Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser!


In einer Gegenwart, die vor enormen Schwierigkeiten – Klimakatastrophe, Pandemie, Krieg – steht, zählt der Wechsel der Perspektive meiner Ansicht nach zu den wichtigsten intellektuellen Übungen.

In ihrem kürzlich erschienenen Buch „Die im Schatten, die im Licht“ erzählt die Schriftstellerin Sabine Scholl aus mehreren weiblichen Perspektiven von der NS-Diktatur – darunter der eines jüdischen Mädchens, das fliehen muss, einer Küchenhilfe, die den Widerstand unterstützt, und einer Näherin, die zur KZ-Aufseherin wird. Scholls multiperspektivische Geschichte macht das gesamte Spektrum zwischen Opfern und Täterinnen sichtbar. Dadurch gewinnt man als Leserin einen Eindruck dessen, was in dieser Zeit an Unfassbarem geschah. Dieses Verständnis vertieft sich auch durch den Blick auf jene, deren Bösartigkeit dazu beitrug. In einer Gegenwart, die vor enormen Schwierigkeiten – Klimakatastrophe, Pandemie, Krieg – steht, zählt der Wechsel der Perspektive meiner Ansicht nach zu den wichtigsten intellektuellen Übungen. Bisweilen freilich verhindern ihn jene lauten Stimmen, die sich zu oft vom äußersten Rand der Diskurse in deren Mitte drängen. Dabei könnten alle mehr lernen, wenn sie manchmal versuchten, den Blickwinkel des Gegenübers einzunehmen. Oder sich in jene hineinzuversetzen, die den Extremen, etwa Verschwörungserzählungen, anheimfallen. Wenn sich dieses Heft nun dem Thema Perspektive widmet, so impliziert das immer auch die Verschiebung derselben, wie in einem Kaleidoskop. Jakob Brossmann, der neue Intendant des Vereins Globart, spricht von einer „Gleichzeitigkeit der Perspektiven“: Er plädiert damit für einen Blick, der mehr Aspekte als die Pole Schwarz und Weiß berücksichtigt – so sollten etwa soziale Fragen mit solchen nach Identitäten zusammengedacht werden. Auf die „Tage der Transformation“ im Stift Melk, die er gerade konzipiert, bin ich schon besonders neugierig (siehe Interview Seite 22). Neue Sichtweisen versuchten wir auch auf einen Meister zu werfen, über den bereits viel gesagt und geschrieben wurde – was nicht erstaunt, gilt der im April verstorbene Hermann Nitsch doch als einer der wichtigsten Künstler Österreichs. Dem Schlossherrn von Prinzendorf im Weinviertel gilt diesmal unser Special. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen unseres neuen, wie ich hoffe, facettenreichen Hefts. ● ○

Herzlichst

Ihre Nina Schedlmayer