Globart-Intendant Jakob Brossmann
Luiza Puiu
Globart-Intendant Jakob Brossmann

Brossmann 

„Gleichzeitigkeit der Perspektiven ermöglichen“ 


Jakob Brossmann, neuer Intendant des Vereins Globart, über die Gleichzeitigkeit der Krisen, das gelungene Leben unter den Bedingungen der Klimakatastrophe und seine Pläne für das erste von ihm verantwortete Globart-Festival.

morgen: 2015 erschien Ihr Dokumentarfilm über die Insel Lampedusa, wo viele Geflüchtete ankamen. Damals sagten Sie in einem Interview: „Wir müssen lernen, mehrere Problemfelder gleichzeitig zu denken.“ Seit zwei Jahren können wir beobachten, wie Pandemie, Klimakatastrophe und Krieg ineinander greifen. Gibt es mittlerweile ein größeres Bewusstsein für diese Gleichzeitigkeit?

Jakob Brossmann

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Diese Sichtweise resultierte aus meinen Beobachtungen auf Lampedusa. Die Menschen dort leben teils unter sehr prekären Bedingungen. Doch die eigene Situation wird nicht gegen die der Flüchtlinge ausgespielt. Es gibt viele Konflikte mit den Behörden und dem Staat, der nicht die notwendige Infrastruktur zur Verfügung stellt. Aber die Leute sagen: Wir brauchen Bedingungen, die für uns würdevoll sind und wir müssen den Fliehenden helfen. Das hat mich sehr beeindruckt. Ich bin überzeugt davon, dass auch heute in der Gleichzeitigkeit eine große Herausforderung liegt, die aber bewältigt werden kann. Das betrifft auch die Diskussion rund um Identität und Repräsentation.

Wir müssen andere Formen der Sinnstiftung finden – in der Region, jenseits von Konsum und Produktion.

Was genau ist damit gemeint?

Es gibt die berechtigte Forderung, dass Menschen stärker gehört werden, bei denen das bisher noch nicht der Fall war – Frauen, LGBTQI-Personen und Migrant*innen. Kritiker*innen befürchten, dass im Zuge dieser Debatte soziale Fragen aus dem Blick geraten. Aber es ist kein Entweder-oder. Wir müssen die Argumente der Vielfalt und der sozialen Gerechtigkeit ernst nehmen und dürfen dabei den Planeten nicht aus dem Blick verlieren – also eine Gleichzeitigkeit der Perspektiven ermöglichen. So verstehe ich die Aufgabe von Globart: Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Weltanschauungen zusammenzubringen. In dieser Vielfalt können sich neue Begegnungen und Allianzen entwickeln. Das ist auch sehr interessant an der Geschichte der Zivilgesellschaft in Österreich: Das Atomkraftwerk Zwentendorf zum Beispiel wurde verhindert, weil es eine Allianz gab, die einen sehr weiten Bogen umfasste – von traditionell orientierten Naturschützerinnen bis zu Maoisten. 

Als erstes Projekt für den Verein Globart, dessen Intendant Sie seit dem Frühjahr sind, inszenierten Sie mit Manfred Rainer das Stück „Gemeinschaftskernkraftwerk“ im AKW Zwentendorf, wo es um den Widerstand gegen dessen Inbetriebnahme ging. Ein anderes Beispiel für zivilgesellschaftliches Engagement führen Sie in Ihrem Film „Gehört, Gesehen“ über Ö1 an: dass 1964 die österreichische Bevölkerung per Volksbegehren einen unabhängigen Rundfunk erkämpfte. Was können heutige Initiativen aus diesen Erfolgen lernen? 

Man muss die Erfolge in kleinen Schritten erringen, und dann muss man sie auch verteidigen. Wir verdanken der Zivilgesellschaft so viel! Wie würden wir leben, wenn es sie nicht gäbe? Das will man sich gar nicht vorstellen. Vieles, was unsere Gesellschaft lebenswert macht, entstand aus zivilgesellschaftlichen Prozessen heraus, wird tagtäglich von ihr getragen. Ich glaube, das muss im öffentlichen Diskurs viel mehr reflektiert werden. 

Kann man daraus lernen, dass es sich lohnt, trotz unterschiedlicher Perspektiven auf die Welt, gemeinsam für ein Anliegen einzutreten? 

Auf jeden Fall. Es geht aber nicht nur um die Ergebnisse, der Prozess kann auch eine Sinnerfahrung sein. Ich denke Zivilgesellschaft weiter: von der Umweltaktivistin bis hin zum Chor, der sich in einem kleinen Dorf zum Singen trifft. Weil es auch um die Frage geht, was das gelungene Leben unter den Bedingungen der Klimakatastrophe ist. Es kann nicht sein, dass Menschen zum Wochenendbummel irgendwo hinfliegen, weil es gerade billig ist. Wir müssen andere Formen der Sinnstiftung finden – in der Region, jenseits von Konsum und Produktion. 

Bei Globart sollen internationale Expertinnen und Experten mit regionalen Initiativen zusammenkommen. Ist dieser Austausch zwischen dem Globalen und dem Regionalen, wie er nun intensiviert wird, neu in der Geschichte von Globart? 

Ich baue auf der großartigen Arbeit meiner Vorgängerin Heidemarie Dobner auf. Manches bringe ich mit als jemand, der aus der Kunst kommt und dokumentarisch arbeitet. So wird etwa das Erzählen von persönlichen Geschichten einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Wir wollen unsere Themen mit Künstler*innen gemeinsam reflektieren und mit der Zivilgesellschaft diskutieren. Wenn man dann beispielsweise den Ökonomen Jeffrey Sachs, einen Vordenker der Nachhaltigkeitsziele, hört, und sieht, wie andere seine Gedanken bereits umsetzen, geht man vielleicht mit dem Impuls nach Hause, selbst mitzugestalten. 

Das heißt, das Publikum soll eine aktivere Rolle einnehmen? 

Bei Globart ist das Publikum seit jeher Mitgestalter. Meine Aufgabe ist es, ein Programm und eine Struktur dafür zu erstellen. Wir durchlaufen jetzt eine zweijährige Phase der Transformation, in der wir auch neue Formate entwickeln.

Was ist für das nächste Festival im Herbst geplant? 

Unter dem Titel „Tage der Transformation“ gibt es im Stift Melk eine Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven: Es gibt Stipendien, im Rahmen derer sich junge Menschen mit einer Klimasimulation befassen. Sie werden dann die Maßnahmen, die im Konflikt miteinander stehen, aushandeln. Zudem werden Leute aus der Zivilgesellschaft Workshops abhalten. Die Künstlerin und Schriftstellerin Luna Al-Mousli wird diese Pionier*innen porträtieren. Jeffrey Sachs wird einen Vortrag halten, ebenso der Ökonom und Psychologe Stefan Brunnhuber. Er beleuchtet die Frage, wieso die Entwicklung beim Klima konstant in die falsche Richtung geht, obwohl wir seit 50 Jahren wissen, wo das Problem liegt. Die Künstlerin Elisabeth von Samsonow wird ihre Arbeiten zu Weiblichkeitskulten mit einer Ausstellung im Stiftspark einbringen. Die Autorin und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger wird eine Festschrift schreiben über die Transformation der Zivilgesellschaft, und als musikalisches Echo laden wir den Schlagwerker Lukas König, unter anderem Tourdrummer der Band Bilderbuch, ein. Im Winter führen wir auch die Kooperation mit dem Landestheater Niederösterreich fort, mit einer Reihe, in der der Schriftsteller Ilija Trojanow mit seinen Gästen über die Kraft der Utopien sprechen wird. 

Sie arbeiten auf vielen Ebenen: Film, Bühne, Unterricht und jetzt Festivalintendanz, wo Sie neue Formate entwickeln. Wie beeinflusst das eine das andere?

Diese Dinge verbindet, dass sie Räume öffnen. Bei meinen Dokumentarfilmen schaffe ich mit der Kamera einen Rahmen. Was dann passiert, ist ein Geschenk der Welt. Bei einem Festival läuft es ähnlich. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht in diesem Zusammenhang von der Unverfügbarkeit: Man kann nichts erzwingen. Und genau das ist die Bedingung für Resonanz, für aufrichtige Begegnungen – so kann das Unvorhergesehene geschehen. ● ○