleich hinter meinen neuen Arbeiten gestanden. „Endlich kommst du zum konkreten Material!“, hat er mir gratuliert. Nach meinem Studium bei Adolf Frohner und Herbert Brandl besuchte ich 2006 einen Kurs bei Nitsch an der Sommerakademie Halbenrain. Als Lehrer war er sehr nett und geduldig, Nitsch hätte nie jemandes Arbeit vernichtet. Von ihm lernte ich diese Art bewegter, aktionistischer Malerei, ohne lange Überlegung, wie das Gemälde werden soll. Das kommt mir heute bei meinen medizinischen Bildern zugute. Wenn ich eine Zeitreise machen könnte, wäre ich gerne in den 1960er-Jahren als Beobachterin dabei. Wir redeten wahnsinnig viel über diese Zeit, über die Happenings und die Freiheit damals. Als Künstler verband uns diese intensive Beschäftigung mit dem Menschen, auch mit seinen Abgründen und dem Tod. Ich verlor meinen Vater durch einen Unfall, Nitsch seine Frau Beate. Er kannte dieses Loch der Verzweiflung, in das man hineinfällt, wenn jemand verunglückt.

Loch der Verzweiflung.

Ich machte ein Bild für einen Mitschüler meiner Tochter, der mit zwölf Jahren an Leukämie gestorben ist. Dafür verwendete ich Chemotherapeutika. Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder erkannte den Porträtcharakter dieses Bildes. Nitsch übergab mir vor drei Jahren seine Medikamente. Vor Kurzem ist daraus das Bild „For Hermann Nitsch“ entstanden.

Monika Kus-Picco lebt und arbeitet als Künstlerin in Niederösterreich.

Christian Eisenberger

Ich war nie bei einer von Hermann Nitschs Aktionen in Prinzendorf dabei, aber gereizt hätte es mich schon. Mit dem Schlachten habe ich kein Problem, das ist eine Erfahrung aus meiner Kindheit am Bauernhof. Damals wurde auch das ganze Schwein verarbeitet, wurden die Eingeweide herausgeholt und so weiter. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Kunst mit der Sterblichkeit auseinandersetzt. Ich bin der Radikalität, der Zerfleischung der 1960er-Jahre, nicht abgeneigt. Damals war der Zweite Weltkrieg erst 20 Jahre her, da gab es eine andere Sensibilität dafür. In Österreich arbeiteten sich die Künstler am Katholizismus ab.Das bei Nitsch so wichtige Ritual ist ja schon in der Natur angelegt, etwa im Körper durch Herzschlag und Atem oder in den jahreszeitlichen Wiederholungen. Die christliche Religion hat sehr viel von heidnischen Bräuchen übernommen oder gestohlen, zum Beispiel auch den Brauch des Fastens. Im Jahr 2007 verbrachte ich die Zeit vor Ostern in der Andrä-Kirche in Graz. Ursprünglich wurde ich eingeladen, ein Fastentuch zu gestalten. Stattdessen habe ich 40 Tage vor Ort gelebt, gefastet und geschwiegen. Mein einziger Kontakt mit Menschen bestand in einer gemeinsamen abendlichen Tasse Tee. Ich kann aber auch das Bedürfnis nach Exzess, nach dem Dionysischen, sehr gut verstehen, schon allein deswegen, weil das Künstlerdasein ein sehr einsames ist. 

Verstehe Bedürfnis nach Exzess.

Bei Nitschs Malerei sehe ich den freien Ausdruck im Vordergrund. Das Bild zu schütten, sodass es einfach da ist, bedeutet einen inneren Aufbruch ohne Behübschungsmaßnahme. Ich sehe darin das Zeigen der Wunde, während die Reliktbilder mit dem Verbandsmaterial die Reparatur verkörpern. Nitsch war schon großartig in seiner Konsequenz und in der Umsetzung seiner Projekte. Er musste so viel Kritik und Widerstände überwinden. Man kann schon sehr froh sein, dass es einen Künstler wie ihn gab.

Der Künstler Christian Eisenberger lebt und arbeitet in Wien.